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Gliederung der Vorlesung:
01. Einführung
02. Leitbilder
03. Tarifverhandlungen
04. Gesamtwirtschaftliche Verteilungstheorie
05. Institutionelle Unterschiede
06. Finanzpolitik
07. Geschichte der Sozialversicherung
08. Rentenversicherung
09. Krankenversicherung
10. Arbeitslosenversicherung
11. Vermögenspolitik
12. Bildungspolitik
Kapitel 5: Institutionelle Unterschiede Forts.
Gliederung:
01. Die Rolle des Staates in der Lohnpolitik
02. Einheitsgewerkschaften
03. Industrieprinzip versus Berufsprinzip
04. Dezentrale versus zentrale Verhandlung
05. Negative Koalitionsfreiheit
06. Freiwillige Schlichtung
07. Streikrecht
08. Aussperrungsrecht und –verbot
09. Zur Reform des Tarifvertragsrechts
05. Negative Koalitionsfreiheit
Beginnen wir wiederum mit einer Definition: Unter negativer Koalitionsfreiheit
versteht man das Recht des einzelnen Arbeitnehmers, der Gewerkschaft auch
fernzubleiben. Die positive Koalitionsfreiheit besagt hingegen das Recht der
Arbeitnehmer, sich in Gewerkschaften zu organisieren.
Dieses Prinzip einer negativen Koalitionsfreiheit hat vor allem eine
ordnungspolitische Bedeutung: Da sowohl der inter- wie auch der
intragewerkschaftliche Wettbewerb äußerst gering ist, geht von dem Prinzip der
negativen Koalitionsfreiheit die einzige größere kontrollierende Wirkung auf
die Funktionäre aus.
Sind die Arbeitnehmer mit der Arbeit der Gewerkschaft nicht zufrieden,
können sie diese Unzufriedenheit mit einem Austritt aus der Gewerkschaft
kundtun. Da in der Bundesrepublik Deutschland die Tariflöhne de facto oftmals
auch den nicht organisierten Gewerkschaften ausgezahlt werden, erleiden die
Arbeitnehmer, die von diesem Austrittsrecht Gebrauch machen, unter normalen
Bedingungen auch keine größeren materiellen Verluste. Sie können also auch von
diesem Recht effektiv Gebrauch machen. De facto ist der Organisationsgrad der
im DGB organisierten Arbeitnehmer denkbar gering. Er lag 2010 bei etwa 20%, während
er 1997 für alle Gewerkschaften noch bei
33% lag.
Nur während eines Streiks stellen sich die nicht organisierten Arbeitnehmer
u. U. schlechter, da sie sich eventuell gezwungen sehen, sich am Streik zu
beteiligen oder da sie von den Arbeitgebern ausgesperrt werden, im Gegensatz zu
den organisierten Arbeitnehmern jedoch kein Streikgeld beziehen.
Welche Wirkung geht nun von der negativen Koalitionsfreiheit auf die Allokation
aus? Die negative Koalitionsfreiheit (zusammen mit der Gewährung der Tariflöhne
auch für die nicht organisierten Arbeitnehmer) führt dazu, dass die Bereitschaft
zur Mitarbeit in der Gewerkschaft geringer ausfällt als es eigentlich im
Interesse der Arbeitnehmer liegt.
Durch das Prinzip der negativen Koalitionsfreiheit wird nämlich die Gewerkschaftsaktivität
zu einem Kollektivgut: An den Kosten der Gewerkschaftsaktivität (rote Linie)
beteiligen sich nur die organisierten Arbeitnehmer, während die Erträge aus der
gewerkschaftlichen Arbeit oftmals auch nicht organisierten Arbeitnehmern zugutekommen.
Da somit die gruppenbezogenen Grenzerträge (GEopt)
(grüne Linie) höher sind als die Grenzerträge, die den organisierten
Arbeitnehmern zufallen (GE0) (baue Linie), liegt das optimale Aktivitätsniveau
der organisierten Arbeitnehmer (Aopt) bei
einer geringeren Aktivität als das gruppenbezogene Optimum (A0).

06.
Freiwillige Schlichtung
In der BRD wird Schlichtung dezentral für die einzelnen Tarifverbände und auf
freiwilliger Grundlage geregelt; de facto gibt es jedoch fast in allen Branchen
Schlichtungsordnungen.
Befassen wir uns nun mit der These vom Schlichtungsdilemma. Danach gilt:
Wenn eine Schlichtung möglich ist, warum ist sie dann notwendig? Warum können
sich die Tarifpartner nicht von selbst auf diese Lösung einigen, da sie ja ohnehin
dem Schlichtungsspruch schließlich zustimmen? Wenn die Schlichtung aber
notwendig ist, warum ist sie dann möglich? Wenn sich die Tarifpartner nicht von
selbst einigen können, warum stimmen sie dann dem Vorschlag eines Dritten zu?
Die Antwort liegt in der Theorie der möglichen Schlichtungsfunktionen:
1. Eine erste mögliche Funktion einer Schlichtung liegt im Abbau irrationalen
Verhaltens. So wird bisweilen folgende These vertreten: Die Tarifpartner verrennen
sich im Verlaufe der Verhandlungen und eines Arbeitskampfes in emotional
aufgeladene, irrationale Positionen, aus denen sie nur mit Hilfe eines neutralen
Schlichters wiederum herausfinden; im Allgemeinen verhalten sich jedoch die
Tarifpartner nicht in diesem Sinne irrational. Auf Seiten der Mitglieder sind
zwar sehr oft Emotionen im Spiel, diese werden aber von den Gewerkschaftsfunktionären
ganz bewusst eingesetzt. Die Gewerkschaftsspitzen haben fast immer die Lage im Griff
und entscheiden weitgehend emotionslos.
2. Eine zweite mögliche Funktion einer Schlichtung liegt in der Überwindung
des Vertrauensmangels, der durch Bluff-Strategien hervorgerufen wurde. Während
der Verhandlungen hat nämlich jede Gruppe Interesse daran, vorzutäuschen, dass
ihre kritische Verhandlungsgrenze bereits erreicht sei. Das weiß natürlich auch
die Gegenseite. Wenn deshalb die kritische Grenze tatsächlich erreicht ist,
bleibt es trotzdem fraglich, ob die Gegenseite diese Feststellung (über die
kritische Verhandlungsgrenze des jeweiligen Verhandlungsgegners) ernst nimmt.
Hier könnte die Vermittlung eines Schlichters, der das Vertrauen beider Seiten
hat, aus der Sackgasse herausführen.
