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Wissenschaftliches versus religiöses Weltbild

 

 

Gliederung:

 

1. Problemeinführung

 

2. Das religiöse Weltbild

 

3. Die Grenzen des menschlichen Verstandes

    a. Normative Aussagen

    b. Logische Aussagen                  

    c. Faktische, aber metaphysische Aussagen

    d. Empirische, singuläre Aussagen

                  d1. Das Alibi

                  d2. Das Motiv

                  d3. Die Gelegenheit

                  d4. Das Schuldeingeständnis

                  d4. Zeugenaussagen

                  d5. Indizienbeweise

                  d6. Singuläre Aussagen im Bereich der Wissenschaft

 

              e. Generelle Aussagen

                       f.  Effizienz versus Sekundärwirkungen

               

               4. Religiöses Weltbild widerlegt?

 

 

1. Problemeinführung

 

Es entspricht einer weitverbreiteten Meinung, dass sich das von der modernen Wissenschaft entwickelte Bild der Welt von den Vorstellungen gravierend unterscheide, welche von religiös geprägten Menschen, wie vor allem von den Christen gezeichnet werde. Auch wird bisweilen davon ausgegangen, dass es der Wissenschaft mit der Entwicklung der Urknalltheorie gelungen sei, die religiösen Vorstellungen von einem persönlichen Gott, der die Welt erschaffen habe, eindeutig zu widerlegen. Die Welt sei eben nicht durch einen Schöpfungsakt eines einzigen Gottes, sondern dadurch entstanden, dass es vor etwa 13  Milliarden Jahren einen Urknall gab, bei dem strukturierte Materie mit hoch entwickelten Bausteinen entstanden sei, aus der sich dann in einem sehr langwierigen Prozess die Vielfalt der Arten bis hin zum Menschen entwickelt habe.

 

Diese Überzeugungen gehen auf der einen Seite von einem Weltbild der Religionen aus, das zwar im Altertum und Mittelalter bis weit in die Neuzeit von der katholischen Kirche gelehrt wurde, das aber schon sehr lange zunächst von der theologischen Wissenschaft, später aber auch von den offiziellen Behörden der katholischen Kirche aufgegeben wurde und an deren Stelle die Überzeugung trat, dass sich der Wahrheitsanspruch der Bibel allein auf Glaubenswahrheiten beschränke, also z. B. darauf, dass es einen einzigen persönlichen Gott mit einem freien Willen gibt und dass dieser Gott für die Entstehung der Welt letztlich verantwortlich ist, ohne dass aber irgendeine Aussage darüber getroffen wurde, auf welche Weise denn Gott die Welt erschaffen habe.

 

Auf der anderen Seite verkennt eine solche Betrachtungsweise aber auch die Grenzen der Wissenschaft. Es ist nämlich falsch, von der Vorstellung auszugehen, es sei überhaupt möglich, mit Hilfe allein des Verstandes und der Sinne zu eindeutigen Aussagen über die irdischen Vorgänge in dem Sinne zu gelangen, dass die von der Wissenschaft erkannten Beziehungen eindeutig und für alle Zeiten als richtig und damit wahr angesehen werden können. Wie wir noch weiter unten sehen werden, ist der menschliche Verstand gar nicht in der Lage, die geltenden Naturgesetze so zu erkennen, dass die gewonnenen Aussagen für alle Zeiten als unumstößlich gelten.

 

Wie wir weiterhin noch sehen werden, gehört es zu dem Wesen der empirischen Wissenschaft, immer nur vorübergehende Aussagen zu treffen, die zwar bei dem jeweiligen Stand des Wissens nicht widerlegt werden konnten, wobei jedoch immer davon auszugehen ist, dass dieses Wissen nur vorläufig gilt, dass aufgrund der Weiterentwicklung der Wissenschaft Erkenntnisse möglich werden, aufgrund derer immer wiederum das bisherige Wissen korrigiert werden muss.

 

 

2. Das religiöse Weltbild

 

Befassen wir uns etwas ausführlicher mit diesen beiden Thesen (Unkenntnis über die Entwicklung des religiös fundierten Weltbildes und über die Begrenzung des menschlichen  Verstandes). Es ist natürlich richtig, dass in der Bibel, vor allem im Alten Testament ein Bild von der Welt entwickelt wurde, das unseren heutigen Erkenntnissen widerspricht.

 

Im Mittelpunkt der Welt stehen nach den in der Bibel entwickelten Vorstellungen der Mensch und die Erde und es ist die Sonne, der Mond und die Gestirne, welche sich um die Erde drehen.

 

Es ist auch richtig, dass die offizielle Kirche bis zur Neuzeit davon ausging, dass restlos alle Äußerungen in der Bibel als wahr zu gelten haben und dass immer dann, wenn Meinungen der Wissenschaftler oder anderer Gläubigen mit dem Wortlaut der Bibel in Konflikt geraten, die in der Bibel stehenden Äußerungen als wahr und die widersprechenden Aussagen der Wissenschaftler deshalb als falsch und ketzerisch zu gelten haben.

 

Das wichtigste historische Beispiel eines solchen Vorgehens ist Galilei, der im Rahmen seiner wissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Ergebnis kamen, dass bei Unterstellung des bisherigen biblischen Weltbildes (die Sonne kreist um die Erde) die Umlaufbahn der Planeten nicht mehr widerspruchsfrei erklärt werden kann und dass diese Widersprüche aufgelöst werden können, wenn man davon ausgeht, das sich die Erde und auch die übrigen Planeten des Sonnensystems um die Sonne drehen. Da diese Aussagen eindeutig bestimmten Texten der Bibel zu widersprechen schienen, wurden sie von der katholischen Inquisition als ketzerisch eingestuft und Galilei wurde aufgefordert zu widerrufen, andernfalls er als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt werde.

 

Heute geht man sowohl in der christlichen Theologie als auch bei den offiziellen Kirchenbehörden davon aus, dass sich der Wahrheitsanspruch der Bibel allein auf die Glaubenswahrheiten beschränkt, es wird anerkannt, dass die Darstellungen in der Bibel nicht die Absicht verfolgen, protokollarisch genau Tatsachen zu schildern, so wie sie sich tatsächlich ereignet haben, sondern dass Glaubenswahrheiten in Erzählungen verpackt wurden, wobei es bei diesen Erzählungen allein darum ging, dass der Erzähler eine bestimmte Glaubenswahrheit in eine Erzählung kleidete, um  die sonst sicherlich schwer verständlichen Gedanken dem Zuhörer und Leser näherzubringen.

