Seit nun vielen Jahren gestaltet sich die Regierungsbildung nach Wahlen zum Parlament äußerst schwierig.
Vor allem dann, wenn die bisherige Regierung abgewählt wurde und eine neue Regierung gebildet werden muss, vergehen Monate, bis schließlich eine neue Regierung gebildet ist und ihre Arbeit aufnehmen kann.
Eine solche Verzögerung hat verheerende Auswirkungen. Zwar ist in der Zwischenzeit nach wie vor die bisherige Regierung im Amt und handelt kommissarisch. Es ist aber klar, dass diese Regierung nicht in der Lage ist, neue Probleme anzugehen, es liegt auch nicht in ihrem Interesse, für den politischen Gegner, der in Zukunft die Geschicke des Landes leiten wird, zuzuarbeiten.
Durch diese Verzögerungen leidet das Allgemeinwohl auf viererlei Weise. Erstens wird die Lösung der anstehenden politischen Probleme hinausgezögert. Zweitens wird die Stellung der Bundesrepublik bei den internationalen Verhandlungen, vor allem innerhalb Europas, geschwächt.
In Anbetracht der bedeutenden Stellung der Bundesrepublik innerhalb der Europäischen Gemeinschaft wird drittens ein längeres Fehlen der deutschen Vertretung dazu führen, dass wichtige europäische Entscheidung hinausgezögert werden.
Viertens schließlich trägt die Ungewissheit über die zukünftige Haltung der Regierung zu einer Verunsicherung bei den Unternehmungen bei, wodurch notwendige Investitionen hinausgezögert werden und damit dass wirtschaftliche Wachstum gedrosselt wird.
Bisweilen gelingt es den Parteien nicht, sich auf ein Regierungsbündnis zu einigen, sodass die stärkste Partei gezwungen ist, eine Minderheitsregierung zu bilden. Keiner Partei ist es hier gelungen, die absolute Mehrheit zu erringen. Aufgrund der Wahlergebnisse bedarf es mehrerer Parteien, um eine Koalitionsregierung zu bilden. Diese können jedoch oftmals wegen zu unterschiedlicher Parteiprogramme keine funktionsfähige Regierung bilden.
In diesem Falle bildet die stärkste Partei eine Minderheitsregierung, sie übernimmt die Regierungsgeschäfte, obwohl sie über keine Mehrheit im Parlament verfügt. Sie ist also darauf angewiesen, bei jeder einzelnen Abstimmung die Duldung einer oder mehrerer Oppositionsparteien zu erreichen.
Minderheitsregierungen sind bei den Parteien unbeliebt, da die Regierungspartei bei jeder Abstimmung nicht nur Abstriche von ihrem eigenen Parteiprogramm zu machen hat, sondern auch stets befürchten muss, die Abstimmung zu verlieren und damit zurückzutreten.
Bisweilen wird in einer solchen Situation sogar etwas Positives gesehen. Die Regierungsparteien seien hier gezwungen, bei jeder Entscheidung im Parlament offen über die Gesetzesvorlage zu diskutieren und diese Diskussion trage dazu bei, dass auch wirklich alle Argumente pro und contra berücksichtigt werden.
Dieses Urteil verkennt jedoch den Charakter einer repräsentativen Demokratie. Es sind nicht in erster Linie die einzelnen Abgeordneten, sondern die Parteien, welche von der Bevölkerung gewählt werden.
Es ist erwünscht, dass diejenigen Parteien, welche von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt werden, auch das Programm, für das sie bei der Wahl geworben haben und zur Durchsetzung sie vom Wähler beauftragt wurden, soweit wie möglich realisieren. Die Notwendigkeit, auf Argumente der Oppositionsparteien einzugehen und die eigenen Überzeugungen hintanzustellen, führt stets weg vom Willen der Mehrheit.
In aller Regel verfügt die größte Partei nicht über die Mehrheit der Stimmen und dies bedeutet, dass sie eine Koalition mit anderen Parteien eingehen muss. In der Nachkriegszeit führte dies zumeist zu einer Regierung mit einer großen und einer weiteren kleinen Partei. Die Partei, welche den Regierungschef stellte, bestimmte weitgehend die Richtung der Regierung.