3. Weiterhin kann eine Schlichtung unter Umständen den Prestigeverlust gegenüber
den Mitgliedern bei Konzessionen gegenüber dem Tarifpartner verringern: Dieser
Prestigeverlust ist nämlich bei einer Konzession geringer, wenn der Konzessionsvorschlag
von einem Dritten (Schlichter) gemacht wird. Die Verhandlungsführer haben dann
eine bessere Position gegenüber ihren Mitgliedern; nicht sie haben ja in diesem
Falle den Kompromiss vorgeschlagen, sondern sie wurden hierzu mehr oder weniger
von außen (vom Schlichter) gedrängt.
4. Auch der Staat kann im Rahmen der Schlichtung eine Vermittlung herbeiführen:
Hier kann z. B. der Staat u. U. einen Teil der materiellen Kosten eines
Lohnabschlusses in Form von Subventionen übernehmen und damit die Bereitschaft
der Arbeitgeber und damit auch die Wahrscheinlichkeit eines Abschlusses
vergrößern. So waren z. B. in den ersten Jahrzehnten nach Beendigung des zweiten
Weltkrieges die Arbeitgeber im Bergbau oftmals zu Konzessionen bereit, da sie
damit rechnen konnten, dass der Staat dieses Entgegenkommen mit einer
Subventionierung des Bergbaus belohnte.
5. Unter Umständen kann ein Schlichter auch immaterielle Verluste bei den Tarifparteien
verhindern: Eine Tarifpartei kann nämlich sehr wohl einen Prestigeverlust in
der Öffentlichkeit erleiden, wenn sie dem Vorschlag des Schlichters nicht folgt
und einen Arbeitskampf auslöst. Je unpopulärer Streiks werden, umso eher
besteht zusätzlich die Gefahr, dass der Staat sich gezwungen sieht, das
Streikrecht einzuengen. Das Grundgesetz garantiert zwar das Recht der Arbeitnehmer,
zu streiken, es verhindert jedoch nicht, dass der Staat zur Abwehr von Gefahren
die Ausübung des Streikrechts an bestimmte Bedingungen knüpft.
6. Schließlich ist auch eine kreative Lösung des Schlichters möglich:
Beispielsweise schlägt ein Schlichter eine neue Entlohnungsform vor. So hatte
etwa Erwin Häußler in seiner Eigenschaft als Schlichter vorgeschlagen, einen
Teil der Lohnerhöhung in Form eines Investivlohnes zu gewähren, welcher
dann wiederum in Form von Krediten
seitens der Banken den Unternehmungen zur Rationalisierung zur Verfügung
gestellt werden sollte.
07.
Streikrecht
Das Streikrecht besteht in der BRD – sieht man einmal davon ab, dass das
Grundgesetz das Streikrecht der Arbeitnehmer garantiert – fast ausschließlich
aus Entscheidungen der höchsten Arbeitsgerichte. Im Gegensatz zu anderen Industrienationen
hat der Staat in der BRD bisher weitgehend darauf verzichtet,
Ausführungsbestimmungen zum Streikrecht zu erlassen.
Die obersten Arbeitsgerichte ließen sich hierbei insbesondere von folgenden
Prinzipien leiten:
vom Prinzip der Kampfparität zwischen den Tarifparteien:
So bemühten sich die obersten Arbeitsgerichte vor allem um eine Ausgewogenheit
in der Machtausübung beider Tarifpartner. Ohne die Anerkennung der Gewerkschaften
müsste befürchtet werden, dass die Arbeitgeber auf den Arbeitsmärkten über ein
Nachfragemonopol verfügten, in der Anfangsphase der Industrialisierung vor
allem deshalb, weil die Arbeitnehmer eine geringe regionale Mobilität besaßen
und deshalb oftmals auf ein einzelnes Unternehmen in der Gemeinde angewiesen
waren.
Gleichzeitig waren die Arbeitnehmer lange Zeit auch deshalb vom Unternehmer
weitgehend abhängig, da für viele Arbeitnehmer die Arbeitskraft deren einzige
Einkommensquelle darstellte. Heute wären die Arbeitnehmer ohne gewerkschaftlichen
und gesetzlichen Schutz den Unternehmungen eher deshalb unterlegen, weil vor allem
die Großunternehmungen im Hinblick auf die Ausgestaltung der Arbeitsverträge
über ein Informationsmonopol verfügen.
Würde die Tarifordnung nur den Arbeitnehmern ein Kampfrecht zuerkennen,
bestünde die Gefahr, dass das Pendel der Machtverteilung umschlüge und dass
deshalb die Gewerkschaften ein einseitiges Angebotsmonopol erlangen könnten.
Deshalb wird den Arbeitgebern in der BRD ein Aussperrungsrecht zuerkannt,
wobei der Umfang der Aussperrungsmöglichkeit selbst wiederum zur Wahrung der
Kampfparität in Abhängigkeit des Streikumfanges der Gewerkschaften begrenzt
wird.
Im Allgemeinen sind die Arbeitgeber allerdings nur zu sogenannten Abwehraussperrungen
berechtigt, die dazu dienen, zuvor eingeleitete Streiks zu begrenzen.
Angriffsaussperrungen gelten als nur dann zulässig, wenn die Arbeitgeber das
Ziel verfolgen würden, die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.
Da in der Bundesrepublik bisher keine Angriffsaussperrungen durchgeführt
wurden, haben sich die Gerichte auch noch nicht eigens mit diesem Kampfmittel
befasst und sind deshalb nur am Rande auf dieses Kampfmittel eingegangen;
hieraus erklärt sich, dass die Berechtigung von Angriffsaussperrungen kontrovers
diskutiert wird.
vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Kampfmittel:
Die Gerichte achten darauf, dass die Maßnahmen im Hinblick auf die Ziele
der Tarifpartner verhältnismäßig sind. So darf keine Tarifpartei Maßnahmen
ergreifen, die geeignet sind, den jeweiligen Tarifpartner vernichtend zu
schlagen. Auch muss darauf geachtet werden, dass allgemeine Gemeinwohlziele von
den Kampfmaßnahmen nicht zu stark beeinträchtigt werden. So sind Streiks im Gesundheitswesen
nur in begrenztem Maße erlaubt. Auch sind politische Streiks, die sich gegen
die demokratischen Entscheidungen der Parlamente und Regierungen wenden,
untersagt. Schließlich dürfen die Kampfmaßnahmen nicht in erster Linie
unbeteiligte Dritte (die Verbraucher) treffen.
vom Prinzip der Neutralität des Staates:
Tarifautonomie bedeutet, dass der Lohnbildungsprozess den Tarifpartnern vorbehalten
bleibt, dass der Staat keine einseitige Partei zugunsten der einen Seite
ergreifen darf.