 

Die Glaubenswahrheiten können danach gar nicht in einen ernst zu nehmenden Widerspruch zu wissenschaftlichen Aussagen geraten, da sich der Glaube allein auf metaphysische Zusammenhänge bezieht, welche eben gerade nicht vom Verstand und den Sinnen erfasst werden können. Gott hat den Menschen den Auftrag erteilt, ‚Machet euch die Erde untertan‘ und dies ist sicherlich nur dadurch möglich, dass sich der Mensch mit Hilfe des Verstandes der empirischen Zusammenhänge zuvor bewusst wird. Gott hat dem Menschen den Verstand sicherlich nicht gegeben, um an ihm irre zu werden, also Dinge zu glauben, die mit seinem Verstand als falsch erkannt werden. Ein Glaube ist nur insoweit notwendig, als der Verstand Grenzen kennt, also nur Dinge erkennen kann, welche mit den Sinnen beobachtet und mit Hilfe des Verstandes eingeordnet werden können.

 

Mit Hilfe des Verstandes und der Sinne allein lässt sich die Frage, ob es einen Gott gibt, der die Welt und damit auch den Menschen erschaffen hat, nicht beantworten. Auch kann mit Hilfe des Verstandes allein nicht geklärt werden, welche Gebote Gott den Menschen gegeben hat, dass also als wichtigste Aufgabe des Menschen die Sorge um den Mitmenschen zu gelten hat, dass jeder aufgerufen ist, dem Mitmenschen dann, wenn er in Not gerät, zu helfen und ihm nicht zu schaden, und somit den Mitmenschen als Geschöpf Gottes zu achten und zwar mit den gleichen Rechten, die auch ihm zukommen.

 

 

3. Die Grenzen des menschlichen Verstandes

 

Befassen wir uns im Weiteren mit den Aussagen, welche sich aus wissenschaftlichem Erforschen ergeben. Hierbei lassen sich recht unterschiedliche Arten von Aussagen unterscheiden und wir werden sehen, dass die Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse bei den einzelnen Aussagearten unterschiedlich sind. Beginnen wir mit einem systematischen Überblick über die Vielzahl möglicher Aussagearten. Folgende Graphik zeigt den Zusammenhang der einzelnen möglichen Aussagearten:

 

 

 

Zunächst untergliedern wir die möglichen Aussagen in normative und explikative Aussagen. Normative Sätze sagen etwas aus, was erwünscht ist, sie stellen eine Bewertung dar. Explikative Sätze beziehen sich demgegenüber auf erklärende Aussagen, sie zeigen auf, was ist und nicht, was sein soll.

 

Die explikativen Aussagen lassen sich weiterhin in logische und faktische Aussagen untergliedern. Logische Aussagen ergeben sich aus rein verstandesmäßig abgeleiteten Zusammenhängen, während sich die faktischen Aussagen auf tatsächliche (oder vermutete) Ursachen und Wirkungen beziehen.

 

Die faktischen Aussagen können sich weiterhin auf metaphysische oder auf empirische Zusammenhänge beziehen. Von empirischen Aussagen sprechen wir immer dann, wenn diese Sätze aus der Beobachtung abgeleitet wurden, während alle Hypothesen, welche sich der Beobachtung entziehen als metaphysisch eingestuft werden müssen. So kann ich z. B. möglicherweise beobachten, dass ein bestimmter Mensch an einem bestimmten Tag und Ort gestorben ist, ob aber der Tote in irgendeiner geistigen Form als Seele weiter existiert, entzieht sich menschlicher Beobachtung und alle Aussagen auf derartige Geschehnisse sind somit metaphysischer Natur.

 

Empirische Aussagen lassen sich weiterhin in singuläre und generelle Aussagen untergliedern. Aussagen, welche sich auf singuläre Ereignisse beziehen, sind dadurch ausgezeichnet, dass sie in einer ganz bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort auftreten und sich auf ein einzelnes Objekt der Betrachtung beschränken. Generelle Aussagen beziehen sich hingegen auf alle Objekte einer bestimmten Klasse.

 

a. Normative Aussagen  

 

Betrachten wir zunächst die Bedeutung normativer Aussagen. Schon Jeremy Bentham hatte erkannt, dass es nicht möglich ist, aus Sachaussagen allein normative Aussagen abzuleiten. Um von Sachaussagen zu bewertenden Aussagen zu gelangen, bedarf es stets mindestens einer normativen Prämisse.

 

Es war dann vor allem Max Weber, der daraufhin wies, dass der Wissenschaftler  sich der Werturteile enthalten sollte, da die letzten Grundwerte wissenschaftlich weder nachgewiesen noch widerlegt werden könnten. Aus diesem Postulat wurden dann unterschiedliche Folgerungen abgeleitet. Hans Albert interpretierte die Forderung Max Webers so, dass der Wissenschaftler sich auf die Analyse des Möglichen zu beschränken habe. Er habe aufzuzeigen, welche Lösungsmöglichkeiten für die politischen Probleme gegeben sind, nicht aber für eine dieser zu werben.

 

Demgegenüber hatte Gerhard Weisser, der Lehrer Hans Alberts, die Ansicht vertreten, dass der Wissenschaftler sehr wohl politische Empfehlungen aussprechen könne und solle, er sollte jedoch stets seine politischen Empfehlungen damit beginnen, dass er die Wertprämissen offenlegt, die seinen Ausführungen zugrunde liegen. Gerade der Wissenschaftler sei aufgerufen, wirtschaftspolitische Ziele zu formulieren, da er viel besser als wirtschaftswissenschaftliche Laien die Korrektheit der einzelnen politischen Pläne erkennen könne.

 

Die moderne Wohlfahrtstheorie ging hingegen in der Frage der Bewertung wirtschaftlicher Zusammenhänge einen dritten Weg: In einem ersten Schritt wird hier nach den Grundwerten gefragt, die von allen oder zumindest von der Mehrheit der Menschen akzeptiert werden. In einem zweiten Schritt werden dann aus diesen Grundprämissen zusammen mit weiteren Sachaussagen normative Schlussfolgerungen gezogen.

 

 

b. Die Rolle logischer Aussagen                  

 

Als nächstes unterscheiden wir also zwischen logischen und faktischen Aussagen. Der Verstand ist in der Lage, logische Widersprüche zu erkennen. Zwar müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, dass uns im alltäglichen Leben immer wieder logische Widersprüche unterlaufen und sie als solche gar nicht erkennen. Wenn wir jedoch mit wissenschaftlicher Akribie daran gehen, zwei Aussagen auf ihre Widerspruchsfreiheit hin zu untersuchen, gelingt das Aufdecken eines logischen Widerspruches eigentlich immer.