Heutzutage ist es in der Regel nicht mehr möglich, eine Mehrheit mit bereits zwei Parteien zu erreichen. Erst drei oder sogar vier Parteien bilden eine Mehrheit. Es ist klar, dass eine solche Regierungsbildung äußerst erschwert ist und dazu führt, dass keine Partei – auch nicht die führende Partei – ihr gesamtes Wahlprogramm verwirklichen kann.
Wichtige Ziele des Wahlprogrammes, aufgrund dessen die Parteien überhaupt gewählt wurden, können nicht umgesetzt werden, weil der Koalitionspartner diese Ziele nicht mitträgt. Und dies hinwiederum führt dazu, dass in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode die Koalition brüchig wird, da jede Partei wegen der bald kommenden Wahlen bemüht ist, ihre wichtigsten Wahlprogramme umzusetzen.
Der wichtigste Mangel im Hinblick auf das Wahlrechtssystem besteht jedoch darin, dass der Wählerwille immer häufiger unbestimmt wird. Nach einer Wahl sind rein rechnerisch Koalitionen möglich, deren Programme höchst widersprüchlich sind.
So waren nach der letzten Bundestagswahl sowohl eine Große Koalition zwischen CDU/CSU und der SPD sowie eine rot-rot-grüne Koalition (SPD, Grüne, Linke) möglich. Die in diesen Koalitionen zu realisierenden Programme widersprechen sich jedoch enorm. Wie kann man aber in einer solchen Situation noch von einem klaren Wählerwillen sprechen?
Würde ein Bürger beide Möglichkeiten als politisch erwünscht ansehen, würde man an seiner Entschlussfähigkeit zweifeln. Das Grundziel einer jeden repräsentativen Demokratie ist in Gefahr. Wie kann davon gesprochen werden, dass der Wille der Wähler umgesetzt wird, wenn das Wahlergebnis sich widersprechende Lösungen zulässt?
Dass die Wahlergebnisse so unbefriedigend sind und zu widersprüchlichen Ergebnissen führen, hängt auf der einen Seite mit dem Wahlsystem, auf der anderen Seite aber auch mit den Umbrüchen der letzten Jahrzehnte, welche im Wählerverhalten zu beobachten sind zusammen.
Grundsätzlich lassen sich zwei unterschiedliche Wahlrechtssysteme feststellen: das Mehrheitswahlrecht sowie das Verhältniswahlrecht. Beim Mehrheitswahlrecht erhält die Partei den Parlamentssitz für jeden einzelnen Wahlkreis, welche die Mehrheit der Stimmen erlangt hat. Beim Verhältniswahlrecht erhält jede Partei entsprechend ihrem Wahlergebnis im gesamten Land Stimmen. Wenn also die Partei x 40% der Wählerstimmen insgesamt erreicht hat, erhält sie auch im Parlament gerade 40% der Parlamentssitze.
Das Mehrheitswahlrecht kann dazu führen, dass der Anteil der Parlamentssitze von dem Prozentsatz mehr oder weniger abweicht, den die Partei an Wählerstimmen erreicht hat.
Nehmen wir ein fiktives Beispiel, das zeigt, wie unterschiedlich der Anteil einer Partei an den Parlamentssitzen vom Anteil der Wählerstimmen abweichen kann.
Unterstellen wir 100 Wahlkreise mit jeweils 100 Stimmen und damit auch 100 Parlamentssitze. Partei A habe in 60 Wahlkreisen die Mehrheit erlangt, sodass sie auch im Parlament über die Mehrheit der Sitze (60%) verfügt. Sie habe in diesen Wahlkreisen jeweils eine Mehrheit von 60 Stimmen erreicht, also insgesamt 60 * 60 = 3600 Stimmen.
In den restlichen Wahlkreisen, in denen sie verloren habe, hätten im Durchschnitt nur 40 Stimmen für diese Partei gestimmt, dies sind 40 * 40 = 1600 Stimmen. Insgesamt erreicht damit diese Partei 3600 + 1600 = 5200 von insgesamt 10 000 Stimmen. Dies entspricht einem Prozentsatz von 52 %. Der Anteil der Parlamentssitze der siegenden Partei ist also in der Regel höher als der Anteil der Wähler.
Diese Abweichung zwischen Anteil an den Wählerstimmen und an den errungenen Parlamentssitzen wird in der Öffentlichkeit oftmals als gravierender Nachteil empfunden. Das Parlament müsse den Willen der Bevölkerung widerspiegeln.