Trotzdem übt der Staat einen vielfältigen Einfluss auf das Tarifgeschehen
aus, wobei diese Einflussnahme vor allem damit gerechtfertigt werden kann, dass
über die Festlegung der Löhne und der sonstigen Arbeitsbedingungen gesamtwirtschaftliche
Ziele, deren Verfolgung dem Staate obliegen, beeinträchtigt werden können. Dies
gilt insbesondere im Hinblick auf das Ziel der Geldwertstabilität und
Vollbeschäftigung.
Der Staat übt de facto einmal deshalb Einfluss auf das Tarifgeschehen aus,
da er einer der größten Arbeitgeber darstellt und als solcher mit den
Gewerkschafen Tarifverhandlungen führt, welche vor allem dann, wenn die
jährlichen Tarifrunden im öffentlichen Dienst beginnen, auf diese Weise eine
Vorbildfunktion erfüllen. Zum andern kann der Staat (der Arbeitsminister) aber
auch auf Antrag eines der Tarifpartner die Tariflöhne als allgemeinverbindlich
erklären.
Im Rahmen von der von Karl Schiller initiierten Konzertierten Aktion auf
dem Arbeitsmarkt versuchte der Staat eine gewisse Zeit durch Vereinbarung von
Lohnleitlinien zusammen mit den Tarifpartnern mäßigend auf die Lohnabschlüsse
einzuwirken.
Schließlich hat der Staat neuerdings festgelegt, dass im Grundsatz alle
Arbeitnehmer einen einheitlichen, gesetzlich festgelegten Mindestlohn zu
beanspruchen haben.
vom Prinzip der Friedenspflicht:
Die Gerichte sind weiterhin bemüht, Arbeitskonflikte soweit wie möglich zu
vermeiden. Diesem Ziel dient insbesondere der Grundsatz, dass während der Dauer
der Tarifverhandlungen keine Arbeitskampfmaßnahmen eingeleitet werden dürfen.
Strittig ist allerdings die Frage, inwieweit Warnstreiks, die nur für eine
kurze Zeit eine Arbeitsunterbrechung vorsehen und die von vornherein zeitlich
auf wenige Stunden oder Tage begrenzt sind, die Friedenspflicht verletzen.
Weiterhin gelten sogenannte wilde Streiks, die ohne formale Urabstimmung
und ohne Leitung der Gewerkschaftsspitze von einzelnen Mitgliedern ausgerufen
werden, als illegitim. Zwar sind die formalen Voraussetzungen für einen offiziellen
Streik in den Gewerkschaftssatzungen niedergelegt und betreffen deshalb zunächst
lediglich das Innenverhältnis zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und
Gewerkschaftsführung.
Die Tarifautonomie sieht jedoch für die Aktivitäten der Tarifpartner einen
weit größeren gesetzlichen Schutz vor als dies für Aktivitäten sonstiger privater
Organisationen gilt, und dieser besondere Schutz entfällt, wenn z. B. im Rahmen
wilder Streiks die Interessensphäre der Arbeitgeber verletzt wird.
08.
Aussperrungsrecht und –verbot
Beginnen wir wiederum mit einer Definition: Unter Aussperrung versteht man
das kollektive, vorübergehende Außerkraftsetzen der Arbeitsverträge von Seiten
der Arbeitgeber. In der BRD gilt nach Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtshofes
auch ein Recht auf Aussperrung, allerdings beschränkt auf defensive Aussperrung
als Antwort auf Streiks. Einige Länderverfassungen wie z. B. die Landesverfassung
Hessens verbieten allerdings ausdrücklich die Aussperrung. Strittig ist hier,
ob Bundesrecht Landesrecht bricht.
Fragen wir uns nun nach der Problematik einer Aussperrung. Ausgangspunkt
bildet folgende Feststellung: Eine Aussperrung verursacht einen Ausfall der
Produktion und ist somit ähnlich wie der Streik für die Unternehmungen mit
Kosten verbunden. Damit entsteht die Frage, aus welchen Gründen die Unternehmungen
überhaupt ein Interesse an einer Aussperrung haben.
In Beantwortung dieser Frage muss festgestellt werden, dass die
Gewerkschaftsstärke davon abhängt, welchen Schaden die Gewerkschaften bei
Ausbruch eines Arbeitskampfes den Unternehmungen maximal verursachen können. Wir
werden sehen, dass es den Arbeitgebern gelingen kann, über eine Aussperrung diesen
Schaden zu reduzieren.
Die Höhe dieses maximalen Schadens hängt insbesondere davon ab, wie viel Gesamtarbeitstage
(Beschäftigte mal Arbeitskampftage) durch einen Arbeitskampf verloren gehen,
sowie vom Schaden pro verlorenem Arbeitstag. Es gilt die Gleichung:
K = K / (StrT * B) * (StrT
* B) mit:
K: Gesamtschaden
B: Zahl der Beschäftigten
StrT: Streiktage
Die Zahl der möglichen Streiktage wird hierbei einmal durch die Höhe der
Streikkasse der Gewerkschaften, zum andern durch die Streikbereitschaft der
Arbeitnehmer bestimmt. Der Schaden pro verlorenen Arbeitstag wird selbst wiederum
dadurch beeinflusst, wo (in welchen Betrieben) und wann (innerhalb welcher Konjunkturphasen)
ein Arbeitskampf stattfindet.

Von Bedeutung ist vor allem, in welchen Betrieben gestreikt wird; diese
Frage ist für die Höhe der Kosten von Bedeutung, die den Gewerkschaften durch
die Organisation des Streiks entstehen; generell gilt, dass sich ein Streik in
Großbetrieben leichter durchführen lässt als in Kleinbetrieben, die über das
Land verstreut sind. So ist z. B. die Anzahl der benötigten Streikposten pro
Arbeitnehmer dann sehr viel größer, wenn die Branche aus einer Vielzahl von
über das Land verteilten Kleinbetriebe besteht als dann, wenn die Masse der
Arbeitnehmer in einigen wenigen Großbetrieben beschäftigt ist.
Die Auswahl der vom Arbeitskampf betroffenen Betriebe ist jedoch auch für
das Ausmaß der Kosten von Bedeutung, die pro ausgefallenen Arbeitstag den Unternehmungen
entstehen. Während der Dauer eines Streiks bleiben ja auch die Kapitalgüter
unbeschäftigt, sodass den besonders kapitalintensiven Unternehmungen dementsprechend
höhere Ausfallskosten als bei arbeitsintensiven Produktionen erwachsen.
Die Streikkosten der Unternehmung hängen nämlich davon ab, wie hoch der Anteil
der Fixkosten ist. Dieser ist jedoch von Unternehmung zu Unternehmung
verschieden. Auch in der Frage, ob bei Nichterfüllung von Aufträgen Geldbußen
zu entrichten sind, unterscheiden sich die einzelnen Unternehmungen.