 

Bringen wir ein Beispiel. Wir teilen die Einkommensempfänger in zwei Klassen ein: in die Klasse der Lohnempfänger und in die restliche Klasse der Gewinnempfänger. Wer also nicht der Klasse der Lohnempfänger angehört, werde ex definitione zu der Gruppe der Gewinnempfänger gezählt. Wenn ich nun davon ausgehe, dass der Anteil der Lohnempfänger (die Lohnquote) am Gesamteinkommen beider Klassen ansteigt, so muss notwendiger Weise der Anteil der Gewinnempfänger (die Gewinnquote) um denselben Betrag, um den die Lohnquote ansteigt, zurückgehen. Also die Aussage: ‚die Lohnquote steigt‘ steht in einem logischen Widerspruch zu der Aussage, dass zur gleichen Zeit die Gewinnquote ansteigt oder auch nur konstant bleibt.

 

Diese Schlussfolgerung stellt allerdings gar keinen echten Erkenntnisgewinn über die Realität dieser Welt dar. Der nachgewiesene Widerspruch bezieht sich ja allein auf das System unserer Begriffe, die wir Menschen gebildet haben. Wir haben in unserem Beispiel die Begriffe der Lohn- und Gewinnquote so definiert, dass allein schon aus Gründen der Definition die Gewinnquote nicht steigen kann, wenn auch die Lohnquote zunimmt.

 

Natürlich bedeutet diese Erkenntnis nicht etwa, dass Definitionen im Zusammenhang mit dem Erkenntnisprozess etwas Überflüssiges darstellen. Wir sind auf unseren Begriffsapparat angewiesen, ohne den wir auch keine Erkenntnis über faktische Zusammenhänge gewinnen könnten. Nur dadurch, dass wir zunächst widerspruchsfreie Begriffe gebildet haben, sind wir überhaupt in der Lage, eindeutige Aussagen über die realen Beziehungen in dieser Welt zu treffen.

 

Vor allem wären wir ohne eindeutige und für alle Menschen gleichbedeutende Begriffe gar nicht befähigt, unsere Beobachtungen anderen Menschen mitzuteilen, jeder einzelne wäre im Wissensprozess auf sich allein gestellt und könnte nicht auf die Summe der bisher von anderen gewonnenen Erkenntnisse zurückgreifen. Wissenschaftlicher Fortschritt wäre nicht möglich. Trotzdem bleibt bestehen, dass wir durch eine widerspruchsfreie Begriffsbildung allein noch keine Erkenntnis gewonnen haben, wir haben nur eine Voraussetzung gewonnen, durch Beobachtungen überhaupt Erkenntnisse zu gewinnen.

 

 

c. Faktische, aber metaphysische Aussagen

 

Wenden wir uns nun der Problematik jener Aussagen zu, welche sich auf faktische Zusammenhänge beziehen. Hier unterscheiden wir zwischen empirischen und metaphysischen Beziehungen. Alles, was wir hier auf Erden oder auch im Weltall beobachten können, bezieht sich auf empirische Beziehungen, was sich jedoch unserer Beobachtung entzieht, hat einen metaphysischen Hintergrund. So können wir beobachten, was die Menschen tun oder wie sich natürliche Ereignisse entwickeln, wir sind aber nicht in der Lage, darüber Wissen zu gewinnen, was nach unserem Tode geschieht, ob ein Teil von uns, unsere Seele weiter besteht oder ob mit dem irdischen Tod jede individuelle Existenz beendet ist.

 

Wir können auch nicht beobachten, ob es einen Gott gibt, der die Welt und damit auch die Menschen erschaffen hat und auf welche Weise dies Gott gegebenenfalls getan hat. Es handelt sich hier um metaphysische, das heißt hinter dem physischen bzw. irdischen Bereich liegende Zusammenhänge. Gerade weil wir diese Zusammenhänge nicht beobachten können, bedarf es zur Beantwortung dieser Fragen eines Glaubens, der nicht aus wissenschaftlichen  – mit Hilfe des Verstandes gewonnenen – Erkenntnissen hervorgeht.

 

Nun hat Ludwig Wittgenstein die Meinung geäußert, dass man über das, was man nicht beweisen könne, schweigen solle. Wenn ich auch dieser Auffassung für den engeren Bereich der Wissenschaft weitgehend zustimme, gilt diese Aussage sicherlich nicht für die metaphysischen Fragen. Nur dann, wenn wir uns über die Frage, ob es einen Gott und ein Leben nach dem Tode gibt und ob wir nach dem Tode nach unserem Verhalten auf dieser Erde gerichtet werden, klar sind, können wir auch bestimmen, wie wir unser Leben einzurichten und wie wir uns gegenüber den Mitmenschen zu verhalten haben. Ohne eine Festlegung dieser Fragen nach dem Sinn des Lebens finden wir auch keine überzeugende Antwort darauf, ob der Mensch wirklich das Maß aller Dinge ist und deshalb auch alles tun darf, was ihm nützt, oder ob Sittengebote einzuhalten sind, welche unabhängig vom Interesse des einzelnen Menschen gelten.

 

Nun wird immer wiederum behauptet, dass auch ohne religiöse Bindungen eindeutig nachgewiesen werden könnte, dass der Mensch seinem eigenen Wohl nütze, wenn er die sittlichen Gebote einhalte. Um zu letztlichen Grundwerten der Menschheit zu gelangen bedürfe es keines religiösen Glaubens.

 

Diese atheistischen Rechtfertigungsversuche haben mich nie richtig überzeugt. Natürlich ist es richtig, dass es meinem Einzelinteresse zugutekommt, wenn sich alle anderen um mich herum so verhalten, dass sie die sittlichen Gebote einhalten. Es ist sogar richtig, dass die Bereitschaft der anderen, diese sittlichen Gebote mir gegenüber einzuhalten, selbst davon abhängt, ob sie feststellen können, dass ich mich selbst ihnen gegenüber entsprechend diesen Geboten verhalte.