In Wirklichkeit ist jedoch diese Abweichung für das Ergebnis der Parlamentsarbeit zumeist unerheblich. Die Regierungsparteien verfügen in der Regel über die Mehrheit der Parlamentssitze und die Regierung kann ihre Programme durchsetzen, unabhängig davon, ob die Mehrheit der Sitze den Wähleranteil übersteigt, wichtig allein ist, dass sie über eine Mehrheit verfügt.
Da oftmals einige Parlamentarier bei Abstimmungen nicht anwesend sein können, ist sogar eine Regierung mit einer höheren Mehrheit stabiler als eine Regierung, welche bei jeder Abstimmung bangen muss, dass wegen Abwesenheit einiger Mitglieder keine Mehrheit zustande kommt, obwohl die Regierungspartei über die Mehrheit der Parlamentssitze verfügt.
Nur in den wenigen Fällen, in denen eine Abstimmung eine qualifizierte Mehrheit verlangt wird und die Regierungsparteien auch über eine qualifizierende Mehrheit verfügen, kann diese Abweichung zu einer Verfälschung des Wählerwillens führen.
Der große Vorteil eines Mehrheitswahlrechtes besteht darin, dass die – zum Zustandekommen einer Mehrheit notwendigen – Kompromisse zwischen den verschiedenen Zielen der Wählergruppen vor der Wahl zustande kommen.
Bei einem Mehrheitswahlrecht kann ein Kandidat nur dann in einem Wahlkreis siegen, wenn er die Mehrheit der Wählerstimmen erringen konnte. Nun müssen wir davon ausgehen, dass keine noch so große Bevölkerungsschicht über die Mehrheit aller Stimmen verfügt und dass deshalb jede Partei gezwungen ist, will sie die Mehrheit erlangen, auf die Bedürfnisse nicht nur ihrer Stammwähler, sondern eben weiterer Bevölkerungsgruppen einzugehen.
Da die Ziele der einzelnen Bevölkerungsgruppen jedoch unterschiedlich sind und sich deshalb teilweise widersprechen, müssen Kompromisse gefunden werden. Es ist dann von vornherein klar, dass die bei den Wahlen von der siegenden Partei formulierten Wahlprogramme nicht nur im Parlament, sondern auch bei der Bevölkerung mehrheitsfähig sind.
Gerade aus diesen Gründen ist das Mehrheitswahlrecht stabiler und entspricht auch besser den unterschiedlichen Zielen der Bevölkerung. Nur große Parteien haben überhaupt die Chance, die Mehrheit zu erringen.
Bei einem Verhältniswahlrecht können sich die Parteien ausrechnen, dass sie auch dann ins Parlament einziehen, wenn sie die Mehrheit verfehlen. Keiner großen Partei gelingt es, die absolute Mehrheit zu erringen und ist darauf angewiesen, eine oder mehrere Parteien an der Regierung zu beteiligen.
Wenn aber eine Partei nicht darauf angewiesen ist, die Mehrheit zu erlangen, ist es für sie vorteilhaft, in ihrem Wahlprogramm gar keine Kompromisse einzugehen, ihre Vorstellungen viel radikaler zu formulieren und damit auch insbesondere Volksgruppen mit radikalen Vorstellungen zu überzeugen.
Da aber die größere Partei oftmals eine kleinere Partei benötigt, um als Koalitionsregierung die Mehrheit zu erlangen, können nun auch radikale Parteien an der Regierungsarbeit beteiligt werden und einen viel größeren Einfluss gewinnen als ihnen eigentlich aufgrund ihres geringeren Stimmenanteils zusteht. Die großen Parteien werden dann erpressbar.
Der entscheidende Unterschied zu einem Mehrheitswahlrecht besteht bei einem Verhältniswahlrecht dann darin, dass die für die Mehrheitsbildung notwendigen Kompromisse erst nach der Wahl gezogen werden. Dies bedeutet aber, dass die Bevölkerung gar nicht mehr an der letztendlichen Entscheidung beteiligt wird.
Welche Reformen des Wahlrechts könnten diese Probleme lösen oder zumindest mindern?
Gerade weil nur bei einem Mehrheitswahlrecht die Kompromisse zwischen den einzelnen Problemlösungen vor der Wahl festgelegt werden und damit auch die Wähler allein bei diesem Wahlrecht eine Mitsprache darüber haben, welche Richtung die aktuelle Politik nimmt, sollte auf jeden Fall grundsätzlich ein Mehrheitswahlrecht gelten.