Schließlich hängt das Ausmaß an Kosten, die den Unternehmungen aufgrund
eines Arbeitskampfes entstehen, auch davon ab, ob während einer Absatzkrise
oder während eines Auftragsbooms ein Arbeitskampf durchgeführt wird. Während
einer Absatzkrise sind die anfallenden Kosten der Unternehmung extrem gering;
die Unternehmung hätte ohnehin keinen großen Absatz gehabt; u. U. verbessert
sich sogar die Rentabilitätslage, da die Arbeitskosten während des
Arbeitskampfes geringer sind.
Über die Aussperrung können die Arbeitgeber Einfluss darauf nehmen: dass
·
nicht nur in denjenigen Betrieben gestreikt
wird, in denen eine hohe Streikbereitschaft der Arbeitnehmer besteht; oder
·
in denen die Organisationskosten eines Streiks
auf Seiten der Gewerkschaften relativ gering sind; oder
·
in denen die Streikkosten der Unternehmungen
besonders hoch sind;
·
dass auch in Zeiten der Rezession gestreikt
wird, in denen der Schaden für die Unternehmungen pro ausgefallenem Arbeitstag
relativ gering ist;
·
oder die Arbeitnehmer befürchten müssen, dass
die Durchsetzung hoher Lohnforderungen mit einer Zunahme der Arbeitslosigkeit
verbunden ist.
Ob es zu einer Aussperrung kommt, hängt auch davon ab, inwieweit die Arbeitgeber
Ausgleichskassen gebildet haben, mit deren Hilfe die Arbeitskampfkosten auf
alle Unternehmungen des Verbandes aufgeteilt werden können. Auf der einen Seite
können auf diese Weise Schwerpunktstreiks besser verkraftet werden, auf der
anderen Seite kann auch die Aussperrung auf die Unternehmungen begrenzt werden,
in denen die Arbeitskampfkosten am geringsten sind.
09. Zur Reform des Tarifvertragsrechts
In der Nachkriegszeit galt lange Zeit die deutsche Lösung des Tarifvertragswesens
als geradezu vorbildlich. Gerade weil zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland
eine große Zahl der Arbeitnehmer Mitglied der im DGB zusammengeschlossenen
Industriegewerkschaften war, hatten die Arbeitgeber mit ganz wenigen Ausnahmen
nur mit einer einzigen Gewerkschaft zu verhandeln und Tarifverträge
abzuschließen.
Da weiterhin auf der einen Seite die Unternehmer oftmals die Tarifverträge
auch auf die Lohneinkommen der nichtorganisierten Arbeitnehmer anwandten und
auf der anderen Seite jederzeit die Möglichkeit bestand, auf Antrag einer der
beiden Tarifparteien die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären zu lassen,
kam der Tarifvertrag auch fast allen Beschäftigten zugute.
Dieses Prinzip der Tarifeinheit ist in den letzten Jahren verloren gegangen.
Heutzutage müssen die Arbeitgeber oftmals mit mehreren Gewerkschaften Verhandlungen
führen, mit dem Ergebnis, dass bisweilen für ein und dieselbe
Arbeitnehmergruppe in ein und demselben Betrieb unterschiedliche Löhne gewährt
werden. Dieser Wandel hängt vor allem damit zusammen, dass heutzutage nur ein
Bruchteil der Beschäftigten in einer dem DGB angeschlossenen Industriegewerkschaft
organisiert ist und dass gerade aufgrund eines weitverbreiteten Misstrauens
gegenüber den Industriegewerkschaften immer mehr berufsbezogene Gewerkschaften
entstanden sind.
Gerade die Berufsbezogenheit dieser neuen Gewerkschaften brachte es dann
auch mit sich, dass diese neuen Gewerkschaften trotz eines geringen Anteils der
betroffenen Beschäftigten im Betrieb eine Schlüsselstellung errungen haben, aufgrund
derer sie bei einem Streik den gesamten Betrieb lahm legen können.
Auch die Tatsache, dass im Zusammenhang mit Arbeitskonflikten nicht nur den
Unternehmungen wirtschaftlicher Schaden zugefügt werden kann, sondern dass auch
die Interessen unbeteiligter Dritter (der Endverbraucher) erheblich beeinträchtigt
werden, bezieht sich vor allem auf diese kleinen Gewerkschaften, vielleicht mit
der Ausnahme des öffentlichen Dienstes, hier werden ebenfalls sehr häufig die
Interessen Dritter (der Verbraucher) entscheidend verletzt.
Schließlich ist auch der Umstand, dass in einer Vielzahl von Wirtschaftsbranchen
überhaupt kein Tarifvertrag abgeschlossen wird oder der geltende Tarifvertrag
nur für einen verschwindend kleinen Anteil der Beschäftigten gültig ist, dafür
verantwortlich, dass für ein Teil der Beschäftigten Löhne gezahlt wurden, die
noch unterhalb der Armutsgrenze lagen, ein Zustand der dann dazu geführt hat,
dass ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wurde.
Wenden wir uns nun der Frage zu, auf welchem Wege Fehlentwicklungen vermieden
werden können. Einen ersten Ansatz zur Erklärung dafür, dass der gewerkschaftliche
Organisationsgrad heutzutage so extrem niedrig liegt, finden wir in der Theorie
über das Kollektivgüterangebot von Mancur Lloyd Olson. Olson spricht immer dann
von Kollektivgütern, wenn potentielle Nachfrager nach diesem Gut vom Konsum
dieses Gutes auch dann nicht ausgeschlossen werden können, wenn sie nicht
bereit sind, sich an den Kosten der Erstellung dieses Gutes zu beteiligen. Wir
sprechen hier vom Ausschlussprinzip.
Übertragen auf die Erstellung von Verbandsleistungen bedeutet dies also,
dass Verbandsleistungen – also auch die Leistungen der Gewerkschaften gegenüber
ihren Mitgliedern – von den Arbeitnehmern in zu geringem Maße nachgefragt
werden, zumindest dann, wenn der Beitritt zum Verband (zur Gewerkschaft)
freiwillig erfolgt. Die Leistungen, welche die Gewerkschaften ihren Mitgliedern
traditionell anbieten, bestehen vorwiegend in Kollektivleistungen, so etwa in
einem kollektiv für alle Gewerkschaftsmitglieder geltenden Tarifvertrag.
Wovon hängt es nun ab, wie groß die Differenz zwischen privatwirtschaftlichen
und gesamtwirtschaftlichen Grenzerträgen ist? Olson macht in diesem Zusammenhange
vor allem auf die Größe einer Gruppe aufmerksam. Je kleiner eine Gruppe ist,
umso leichter ist es, sich in einem Interessenverband zu organisieren, die
Kosten der Verbandsbildung sind gering. Je größer jedoch eine Gruppe ist, umso
schwieriger gestalten sich die Versuche, diese Gruppe in einem Interessenverband
zusammenzuschließen. Mehrere Gründe sind hierfür verantwortlich.