 

Aus diesen Überlegungen kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass es dem einzelnen Individuum in jedem Falle nützt, wenn er sich selbst an sittliche Gebote hält. Dies wäre nur dann der Fall, wenn alle meine Handlungen den jeweils anderen bekannt wären. Aber gerade damit kann aus zwei Gründen nicht gerechnet werden. Erstens steigt im Allgemeinen mit der eigenen Machtfülle auch die Möglichkeit, das eigene unsittliche Verhalten vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Für viele Führungseliten gilt, dass sie bereits in ihrer Erziehung z. B. in elitären Internaten informelle Bindungen eingegangen sind, die auch in späteren Jahren oftmals stärker sind als die offiziellen Regeln.

 

Aus dieser Verbundenheit werden die Verhaltensweisen, die als unsittlich eingestuft werden müssen, oftmals vertuscht, es wird verhindert, dass sie bekannt gemacht werden auch dann, wenn von Amtswegen diese Kenntnis über unsittliches Verhalten eigentlich zur Anzeige und damit zur Strafverfolgung führen müsste. Bezeichnend ist, dass sich dann, wenn eines Tages diese Verfehlungen einer Führungsperson doch bekannt werden, der Vorwurf von Seiten der anderen Führungseliten weniger darin gipfelt, dass der andere diese Verfehlung begangen hatte, sondern dass er unfähig war, diese Verfehlungen geheim zu halten.

 

Zweitens steigt jedoch mit der Macht des einzelnen auch die Möglichkeit, die jeweils anderen, vor allem die Untergebenen zu einem Verhalten zu zwingen, das dem Interesse des Mächtigen zugutekommt, selbst dann, wenn diesen anderen klar ist, dass sich der Mächtige eben gerade nicht an diese sittlichen Gebote gegenüber den Unterlegenen hält.

 

Es kommt also dem Funktionieren einer friedfertigen Gesellschaft zugute, wenn sich alle Menschen – auch die Mächtigen – an bestimmte sittliche Gebote halten und wenn diese Haltung aus der Überzeugung einer sittlichen Verantwortung hervorgegangen ist und nicht automatisch nur daraus erwächst, dass unter gewissen Bedingungen Wohlverhalten gegenüber anderen auch dem eigenen Interesse zugutekommt. Soviel zur Bedeutung metaphysischer Aussagen.

 

 

d. Empirische, singuläre Aussagen

 

Die Aussagen über empirisch zu beobachtende Ereignisse lassen sich weiterhin danach untergliedern, ob es sich um Aussagen über singuläre oder generelle Ereignisse handelt. Von singulären Aussagen sprechen wir immer dann, wenn sich das Ereignis auf ein konkretes einziges Geschehen bezieht, wenn man also Ort, Zeit und das jeweilige Subjekt oder Objekt dieses Geschehens bestimmen kann. Wenn ich z. B. feststelle, dass ein  Herr XY an einem bestimmten Tag und zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Ort eine ganz bestimmte Handlung vollbracht hat, habe ich eine singuläre Aussage gemacht.

 

Wenn ich jedoch bestimmte Zusammenhänge für eine größere Gruppe von Objekten oder Subjekten treffe, dann sprechen wir von generellen Aussagen. Generelle Aussagen lassen sich stets in die Form: Immer dann, wenn x gegeben ist, liegt auch y vor, bzw. für alle x gilt, wenn x vorliegt, dann tritt auch y ein.  Bringen wir auch hier ein Beispiel. Betrachten wir die allgemeine Hypothese der Unternehmungstheorie, wonach Unternehmer unter bestimmten Bedingungen (wie z. B. vollständigem Wettbewerb) ihren Gewinn zu maximieren versuchen.

 

Wir beziehen diese Aussage nicht auf einen einzelnen Unternehmer, wir schränken diese Aussage auch nicht auf einen bestimmten Zeitraum oder auf ein begrenztes Gebiet ein, sondern erheben den Anspruch, dass diese Aussage im Prinzip für alle Unternehmer gilt, sofern bestimmte Bedingungen vorliegen. Streng genommen besagt die Gewinnmaximierungsthese, dass restlos alle Unternehmer unter Bedingungen des vollständigen Wettbewerbs dieses Verhalten aufweisen, unabhängig von Zeit und Raum und auch unabhängig davon, welches Gut ein Unternehmer anbietet.

 

Allerdings handelt es sich bei den meisten Hypothesen der Wirtschaftswissenschaft um sogenannte statistische Zusammenhänge und nicht um exakte Gesetzmäßigkeiten. Die Wirtschaftswissenschaft ist wie alle Wissenschaften vom Menschen aufgrund der Komplexität der zu behandelnden Gegenstände gar nicht in der Lage, Gesetzmäßigkeiten im Sinne strenger – für jedes einzelne Objekt geltender – Gesetze zu formulieren. Man will mit den in den Wirtschaftswissenschaften aufgestellten Hypothesen lediglich zum Ausdruck bringen, dass ein bestimmtes Ereignis in beachtenswertem Umfang in aller Regel ein anderes Ereignis auslöst.

 

Betrachten wir zunächst die Problematik singulärer Aussagen etwas ausführlicher. Im Prinzip können wir davon ausgehen, dass sich singuläre Aussagen eindeutig bestätigen oder gegebenenfalls auch widerlegen lassen. Singuläre Ereignisse lassen sich beobachten und können gerade deshalb mit Hilfe des menschlichen Verstandes und der menschlichen Sinne auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden. Wenn ich mit eigenen Augen gesehen habe, dass Herr Müller aus Hagen am 02.03.2011 vor einem ausgewählten Publikum eine Rede über das Züchten von Wolfshunden gehalten hat, so kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass sich diese Aussage eben aufgrund meiner eigenen Beobachtung verifizieren lies.

 

Wir sprachen allerdings davon, dass sich singuläre Aussagen ‚im Prinzip‘ verifizieren lassen. In der rauen Realität ergeben sich nämlich zahlreiche Schwierigkeiten, aufgrund derer man trotzdem nicht von einer eindeutigen Verifizierung sprechen kann. Besonders eindrucksvoll lässt sich dieses Problem anhand der Strafverfolgung darlegen.

 

Wir wollen unterstellen, dass eine bestimmte Person X wegen Mordes angeklagt werde. Aufgabe des Gerichtes sei es zu überprüfen, ob Person X tatsächlich des Mordes überführt werden kann. Hierbei gilt das Prinzip, dass das Gericht die Schuld nachweisen muss und dass der Angeklagte nicht verpflichtet ist, seine Unschuld nachzuweisen. Soweit die Schuld nicht eindeutig nachgewiesen werden kann, soweit also berechtigte Zweifel an der Schuld nicht ausgeräumt werden können, gilt die Unschuldsvermutung und der Angeklagte ist wegen der nicht möglichen eindeutigen Überführung, also mangels Beweises freizusprechen.