In der BRD haben wir bisher ein Mischsystem. Jeder Wähler hat zwei Stimmen, mit der ersten Stimme werden die Kandidaten gewählt, welche in einem Stimmkreis die Mehrheit erlangt haben. Diese Regelung entspricht dem Mehrheitswahlrecht. Mit der zweiten Stimme erhalten die einzelnen Parteien eine Anzahl von Parlamentssitzen, die dem Anteil dieser Partei in der Bevölkerung entspricht. Zusätzlich kommen nur Parteien, welche mindestens 5% der Stimmen erzielen konnten, ins Parlament.
Wie die Erfahrung der letzten Jahrhunderte gezeigt hat, begünstigt das Mehrheitssystem die Bildung einer
Einparteienregierung, auch sind die Mehrheiten in aller Regel sehr viel stabiler als bei
einem Verhältniswahlrecht.
Allerdings zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre
auch, dass ein Mehrheitswahlrecht nicht garantieren kann, dass es einer Partei
gelingt, die Mehrheit zu erlangen. Vor allem in Zeiten, in denen ganz neue politische
Problemfelder entstehen und im Mittelpunkt der Diskussion stehen, besteht auch beim Mehrheitswahlrecht
die Gefahr, dass es keiner Partei gelingt, die Mehrheit zu erlangen.
Ein Mehrheitswahlrecht kann sogar in extremen
Fällen dazu führen, dass es einer Partei gelingt, bei den Wahlen die Mehrheit der Parlamentssitze zu
erringen, obwohl weniger als 50% der Wähler diese Partei
gewählt haben.
Nehmen wir nochmals das fiktive Beispiel von oben, bei dem wir 100 Wahlkreise mit jeweils 100 Stimmen und damit
auch 100 Parlamentssitze unterstellt haben. Wenn Partei A in 60 Wahlkreisen die Mehrheit erlangt,
sodass sie auch im Parlament über die Mehrheit der Sitze (60%) verfügt
und in diesen Wahlkreisen
jeweils eine Mehrheit von 51 Stimmen erreicht hat, dann erlangt diese Partei insgesamt 60 * 51 = 3060 Stimmen.
In den restlichen Wahlkreisen, in denen sie verloren habe, hätten im Durchschnitt nur 10 Stimmen für diese Partei gestimmt, dies sind 10 * 40 = 400 Stimmen. Insgesamt erreicht damit diese Partei 3060 + 400 = 3460 von insgesamt 1000 Stimmen. Dies entspricht einem Prozentsatz von 35 %. Der Anteil der Parlamentssitze der siegenden Partei ist also in diesem Falle geringer als 50%. Obwohl also diese Partei in diesem Fall die Mehrheit nicht erringen konnte, verfügt sie über eine Mehrheit der Parlamentssitze und kann deshalb die Regierung bilden.
Ein solches Ergebnis widerspricht eindeutig der Forderung, dass der Mehrheitswille der Wähler zum Zuge kommen sollte. In diesen Fällen, welche in der Realität nur sehr selten vorkommen dürften, sollte die Partei (die Parteien), welche gemessen an der Wahlbeteiligung die Mehrheit erlangt hat (haben), die Regierung bilden. Die Mehrheit der Parlamentssitze müsste in diesem Falle durch Überhangmandate sichergestellt werden.
Für den weiteren Fall, dass es keiner Partei auch nicht zusammen mit einer weiteren Partei gelingt, über die Mehrheit der Parlamentssitze zu verfügen und damit eine stabile Regierung zu bilden, sollten die zwei Koalitionsmöglichkeiten, welche die meisten Stimmen auf sich vereinen, erneut zur Wahl der Bevölkerung gestellt werden. Auf diese Weise wäre sichergestellt, dass die Bevölkerung darüber mitbestimmen kann, welche Koalition die Regierung bilden kann. Gleichzeitig könnten auch Minderheitsregierungen, welche immer höchst instabil sind, vermieden werden.
Der wichtigste Vorteil einer solchen Reform bestünde aber darin, dass es keiner Partei weiterhin gelingen kann, durch Formulierung radikaler Ideen, welche nur von einer Minderheit der Bevölkerung geteilt werden, ins Parlament einzuziehen und als Zünglen an der Waage innerhalb einer Koalitionsregierung einen größeren Einfluss gewinnen kann als es dem Stimmenanteil dieser Parte entspricht.