Als erstes gilt es festzustellen, dass ab einer bestimmten Gruppengröße die
Interessen dieser Gruppe nach außen nur vertreten werden können, wenn ein Verbandsapparat
eingerichtet wird, der die notwendigen Arbeiten erledigt; dies ist mit Kosten
verbunden. Darüber hinaus wird es aber auch mit zunehmender Gruppengröße
schwieriger, zu einer einheitlichen Meinung zu gelangen. Mit der Gruppengröße
steigt auch die Gefahr, dass die Interessen der einzelnen Mitglieder
differieren, es muss ein schwieriger Willensbildungsprozess in Gang gesetzt
werden und sehr viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, um eine einheitliche
Meinung zu erlangen.
Je größer eine Gruppe ist, umso geringer ist der Anreiz, dem Verband
beizutreten und aktiv mitzuwirken. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes
Gruppenmitglied durch seinen Beitritt oder durch seine Beteiligung an den Abstimmungen
einen effektiven Einfluss auf die Verbandsarbeit erlangen kann, wird immer
geringer und geht auf null zu. Damit entfällt jedoch auch der Anreiz, dem Verband
beizutreten und sich aktiv zu beteiligen, da ja Beitritt und Verbandsaktivität
stets mit persönlichen Kosten verbunden sind.
Je weniger Gruppenmitglieder jedoch dem Interessenverband beitreten, umso
größer fällt die Differenz zwischen privatwirtschaftlichen und gruppenbezogenen
Grenzerträgen aus, da es immer mehr Trittbrettfahrer gibt.
Fragen wir uns, was denn nun getan werden müsste, um zu erreichen, dass die
Leistungen der Gewerkschaften einen optimalen Umfang erreichen? Da ein Teil der
Leistungen einen externen Ertrag darstellen, müssten diese Erträge internalisiert
werden. Olson schlug vor, die Gewerkschaften sollten vermehrt dazu übergehen,
Individualgüter neben Kollektivgütern anzubieten. So könnten z. B. die
Gewerkschaften ihren Mitgliedern einen Rechtsschutz gewähren, indem sie ihnen
bei Streitigkeiten mit den Arbeitgebern beratend zur Seite stehen, Rechtsanwälte
stellen oder vermitteln und schließlich die Kosten eines Versicherungsschutzes
übernehmen.
In der Tat hatten die Gewerkschaften in ihrer Anfangsphase im 19.
Jahrhundert nur vereinzelt Kollektivverträge mit den Arbeitgebern
abgeschlossen; die Leistungen der Gewerkschaft gegenüber ihren Mitgliedern
bestanden in stärkerem Maße in Individualleistungen wie etwa Unterstützung im
Falle der Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Erst das Stinnes-Legyen-Abkommen
vom 15. November 1918 führte zu periodischen Tarifverhandlungen; gleichzeitig
trug der Umstand, dass das Netz der Sozialversicherung immer mehr ausgebaut
wurde, dazu bei, dass zusätzliche individuelle Leistungen von Seiten der
Gewerkschaft in den Hintergrund traten.
Auch dann, wenn die Unternehmer die Tariflohnsteigerungen weitgehend allen
Beschäftigten gewähren, gibt es allerdings eine Situation, bei der sich die
organisierten Arbeitnehmer besser stellen als die nichtorganisierten und bei
der deshalb die Arbeitnehmer einen Anreiz besitzen, der Gewerkschaft
beizutreten. Diese Situation tritt ein, wenn ein Arbeitskampf ausbricht.
Rufen die Gewerkschaften einen Streik aus, so erhalten die streikenden
Arbeitnehmer während der Dauer des Streiks keinen regulären Lohn. Gehören sie
der Gewerkschaft an, so erhalten sie allerdings ein Streikgeld, das natürlich
nur einen Teil ihres Lohneinkommens ausmacht. Nichtorganisierte Arbeitnehmer
stellen sich nun schlechter, wenn sie sich am Streik beteiligen. Sie erhalten weder
den Lohn noch ein Streikgeld. Selbst dann, wenn sie sich eigentlich am Streik
nicht beteiligen wollen, besteht die Gefahr, dass sie von den Unternehmern ausgesperrt
werden und deshalb während des Arbeitskampfes keinen Lohn erhalten.
Empirisch lässt sich in der Tat feststellen, dass in Zeiten, in denen
häufig und längere Zeit gestreikt wird oder zumindest ein Streik droht,
Arbeitnehmer vermehrt der Gewerkschaft beitreten, sodass sich in diesen Zeiten
der Organisationsgrad der Gewerkschaften erhöht; während in Zeiten, in denen
längere Zeit kein Arbeitskampf stattfand, die Mitgliederzahlen der
Gewerkschaften wieder zurückgehen.
Dieser Zusammenhang hat zur Folge, dass die Gewerkschaften einen zusätzlichen
Anreiz besitzen, immer wieder einen Streik auszurufen oder zumindest mit Streik
zu drohen. Die Drohung mit einem Streik erfüllt natürlich in erster Linie die
Funktion, die Arbeitnehmerposition in den Tarifverhandlungen zu verbessern und
höhere Löhne zu erkämpfen.
Zusätzlich bewirkt jedoch der Streik auch einen höheren Organisationsgrad
und kann auf diese Weise den langfristigen Erfolg der Gewerkschaften
verbessern, da die Glaubwürdigkeit und die Erfolgsaussichten der Gewerkschaften
unter anderem auch von der Höhe des gewerkschaftlichen Organisationsgrades abhängen.
Je höher der Organisationsgrad einer Gewerkschaft ist, umso größer ist auch
ceteris paribus das Vermögen einer Gewerkschaft, und umso länger kann ein
Streik ausgedehnt werden und umso größer kann der Anteil der bestreikten
Betriebe ansteigen. Alle diese Faktoren tragen dazu bei, die Position der Arbeitnehmer
in den Tarifbeziehungen zu stärken.
Und gerade in diesem Zusammenhang entsteht die Frage, ob der Zusammenschluss
die Attraktivität der Gewerkschaft für die Mitglieder nicht sogar geschwächt
hat. Jeder Tarifbezirk hat seine eigenen Probleme. Dies bedeutet, dass aufgrund
der Fusion die Mitglieder feststellen müssen, dass sich ihre Gewerkschaft immer
häufiger mit ihnen fremden Problemen befasst und die Mitgliedsbeiträge für
fremde Interessen eingesetzt werden. Auf jeden Fall wird der Willensbildungsprozess
immer schwieriger, je größer die Gewerkschaft ist und je differenzierter die
Interessen der einzelnen Mitglieder sind.