 

 

d1. Das Alibi

 

Wie wird nun im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung die Schuld nachgewiesen? Zunächst gehen die Strafverfolgungsbehörden (Polizei und Staatsanwaltschaft) davon aus, dass alle Personen, welche ein Motiv und darüber hinaus auch eine Gelegenheit zu dieser Tat hatten, dem Kreis der Verdächtigen angehören und deshalb in einem ersten Schritt als potenzielle Täter zu gelten haben und die deshalb auch verhört werden dürfen. Die Polizei versucht dann immer mehr Personen aus dem Kreis der Verdächtigten auszuschließen, so werden vor allem diejenigen aus dem Kreis der Verdächtigten ausgeschlossen, welche ein glaubhaftes Alibi vorweisen können, die also nachweisen können, dass sie sich zu der Tatzeit an einem anderen Ort aufgehalten haben und deshalb die Tat nicht begangen haben können. Schließlich wird unter den nicht ausgeschlossenen, also übrig gebliebenen verdächtigten Personen diejenige Person angeklagt, welche aufgrund der vermuteten Motive und der Gelegenheit am ehesten die Tat begangen haben kann.

 

An dieser Stelle beginnt nun das gerichtliche Verfahren, der Staatsanwalt versucht nachzuweisen, dass der Angeklagte die Tat begangen hat und der Angeklagte bzw. sein Strafverteidiger bringt alle Argumente vor, welche den Verdacht entkräften und trägt unter Umständen auch Tatsachen vor, welche dann bei der Verurteilung als strafmildernde Umstände berücksichtigt werden können. Der Richter entscheidet dann schließlich darüber, ob die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise als glaubwürdig und für eine Verurteilung als ausreichend anzusehen sind. Im Allgemeinen kann ein Urteil von Staatsanwaltschaft oder Strafverteidiger angezweifelt werden und eine Revision beantragt werden. Erst dann, wenn keine weitere Revision mehr möglich ist, erlangt das Urteil Rechtskraft und ist auszuführen.

 

Schon bei dem Versuch,  aus dem zunächst großen Kreis der Verdächtigten schließlich diejenigen auszuscheiden, welche die Tat nicht begangen haben, entstehen an dem vorgenommenen Verfahren erhebliche Zweifel. Nehmen wir vor allem das Beispiel des Alibis. Nicht jeder, der ein Alibi nachweisen kann, hat deshalb die Tat nicht begangen, genauso wie derjenige, welcher kein Alibi nachweisen kann, schon deshalb notwendiger Weise die Tat begangen haben muss.

 

Alibi lassen sich kaufen oder von befreundeten Personen aus Gefälligkeit erbringen. Man kann auch einen Mord in Auftrag geben und ist gerade deshalb vermutlich nicht zur Tatzeit an dem Tatort. Er ist zwar dann nicht eigentlicher Täter, aber dennoch als Auftraggeber genauso schuldig wie derjenige, der im Auftrag dieses Verbrechen ausführt.

 

Nun könnte man einwenden, dass wir eben nicht in einer idealen Welt leben und dies hieße für die Gerichtsbarkeit, dass auch hier keine absolut 100%ige Gerechtigkeit ausgeübt werden könne, dass aber sehr wohl in fast allen Fällen, weit über 90% durch dieses Auswahlverfahren der Unschuldige abgewählt und der Schuldige angeklagt werde. Aber gerade diesen Schluss kann man nicht ziehen. In sehr vielen Fällen verfügt nämlich gerade der Täter über ein Alibi und gerade der Unschuldige über kein Alibi. Wer eine Tat plant – und dies ist die Voraussetzung dafür, dass das Tötungsdelikt als Mord (als geplanter Totschlag) einzustufen ist – hat das Motiv und oftmals auch die Gelegenheit, sich ein Alibi zu besorgen.

 

Wer umgekehrt unschuldig ist, hat normaler Weise weder ein Motiv noch oftmals die Gelegenheit, ein Alibi nachträglich vorzuweisen. Schließlich führt man ja nicht über restlos alle Tätigkeiten Buch, auch liegt zumeist zwischen dem Zeitpunkt der Tat und dem Zeitpunkt, in dem das Alibi nachgewiesen werden sollte, eine so große Zeitspanne, dass weder der Verdächtige noch derjenige, der unter Umständen den Verdächtigten zur Tatzeit an einem anderen Ort gesehen hat, sich noch eindeutig an diesen Zeitpunkt so erinnern kann, dass er notfalls das Alibi vor Gericht beeiden kann.

 

 

d2. Das Motiv

 

Die weitere Vermutung, dass derjenige eher als der Tat verdächtig angesehen wird, dem das stärkere Motiv nachgewiesen werden kann, ist in gleicher Weise fragwürdig. Es mag zwar für den Durchschnitt aller Taten gelten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Verdächtiger schuldig ist, mit der Stärke des Motivs korreliert. Es steht jedoch im Rahmen der Strafverfolgung nicht die wissenschaftliche Frage zur Diskussion, wieweit sich im Allgemeinen Motiv und Straftat entsprechen, sondern ob in dem bei der Strafverfolgung konkreten Einzelfall die Stärke des Motivs als eindeutiger Beleg dafür angesehen werden kann, dass der Verdächtigte die Tat begangen hat.

 

Und hier wird man feststellen müssen, dass das nachgewiesene Motiv überhaupt nichts darüber aussagt, ob der Verdächtigte die Tat begangen hat. Auf der einen Seite sind genügend Fälle bekannt, bei denen der Täter ohne jegliches äußerlich erkennbares Motiv gemordet hat, schließlich ist das Motiv, das einen Täter zur Tat bewegt hat, dem einzelnen nicht auf die Stirn geschrieben, es sind immer nur Vermutungen, welche von den Ermittlern angestellt werden, wobei hierbei danach gefragt wird, aus welchen Motiven in der Vergangenheit im Allgemeinen diese Tat begangen wurde. Auf der anderen Seite hängt die Frage, ob ein nachgewiesenes Motiv zur Tat führt, ganz entscheidend von den charakterlichen Eigenschaften des Verdächtigten ab. Es gibt Personen, welche auch schon wegen des geringsten Anlasses gemordet haben, z. B. weil das Opfer den Täter öffentlich beleidigt hatte, während andererseits moralisch hochstehende Persönlichkeiten auch dann, wenn sie zuvor gequält wurden oder ihnen großer Schaden zugefügt wurde, die Möglichkeit einer Art Selbstjustiz weit von sich weisen.

 

 

d3. Die Gelegenheit

 

Ähnliche Überlegungen gelten auch für die Frage nach der Gelegenheit. Ob ein Verdächtiger Gelegenheit zu einer Tat hatte, hängt ja nicht nur davon ab, ob er zur Tatzeit am Tatort anwesend war, sondern von einer Reihe weiterer Umstände. Wenn sich jemand vollkommen unbeobachtet glaubt, ist die Gelegenheit zur Tat sehr viel größer, als dann, wenn er die Tat auf öffentlichen Plätzen begehen müsste und wenn er deshalb befürchten müsste, dass die Tat von einer Vielzahl von Anwesenden beobachtet werden kann. Oder wenn sich jemand allein in einem Raum aufhält, in dem sagen wir Geldscheine im Werte von vielen Tausenden Euros offen herumliegen, ist natürlich die Gelegenheit zum Diebstahl sehr viel größer als dann, wenn er zuvor Geldschränke aufknacken muss.

 

Bei Gericht wird dann der Versuch unternommen, die Schuld des Angeklagten, der schließlich aus dem Kreis der Verdächtigten ausgewählt wurde, nachzuweisen. Als Nachweis einer Schuld werden drei Umstände angesehen. Entweder erklärt sich der Angeklagte für schuldig, die ihm vorgeworfene Tat begangen zu haben. Oder aber es finden sich glaubhafte Zeugen, welche die Tat selbst beobachtet haben. Oder schließlich es können Indizien nachgewiesen werden, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit beweisen, dass der Angeklagte die Tat begangen hat.

 

Keiner dieser drei Nachweisverfahren führt in jedem Falle zu einer eindeutigen Schuldzuweisung. Die Tatsache, dass der Angeklagte sich als schuldig bekennt, reicht  nicht aus, um den Angeklagten eindeutig als der Tat überführt anzusehen. Es sind in der langen Geschichte der Strafverfolgung genügend Beispiele aufgetaucht, in denen nachgewiesene Unschuldige sich zu Unrecht der Tat beschuldigt haben.

 

 

d4. Das Schuldeingeständnis

 

Als erstes wäre hier der Fall zu erwähnen, bei dem sich der Angeklagte an die Geschehnisse während der Tatzeit nicht erinnern kann. Unterstellen wir, dass der Angeklagte mit anderen zusammen eine Nacht lang durchgezecht habe, also unter Rausch stand. Er sei dann morgens in einem Hotelzimmer im Bett aufgewacht, neben sich eine Frauenleiche und ein Revolver, aus dem – wie die Ermittler beweisen konnten – der tödliche Schuss abgegeben wurde und unterstellen wir zusätzlich, dass an der fraglichen Waffe Fingerabdrücke des Angeklagten gefunden wurden. Wir gehen nun davon aus, dass bei dieser scheinbar eindeutigen Beweislage der Angeklagte sich für den Täter hält. Da er während der Tat unter Alkoholeinfluss stand, kann er sich an die Tatzeit überhaupt nicht erinnern, er glaubt, die Tat begangen zu haben und ist deshalb geständig.

 

In Wirklichkeit habe jedoch ein Dritter den Mord vollbracht und anschließend die Frauenleiche neben dem Angeklagten abgelegt, und zusätzlich die Waffe, mit welcher die Tat begangen wurde, dem Angeklagten in die Hände gelegt, damit dessen Fingerspuren an die Waffe gelangen, nochmals einen Schuss abgegeben, damit sich an den Händen des vermeintlichen Täters Schmauchspuren feststellen lassen und dann schließlich habe der wirkliche Mörder die Mordwaffe neben den Angeklagten geschoben.

 

Nehmen wir als zweites Beispiel einen Fall, bei welcher der Angeklagte zwar ursächlich dazu beigetragen hat, dass der Totschlag erfolgte, ohne dass er aber diesen Mord begangen oder verschuldet hat. Er habe z. B. den Ermordeten eindringlich gebeten, bei ihm vorbeizukommen und der Angesprochene sei auf dem Wege zum Angeklagten von einem Dritten erschossen worden, ohne dass der Angeklagte diesen Dritten zu dieser Straftat angestiftet hatte. Der Angeklagte macht sich nun  klar, dass der Ermordete noch leben würde, wenn er ihn nicht zu sich gebeten hätte und fühlt sich deshalb für seinen Tod schuldig und hat vielleicht sogar das Bedürfnis, dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Weder im Sinne unserer Rechtsordnung noch im moralischen Sinne kommt in diesem Falle jedoch dem Angeklagten eine Schuld zu. Von Schuld könnten wir nur dann sprechen, wenn er davon gewusst hätte, dass der Ermordete bei dem Gang zu ihm ermordet würde und wenn er deshalb trotzdem den Ahnungslosen veranlasst hätte, zu ihm zu kommen und damit die Tötung bewusst in Kauf genommen hätte.

 

Ein dritter möglicher Fall dafür, dass jemand ohne Schuld eine Tat eingesteht, ist ähnlich gelagert. Unterstellen wir, dass das Opfer dem Angeklagten das Leben zur Hölle machte, vielleicht für zahlreiche Straftaten an ihm verantwortlich war und dass der Angeklagte deshalb wiederholt das Bedürfnis hatte, diesen Straftäter zu ermorden. Er habe sich jedoch niemals zur Tat hinreißen lassen. Er fühlt sich jedoch trotzdem für die Tat schuldig; und wenn er die feste Absicht gehabt hatte, den Ermordeten zu töten, eben bisher nur nicht die Möglichkeit gehabt hatte, diesen Mord auch auszuführen, mag er ja in der Tat im moralischen Sinne eine gewisse Schuld auf sich geladen haben. Im christlichen Schuldbekenntnis bekennen sich die Gläubigen dafür schuldig, dass sie gesündigt haben, in Gedanken, Worten und Taten. Im juristischen Sinne ist jedoch der Angeklagte nach wie vor unschuldig, solange er die Tat nicht ausgeführt bzw. versucht hat.