Vermutlich würde es dem Interesse der Gewerkschaft und Arbeitnehmer sehr
viel besser entsprechen, wenn sich nur Arbeitnehmer mit weitgehend gleichen
Interessen zu einer Gewerkschaft zusammenschließen und wenn sie einen Teil des
Gewerkschaftsbeitrages in einen übergeordneten beim DGB niedergelegten
Streikfonds überweisen würden, sodass sie das Recht erhielten, aus diesem Fonds
– falls notwendig – unterstützt zu werden.
Der Weg, den die Gewerkschaften in der Vergangenheit beschritten hatten und
der vorwiegend darin bestand, dass sich Einzelgewerkschaften zusammenschlossen,
war also weder geeignet, neue Mitglieder in großem Umfang zu rekrutieren, noch
hat er dazu beigetragen, dass die Gefahr häufiger Streiks verringert wurde.
Eine weitere zweite Lösung aus dem augenblicklichen Dilemma könnte darin liegen,
dass wir uns bewusst werden, dass die eigentliche Wirkung, welche wir vom
Streik auf den Ausgang der Tarifverhandlungen erwarten können, gar nicht so
sehr vom tatsächlich durchgeführten Arbeitskampf, sondern bereits von der Androhung
mit Streik ausgeht.
Nach der Lohntheorie von John
Richard Hicks kommt es nur in Ausnahmefällen zum Ausbruch eines Streiks.
Die Streikwaffe wird als Instrument zur Erkämpfung höherer Löhne oder besserer
Arbeitsbedingungen angesehen. Die Arbeitnehmer haben ein Interesse daran, nur
so lange mit Streik zu drohen, als sie damit rechnen können, dass die
Arbeitgeber aufgrund der Streikdrohungen zu Lohnzugeständnissen bereit
sind.
Wenn die Gewerkschaften nicht mehr damit rechnen können, dass die Arbeitgeber
bei Ausweitung des Streiks zu weiteren Lohnzugeständnissen bereit sind, wenn
also die äußerste Verhandlungsgrenze der Arbeitgeber bereits erreicht ist,
haben die Gewerkschaften auch kein Interesse daran, weiter mit Streik zu drohen.
Jeder Streik ist für die Gewerkschaften mit Kosten verbunden; deshalb lohnt
sich eine Streikdrohung nur solange, als die Gewerkschaften damit rechnen
können, dass die Arbeitgeber aufgrund der Streikdrohung den gewerkschaftlichen
Forderungen entgegenkommen.
Haben die Gewerkschaften nämlich mit Streik gedroht und sind die
Arbeitgeber zu keinen weiteren Lohnzugeständnissen bereit, so sehen sich die
Gewerkschaften gezwungen, die Verweigerung der Arbeitgeber mit der Ausrufung
des Streiks zu beantworten, um nicht in den zukünftigen Tarifverhandlungen
unglaubwürdig zu werden. Bricht jedoch ein Streik aus, so ist dies mit Kosten
für die Gewerkschaften verbunden und gerade deshalb, weil die Gewerkschaft auf
diese Weise einen Vermögensverlust erfährt, wird ihre zukünftige
Verhandlungsposition geschwächt.
Wir wollen also festhalten, dass zwischen Streikandrohung und Streikdurchführung
unterschieden werden muss, dass bei rationalem Vorgehen die erhofften Wirkungen
auch schon bei bloßer Androhung des Streiks zu erwarten sind und dass sich eine
Gewerkschaft immer besser stellt, wenn sie ihre Ziele auch ohne Durchführung
des Streiks erreichen kann.
Dies bedeutet jedoch, dass immer nur dann, wenn die Tarifparteien von unrealistischen
Annahmen ausgehen, sich also verkalkulieren, damit gerechnet werden muss, dass
es tatsächlich zum Streik kommt. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht wäre es
deshalb sehr viel besser, wenn sichergestellt wäre, dass sich die Tarifpartner
rational verhalten und über ausreichendes Wissen verfügen. Denn in diesem Falle
bliebe es bei der Androhung eines Streiks, die Gewerkschaften würden trotzdem
ihre Ziele genauso gut erreichen, als dann, wenn der Streik auch ausbrechen
würde und vor allem würden dann die unerwünschten Belästigungen Dritter
unterbleiben.
Ein Weg zur Vermeidung oder Verringerung dieser Belästigungen läge also darin,
dass man über eine Streikordnung Anreize gibt, die auf gegenseitige hohe Information
und rationales Verhalten hinwirken. Hierzu zählt auch, dass in den öffentlichen
Medien eine möglichst objektive Darstellung der Tarifauseinandersetzungen erfolgt.
Solange in den Medien die Meinung verbreitet wird, dass die Anfangsforderungen
der Gewerkschaften in ihrer vollen Höhe berechtigt sind und wenn also vernachlässigt
wird, dass Kompromisse nur dann erzielt werden können, wenn die Gewerkschaften
in die Tarifverhandlungen mit Lohnforderungen gehen, die über dem Niveau
liegen, das sie für berechtigt ansehen und dass auch die Arbeitgeber zunächst
ein geringeres Zugeständnis machen als sie tatsächlich für möglich halten,
solange wird der Prozess der Kompromissbildung erschwert und verlängert und
damit auch die Belästigungen unbeteiligter Dritter erhöht.
Drittens lässt sich der Ausbruch von Streiks auch dadurch reduzieren, dass
zwischen Scheitern der Tarifverhandlungen und Ausbruch eines Streiks eine
Schlichtung vorgesehen wird, also der Versuch unternommen wird, dass ein unbeteiligter
Dritter eine Einigung herbeiführt. Weltweit kennen wir zwei verschiedene Arten
von Schlichtung: Auf der eine Seite sehen einige Länder eine Zwangsschlichtung
vor, während es in anderen Ländern freiwillig abgeschlossene
Schlichtungsabkommen gibt, welche zwischen den einzelnen Tarifparteien
abgeschlossen wurden.
Eine Zwangsschlichtung ist z. B. in den USA vorgesehen. Hier kann der Präsident
unter bestimmten Bedingungen einen Arbeitskampf abbrechen lassen und einen
Schlichtungsspruch aussprechen, der dann von den Tarifparteien zu befolgen ist.
Allerdings darf dieses Verfahren nur dann eingeleitet werden, wenn die
gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt ernsthaft bedroht ist.
In der BRD kennen wir keine vom Staat verordnete Zwangsschlichtung, aber
fast in allen größeren Tarifbezirken wurden zwischen den Tarifparteien auf freiwilliger
Grundlage Schlichtungsabkommen vereinbart. All diesen freiwilligen Abkommen ist
gemeinsam, dass nach dem Scheitern einer regulären Tarifverhandlung vor
Ausbruch des Arbeitskampfes ein Schlichter angerufen werden kann oder bisweilen
auch muss, dessen Schlichtungsspruch jedoch für die Tarifparteien nicht bindend
ist.