 

Eine vierte Möglichkeit, dass sich ein Unschuldiger zu einer Tat bekennt, besteht darin, dass er die Tat eines Dritten auf sich nimmt, um diesen zu schützen. So könnte eine Mutter oder ein Vater die vermutete Tat ihres Kindes auf sich nehmen. Sie oder er fühlen sich für ihr Kind verantwortlich, sie befürchten, dass dann, wenn das eigene Kind für seine Taten bestraft werde, es für immer, auch nach Verbüßung der Strafe unfähig sei, ein menschenwürdiges Leben zu führen und für immer auf die schiefe Bahn gelangen würde. Vielleicht wird diese Übernahme der Schuld eines anderen zusätzlich dadurch begleitet, dass sich die Eltern ebenfalls für schuldig halten, da sie offensichtlich in der Erziehung ihres Kindes kläglich versagt haben. Es interessiert dann weniger die Frage, ob die Eltern in der Erziehung eindeutige Fehler begangen hatten und das Kind unter Umständen für Verfehlungen in der Vergangenheit nicht ausreichend zur Verantwortung gezogen haben, es zählt in diesem Falle allein die Tatsache, dass – vielleicht auch nur vermeintlich – das eigene Kind eine so schreckliche Tat begangen hatte.

 

Wir wollen also festhalten, dass zwar in der Mehrzahl der Fälle das Schuldeingeständnis dann erfolgt, wenn der Angeklagte tatsächlich die Tat begangen hat, wir haben aber genügend Beispiele aufgezeigt, dass eben nicht in jedem Falle das Schuldeingeständnis belegt, dass der Angeklagte auch tatsächlich die Tat begangen hatte.

 

 

d4. Zeugenaussagen

 

Wie steht es nun mit dem zweitmöglichen Beweisverfahren, wonach ein Zeuge oder mehrere Zeugen angeben, sie hätten selbst beobachtet, dass der Angeklagte die Tat begangen hat. Auch hier gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, dass das Bezeugen einer Tat durch Dritte die Tat des Angeklagten nicht eindeutig belegt.

 

Als erstes besteht die Möglichkeit, dass sich der Zeuge täuscht, er meint den Angeklagten bei der Tat gesehen zu haben, er verwechselt ihn jedoch mit jemand anderem, der dem Angeklagten ähnlich sieht. Vielleicht hat er ihn zur Zeit der Tat gar nicht genau beobachtet und hat dann in den öffentlichen Medien ein Bild des Angeklagten gesehen und meint nun deshalb den Angeklagten wiederzuerkennen. Oftmals sind es auch bestimmte Kleidungsstücke oder andere Gegenstände, aufgrund derer der Zeuge den Angeklagten vermeint wiederzuerkennen, obwohl diese Kleidungsstücke aber nicht einmalig sind.

 

Überhaupt müssen wir uns darüber klar werden, dass das menschliche Gehirn nicht so arbeitet, dass im Gehirn ein photographisches Abbild des Vorfalls abgespeichert wird. Zu groß ist die Anzahl einzelner Sinnesreize, als dass sämtliche Reize abgespeichert werden können. Das menschliche Gehirn selektiert also und keinesfalls nach den Kriterien, welche für die Beweisführung vor Gericht von Bedeutung sind. Es sind vielmehr teilweise biographische Daten, welche für jedes beobachtende Individuum unterschiedlich sind, teilweise hängt der Selektionsprozess aber auch von der augenblicklichen Stimmung und natürlich auch von dem ab, was der Betreffende gerade sehen möchte.

 

Wenn zwischen der Tatzeit und der Zeugenaussage vor Gericht eine größere Zeitspanne liegt, muss zweitens auch immer damit gerechnet werden, dass das Erinnerungsvermögen fast aller Menschen mit der Zeit verblasst. Das menschliche Gehirn hat nun einmal die Eigenschaft, wichtige Details der in der Vergangenheit beobachtenden Vorfälle schnell zu vergessen, diese Lücken werden dann in aller Regel nachträglich vervollständigt, wobei es hier nicht darauf ankommt, was sich tatsächlich ereignet hat, sondern wie es sich hätte ergeben können.

 

Als drittes muss damit gerechnet werden, dass der Zeuge ganz allgemein die Bevölkerungsgruppe, welcher der Angeklagte angehört, als verbrecherisch ansieht und von der Meinung ausgeht, dass diese Gruppe von Menschen ohnehin bestraft gehört. Er gibt hier zwar nur vor, den Zeugen gesehen zu haben, meint aber das Recht zu haben, eine Straftat des Angeklagten vortäuschen zu dürfen, da es überhaupt nicht darauf ankomme, welche Straftat der Angeklagte hier begangen hatte, strafwürdig sei er in jedem Falle.

 

Viertens schließlich können Zeugen auch von dem wahren Schuldigen gekauft sein, der auf diese Weise vielleicht sicherstellen will, dass das Augenmerk der Ermittler von ihm abgelenkt wird oder der aus anderen Gründen ein Rachefeldzug gegen den Angeklagten führt.

 

 

d5. Indizienbeweise

 

Wenden wir uns nun dem dritten möglichen Beweisverfahren vor Gericht zu: dem Indizienbeweis. Hier wird die Beweisführung an ganz bestimmten, weitgehend exakt feststellbaren Einzelheiten festgemacht, so etwa wenn sich Schmauchspuren vom Abschießen einer Revolverkugel an den Händen des Angeklagten nachweisen ließen oder wenn der genetische Fingerabdruck des Angeklagten an der Leiche des ermordeten Opfers festgestellt wurde. Zwar ist hier die Wahrscheinlichkeit, dass der Beweis sicher ist, sehr hoch, etwa 99,9%, trotzdem nicht 100%ig, sodass im Einzelfall doch ein falscher Schluss gezogen werden kann.

 

Schmauchspuren z. B. könnte auch der Mörder nachträglich am Angeklagten angebracht haben, indem er den Revolver in die Hand des Angeklagten drückte und hierbei ein Schuss abfeuerte. Oder aber der genetische Fingerabdruck stammt von einem eineiigen Zwilling oder aber die Stäbchen, welche bei der Abnahme des genetischen Materials verwendet wurden, waren bereits durch genetisches Material bei der Anfertigung dieser Stäbchen verunreinigt worden, was in den letzten Jahren tatsächlich vorgekommen war. Die polizeilichen Ermittler gingen von einem Serienmörder aus, in Wirklichkeit waren jedoch die genetischen Fingerabdrucke nur deshalb in einer Vielzahl von Fällen identisch, da das Material, mit dessen Hilfe die Speichelprobe abgenommen wurde, von ein- und derselben Arbeitnehmerin bei der Anfertigung dieser Stäbchen aus Versehen verunreinigt worden war.

 

Die Gerichte stehen nun vor folgendem Dilemma: Wenn man den Grundsatz ‚Im Zweifel für den Angeklagten‘ strikt auslegen würde und wenn wirklich nur dann eine Verurteilung stattfinden würde, wenn die Tat 100%ig nachgewiesen wurde, dann käme es nur in den seltensten Fällen zu einer Verurteilung. Der größte Teil der Straftaten bliebe ungesühnt und ein Großteil der Verbrecher würde nicht zur Rechenschaft gezogen. Ein solches Vorgehen ließe sich jedoch kaum verwirklichen. Wir müssen uns darüber klar werden, dass sowohl die Angehörigen der Opfer, denen ja durch die Tat großes Leid zugefügt wurde, aber auch weite Teile der Öffentlichkeit repräsentiert durch die öffentlichen Medien eine Bestrafung der Übeltäter fordern und auch massiven Druck auf die Rechtsprechung ausüben, damit Verbrecher ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.

 

Die heute geltenden Prinzipien eines freiheitlichen Rechtsstaates und die hiermit verbundene Abschaffung der Lynchjustiz sowie der Blutrache wurden im Verlaufe der Geschichte hart erkämpft. Die Bereitschaft der Öffentlichkeit, die Aburteilung der Verdächtigten aus der Hand zu geben und sie einem ordentlichen Gericht zu übertragen, konnte nur dadurch gewonnen werden, dass auch sichergestellt wurde, dass der überaus größte Teil der bekanntgewordenen Verbrechen mit Erfolg geahndet wird.

 

Auch müssen wir uns darüber klar werden, dass die tatsächlich wirkenden Anreizsysteme darauf hinzielen, dass es in aller Regel zu einer Aburteilung der Angeklagten kommt. In Staaten wie z. B. in den USA werden die Staatsanwälte unmittelbar vom Volke gewählt, sie erlangen nur dann ihr Amt, wenn sie hart zugreifen und die meisten Prozesse zur Aburteilung führen. Aber auch in den anderen Staaten, in denen wie in der BRD Staatsanwälte und polizeiliche Ermittler als Beamte tätig sind, hängt das berufliche Fortkommen ganz entscheidend davon ab, wie viele der untersuchten Fälle schließlich zu einer Verurteilung führen.

 

Der berufliche Erfolg misst sich hierbei weniger – was eigentlich notwendig, aber zumeist gar nicht möglich ist – daran, wie oft der tatsächliche Verbrecher überführt wurde und auch wie weit Unschuldige unbehelligt bleiben, sondern daran, wie viel Verfahren mit einer Verurteilung abgeschlossen werden konnten und vor allem Sexualverbrechen lückenlos aufgeklärt werden. In den Augen der Öffentlichkeit werden leider Personen, welche angeklagt wurden, bei denen jedoch mangels Beweises ein Freispruch notwendig wurde, trotzdem als Täter angesehen, welche nun ungestraft weiter ihr Verbrechen begehen könnten. Dieses Verhalten wird vor allem dadurch ausgelöst, dass in den öffentlichen Medien oftmals eine Vorverurteilung stattfindet, also so getan wird, als ob schon der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft Klage erhebt, bedeuten würde, dass der  Angeklagte bereits überführt wurde.

 

 

d6. Singuläre Aussagen im Bereich der Wissenschaft

 

Unsere Überlegungen bezogen sich bisher zunächst allein auf die Überprüfung singulärer Aussagen vor Gericht. Diese Schlussfolgerungen gelten jedoch im Prinzip ganz allgemein für jede Beobachtung, wenn auch bei einer wissenschaftlichen Untersuchung zur Überprüfung bestimmter Aussagen einige dieser Momente entfallen mögen, andere hingegen besonders stark ausgeprägt sind.

 

So kann bei einem naturwissenschaftlichen Experiment die Aufmerksamkeit bewusst auf die Elemente gelenkt werden, die es zu beobachten gilt, es können mögliche Fehlerquellen ausgeschaltet werden und vor allem werden die zu untersuchenden Vorgänge genau in dem Zeitpunkt beobachtet, in dem sie im Labor geschehen. Allerdings finden in aller Regel naturwissenschaftliche Experimente nicht so sehr zur Überprüfung singulärer, sondern genereller Aussagen statt.

 

Einzelne Ereignisse sind hingegen – soweit es sich um wissenschaftliche Bemühungen handelt – in erster Linie Gegenstand historischer Untersuchungen, diese Vorkommnisse liegen dann oftmals viele Jahre und Jahrhunderte zurück, es fehlen bei Untersuchungen von Ereignissen sehr früher Zeit oftmals jegliche schriftliche Aufzeichnungen, sodass die Beobachtung hier sogar in besonderem Maße eingeschränkt ist. Zeugen der Geschichte können hier also nicht selbst befragt werden, die Historiker sind darauf angewiesen, die oftmals wenigen schriftlichen Berichte zu übernehmen und müssen – ohne dass sie bei den Zeugen klärende Rückfragen stellen können – anhand mannigfaltiger Plausibilitätsüberlegungen die Korrektheit der Berichte prüfen.

 

Diese Überlegungen gelten natürlich insbesondere für prähistorische Epochen, bei denen nahezu jede Form schriftlicher Darstellung fehlt. Für diese Epochen ist die Wissenschaft auf archäologische Ergebnisse angewiesen. Und gerade in diesem Bereich der Archäologie konnten in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte erzielt werden. Während sich die Archäologie in den ersten Jahren ihrer Entwicklung noch darauf beschränken musste, aufgrund bestimmter Ausgrabungen die Existenz bestimmter Personen und Kulturen nachzuweisen, ist es der Archäologie in den letzten Jahrzehnten gelungen, geradezu erstaunliche Ergebnisse im Hinblick auf die Bestimmung des Alters, aber auch der Lebensweisen und der Umstände, die einen Zusammenbruch alter Kulturen  herbeigeführt haben, zu liefern.

 

Wir wollen abschließend festhalten: Singuläre Aussagen lassen sich im Grundsatz durchaus verifizieren und auch falsifizieren. In der Praxis allerdings ergeben sich zahlreiche Schwierigkeiten, aufgrund derer weder eine eindeutige Falsifizierung noch eine Verifizierung möglich ist. Wir haben also davon auszugehen, dass bereits ein beachtlicher Teil der singulären Aussagen in Wirklichkeit nicht eindeutig auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden kann.

 

 

Fortsetzung folgt!