Die flächendeckende Einführung von freiwilligen Schlichtungsabkommen hat
zwar sicherlich dazu beigetragen, dass die Häufigkeit von Streiks vermindert
werden konnte, sie hat jedoch nicht verhindern können, dass trotzdem oftmals
offene und lange Arbeitskämpfe geführt werden.
Es gäbe jedoch die Möglichkeit, dass dem Schlichter mehr Rechte eingeräumt
werden, um bestimmte Kompromisse zu erzwingen. Es fragt sich, ob es nicht
möglich ist, zwischen den beiden Extremen einer staatlichen Zwangsschlichtung
und freiwilliger Schlichtungsabkommen einen Mittelweg zu beschreiten, indem
zwar grundsätzlich die Tarifparteien selbst darüber befinden können, auf welchem
Wege ein Schlichter berufen wird und inwieweit sie bereit sind, den
Schlichtungsspruch anzuerkennen, aber durchaus Ausnahmesituationen vorgesehen
werden, bei deren Eintreten dennoch die Möglichkeit besteht, den Schlichtungsspruch
als verpflichtend anzusehen.
So könnte man z. B. vorsehen, dass dann, wenn die Kosten der Endverbraucher
deutlich höher ausfallen als die potentiellen Gewinne der Arbeitnehmer, der
Schlichterspruch für verbindlich erklärt werden kann. Es wäre auch zu überprüfen,
ob nicht immer dann, wenn beim Ausbruch eines Streiks das Gemeinwohl und damit
auch das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gravierend verletzt wird, die
Staatsanwaltschaft von Amtswegen ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung
der Verhältnismäßigkeit einleiten muss,
wie dies ja auch im Strafrecht der Fall ist.
Zusammenfassung:
01. Die in der BRD grundgesetzlich geschützte negative Koalitionsfreiheit
räumt dem einzelnen Arbeitnehmer das Recht ein, der Gewerkschaft fern zu
bleiben. Im Gegensatz hierzu gab es in den angelsächsischen Staaten früher
oftmals den "closed shop",
wonach nur Gewerkschaftsmitglieder beschäftigt waren. In Anbetracht dessen,
dass die allgemeinen Koordinationsmechanismen (Wettbewerb und Wahlen) auf
Gewerkschaftsebene kaum wirksam sind, kommt der negativen Koalitionsfreiheit
eine große ordnungspolitische Bedeutung zu. Allerdings trägt dieses Prinzip
auch zu einem Trittbrettfahrerverhalten bei.
02. Die nicht organisierten Arbeitnehmer profitieren im allgemeinen von den
Tariflohnerhöhungen, welche die Gewerkschaften erkämpft haben, ohne dass sich
diese Arbeitnehmer an den Kosten beteiligen, die für die Ausführung der gewerkschaftlichen
Aktivität notwendig wurden.
03. Das Dilemma einer freiwilligen Schlichtung, so wie sie in der BRD
verwirklicht ist, besteht darin, dass es unklar ist, weshalb ein Schlichter die
Tarifparteien zu einem Kompromiss führen kann, der von beiden Gruppen
freiwillig akzeptiert werden muss. Gibt es nämlich eine solche Lösung, dann
fragt es sich, weshalb sich die Tarifgruppen nicht von selbst auf diesen
Kompromiss einigen konnten.
04. Im Rahmen der Schlichtungstheorie wurde der Versuch unternommen, aufzuzeigen,
worin der Beitrag des Schlichters liegen kann.
05. So kann ein Schlichter erfolgreich sein, weil es ihm gelingt, den im
Zusammenhang mit Bluff-Strategien entstandenen Vertrauensverlust wiederum zurückzugewinnen,
oder weil der Prestigeverlust, den die Gewerkschaftsfunktionäre aufgrund eines
Nachgebens bei den Mitgliedern erfahren, geringer ausfällt, wenn die Gewerkschaften
von einem Dritten zu diesem Nachgeben veranlasst wurden, oder weil der
Schlichter den Arbeitgebern im Falle eines Nachgebens Vorteile (z. B. in Form
von Subventionen) in Aussicht stellen kann. Schließlich ist es auch denkbar,
dass - wie der Vorschlag des Investivlohnes zeigt - dem Schlichter eine
innovative Lösung gelingt, die den Tarifpartnern bisher nicht bekannt war.
06. Fast alle Industrienationen der westlichen Welt gewähren den Gewerkschaften
das Recht zu streiken. Allerdings haben die Regierungen in einigen Ländern
(USA, Dänemark) die Möglichkeit, in Notsituationen einen Streik vorübergehend
auszusetzen oder sogar zu beenden. In der BRD entwickelte das Bundesarbeitsgericht
einige grundlegende Prinzipien, die bei gerichtlichen Streitigkeiten über die
Berechtigung von Arbeitskämpfen Anwendung finden.
07. Das Prinzip der Kampfparität betont die Ausgeglichenheit der Arbeitskampfmittel
beider Tarifparteien. Ohne Streikrecht der Arbeitnehmer sei ein
Nachfragemonopol der Arbeitgeber auf den Arbeitsmärkten zu befürchten. Hätten
jedoch nur die Arbeitnehmer das Recht, einen Arbeitskampf auszulösen, bestünde
die Gefahr, dass die Gewerkschaften die Unternehmungen beherrschten. Also wird
den Arbeitgebern in begrenztem Maße das Recht zur Aussperrung - allerdings nur
in der Form der Abwehraussperrung - zugestanden.
08. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Kampfmittel verlangt, dass der
Arbeitskampf zur Realisierung der Forderungen der Arbeitnehmer unerlässlich
ist. Ein Streik ist weiterhin nicht erlaubt, wenn hierdurch die Interessen
Dritter über Gebühr oder wenn Gemeinwohlziele verletzt werden. Ein Streik darf
sich nicht gegen die Aktivität der staatlichen Organe in Ausübung ihrer
staatlichen Aufgaben wenden.
09. Das Prinzip der Neutralität des Staates verbietet dem Staat, einseitig
zugunsten einer Tarifpartei in den Verhandlungsprozess einzugreifen. Dieses
Prinzip verbietet auch, dass die Arbeitslosenversicherung streikenden
Arbeitnehmern während der Dauer des Streikes Arbeitslosengeld gewährt.
10. Das Prinzip der Friedenspflicht besagt, dass solange keine Arbeitskampfmaßnahmen
ergriffen werden dürfen, als die Tarifverhandlungen noch nicht als gescheitert
erklärt wurden. Allerdings sind (auf wenige Stunden oder Tage beschränkte)
Warnstreiks von diesem Verbot ausgenommen.
11. In der Schweiz besteht ein Friedensabkommen, in dem sich die
Tarifpartner verpflichten, auf den Einsatz von Arbeitskampfmaßnahmen zu
verzichten. Obwohl die Gewerkschaften während der Gültigkeit dieses Abkommens
nicht die Möglichkeit haben, ihre Lohnforderungen mit Streikdrohungen zu
unterstützen, übt trotzdem allein die Fähigkeit zu streiken nach wie vor einen
Einfluss auf die Arbeitgeber aus. Je weniger die Arbeitgeber bereit sind, auf
die Lohnforderungen der Arbeitnehmer einzugehen, umso größer ist das Risiko,
dass die Gewerkschaften das Friedensabkommen aufkündigen. Die Arbeitgeber
stehen deshalb nach wie vor unter dem Druck, auf die Lohnforderungen der
Gewerkschaften einzugehen.
12. Die Aussperrung stellt das Recht der Arbeitgeber dar, die Beschäftigung
von Arbeitnehmern vorübergehend auszusetzen. Die Arbeitsverträge bleiben jedoch
nach wie vor in Kraft. Nach der Rechtsprechung der obersten Gerichte entspricht
die Aussperrung zumindest in der Form der Abwehraussperrung dem Grundgesetz,
obwohl in einzelnen Landesverfassungen (z. B. Hessen) die Aussperrung verboten
ist. In andern Staaten ist die Aussperrung teilweise verboten oder wird – wie
in Frankreich – nicht praktiziert. Die Aussperrungsmöglichkeit verbessert die
Verhandlungsposition der Arbeitgeber, obwohl bei einer Aussperrung für die
Unternehmer ebenso Kosten anfallen wie bei einem Streik.
13. Trotzdem kann eine Aussperrung für die Arbeitgeber nützlich sein, da
sie auf diesem Wege mitentscheiden können, in welchen Unternehmungen und zu welchen
Zeiten ein Arbeitskampf durchgeführt wird. Die einzelnen Unternehmungen
unterscheiden sich darin, wie hoch die Kosten aufgrund eines Streiks ausfallen.
Gleichzeitig gilt, dass der Umfang der Streikkosten von der Konjunkturlage abhängt.
14. Vor allem in Zeiten der Rezession haben die Unternehmungen oftmals Überschusskapazitäten,
eine der Kapazität entsprechende Produktion kann auch ohne Streikausbruch nicht
abgesetzt werden. Während eines Arbeitskampfes können sogar sonst anfallende
Lohnkosten reduziert werden.
Fragen zu
Kapitel 5b:
01. Was versteht man unter negativer Koalitionsfreiheit?
02. Worin liegt die ordnungspolitische Bedeutung der negativen
Koalitionsfreiheit?
03. Erleiden nicht organisierte Arbeitnehmer in der BRD in normalen Zeiten
materielle Verluste?
04. Wie stellen sich die nicht organisierten Arbeitnehmer während eines
Streiks?
05. Worin liegt die allokative Bedeutung der negativen Koalitionsfreiheit?
06. Worin besteht das Schlichtungsdilemma?
07. Ist es richtig, dass die Schlichtung im Allgemeinen dazu beiträgt,
irrationales Verhalten abzubauen?
08. Was versteht man unter einer kreativen Lösung im Zusammenhang mit der
Schlichtung?
09. Was besagt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit eines Arbeitskampfes?
10. Was besagt das Prinzip der Neutralität des Staates im Zusammenhang mit
dem Arbeitskampfrecht?
11. Was versteht man unter Aussperrung?
12. Wenn auch eine Aussperrung den Unternehmungen Kosten verursacht, warum
haben die Unternehmer überhaupt ein Interesse an Aussperrungen?
Antworten zu Kapitel 5b:
01. Unter negativer Koalitionsfreiheit versteht man das Recht des einzelnen
Arbeitnehmers, selbst zu entscheiden, ob er einer Gewerkschaft beitritt oder
nicht.
02. Da sowohl der inter- wie auch der intragewerkschaftliche Wettbewerb äußerst
gering ist, geht von dem Prinzip der negativen Koalitionsfreiheit die einzige
größere kontrollierende Wirkung auf die Funktionäre aus.
03. Nicht organisierte Arbeitnehmer erleiden in der BRD in normalen Zeiten
keine materiellen Verluste, da die Unternehmer zumeist die Tariflöhne auch den
nicht organisierten Arbeitnehmern gewähren.
04. Während eines Streiks stellen sich die nicht organisierten Arbeitnehmer
schlechter, da sie z. B. wegen Aussperrung oder eines informellen Zwangs, sich
dem Streik anzuschließen, weder ein reguläres Einkommen noch ein Streikgeld
erhalten.
05. Die allokative Bedeutung der negativen Koalitionsfreiheit liegt darin,
dass der Organisationsgrad der Arbeitnehmer geringer ausfällt, als es dem
Interesse der Arbeitnehmerschaft entspricht.
06. Das Schlichtungsdilemma besteht darin, dass es unklar ist, warum eine
freiwillige Schlichtung notwendig ist, wenn auch der Schlichter keine
Möglichkeit hat, die Tarifparteien zu zwingen, den Schlichtungsspruch zu
akzeptieren.
07. Im Allgemeinen kann man nicht davon sprechen, dass sich die Funktionäre
der Tarifparteien ohne Schlichtung irrational verhalten.
08. Eine kreative Lösung im Zusammenhang mit der Schlichtung liegt immer
dann vor, wenn der Schlichter einen Weg vorschlägt, der zwar im Interesse beider
Tarifparteien liegt, der jedoch bisher im Rahmen der Tarifpraxis unbekannt war.
09. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Arbeitskampfmittel verlangt,
dass es keiner Tarifpartei gestattet ist, den Gegner vernichtend zu schlagen
oder Gemeinwohlziele zu verletzen.
10. Das Prinzip der Neutralität des Staates besagt, dass der Staat während
eines Arbeitskampfes nicht Maßnahmen ergreifen darf, welche eine Partei
einseitig begünstigen.
11. Unter Aussperrung versteht man das kollektive, vorübergehende Außerkraftsetzen
der Arbeitsverträge von Seiten der Arbeitgeber.
12. Über eine Aussperrung erhalten die Arbeitgeber die Möglichkeit, darüber
mitzubestimmen, zu welchen Zeiten und in welchen Betrieben ein Arbeitskampf
stattfindet. Die den Arbeitgebern entstehenden Kosten eines Arbeitskampfes sind
je nach Zeiten und je nach Betrieb sehr unterschiedlich.