1. Das Problem
2. Von Bauern- und Königsopfern
3. Untersuchungsausschüsse
4. Interner Parteienstreit
5. Die Berichterstattung in den Medien
6. Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik
5. Die Berichterstattung in den Medien
Vor allem dann, wenn terroristische Anschläge verursacht wurden, werden die Politiker nicht müde, die Bevölkerung zu beruhigen, denn nur dann, wenn das normale Leben weitergehe, hätten die Terroristen ihr Ziel, unsere Gesellschaft zu zerstören, verfehlt.
So richtig diese Ermahnung ist, ich frage mich, warum trotzdem in der Öffentlichkeit nach einem terroristischen Anschlag alles andere getan wird, als das normale Leben fortzusetzen. Nehmen wir die öffentlichen Medien, die unmittelbar nach den Anschlägen uns mit stündlichen Informationen überfluten, Specials und andere Sondersendungen einschieben und gerade dadurch das normale Programm unterbrechen.
Wenn man berücksichtigt, dass es eine Vielzahl von nebeneinander ausstrahlenden Sender gibt und ein Großteil der Haushalte auch von dieser Vielzahl Gebrauch macht, also sich nicht auf ein Programm beschränkt, haben diese Einschübe nicht nur zur Folge, dass die Sendungen an diesen Tagen eben etwas später ausgestrahlt werden, sondern dass immer wieder Sendungen verpasst werden, da diese Sondersendungen zu unterschiedlichen Zeiten erfolgen.
Diese Sondersendungen beschränken sich zumeist keinesfalls auf eine kurze Berichterstattung über das Geschehene. Informationen, welche unmittelbar nach einem terroristischen Anschlag ausgesendet werden, sind notwendiger Weise unvollkommen. Statt sich auf das sichere Wissen, über das zumeist zu dieser Zeit in einigen wenigen Minuten hätte berichtet werden können, zu beschränken, wird zu einer 30 bis 40 Minuten dauernden Sendung Zuflucht genommen. Und da man dann die vorgesehene Zeit ausfüllen muss, werden Nachrichten mehrmals wiederholt, Fragen gestellt, die zu diesem Zeitpunkt mit dem besten Willen noch nicht beantwortet werden können, weiterhin alle maßgebenden Politiker nach ihrer Meinung befragt, mit dem Ergebnis, dass immer wieder fast die gleichen Gedanken ausgesprochen werden.
Es ist aber nicht nur der Umfang der ausgesendeten Nachrichten, der bedenklich ist, sondern auch die Art und Weise, wie diese Nachrichten ausgestrahlt werden. Wenn z. B. der gesamte Bildschirm von einer Flut von Flüchtlingen ausgefüllt ist, braucht es nicht zu verwundern, dass ein Großteil der Zuschauer mit Angst vor dieser Vielzahl von Flüchtlingen reagiert und vage Befürchtungen hegt, dass die Aufnahme diese Flüchtlinge notwendiger Weise zur Folge habe, dass die eigenen Sorgen der Bevölkerung von den Politikern gar nicht mehr berücksichtigt werden können. Der Umstand, dass viele dieser Flüchtlinge ein ganz ungewohntes Aussehen haben und fremde, nicht gewohnte Verhaltensweisen aufweisen, trägt dann dazu bei, die unbestimmte und instinktive Angst noch zu vergrößern.
Der Bildschirm mag noch so sehr von Flüchtlingen gefüllt sein, je nach dem Abstand, von dem aus diese Aufnahmen gemacht wurden, handelt es sich immer nur um einige Hundert, vielleicht einige wenige Tausend Flüchtlinge, was im Vergleich zu der Größe der Bevölkerung noch nicht einmal ein Promille ausmacht.
Überhaupt wird man unberechtigte panische Reaktionen im Hinblick auf sicherlich beunruhigende Ereignisse nur verhindern können, wenn man neben den Schreckensnachrichten auch positiv zu bewertende Nachrichten in etwa gleichem Umfang ausstrahlt. Das, was tatsächlich in den Nachrichten gebracht wird, ist immer eine Auswahl aus einer immens großen Anzahl von Informationen. Deshalb ist es immer möglich, auch positiv bewertete und damit aufbauende Nachrichten zu senden.
Man kann auch nicht davon ausgehen, dass die negativen Ereignisse so stark überwiegen, dass eine korrekte Darstellung notwendiger Weise ein Übergewicht der schlechten Nachrichten zur Folge habe. Es ist nämlich die Bewertung der einzelnen Ereignisse, welche letzten Endes bestimmt, wie viel positive und wie viel negative Ereignisse als so bedeutend angesehen werden, damit sie als Nachrichten gesendet werden.
Auch in der Darstellung der negativ zu bewertenden Nachrichten findet eine in diesem Umfang sicherlich nicht berechtigte Gewichtung statt. Folgt man den Unfallstatistiken der UNO, so sterben jedes Jahr im Verkehr und bei Unfällen am Arbeitsplatz und im Haushalt Millionen von Menschen weltweit, also ein Vielfaches der durch terroristische Akte oder auch Flugzeugabstürzen Getöteten oder schwer Verletzten. Ihrer wird in den täglichen Nachrichten nicht gedacht, das wäre auch gar nicht möglich.
Trotzdem müssen wir davon ausgehen, dass das durch diese Unglücksfälle ausgelöste Leid weitgehend unabhängig davon eintritt, ob ein terroristischer Akt oder eine Fehlhaltung im täglichen Leben oder eine Naturkatastrophe diese tragischen Ereignisse ausgelöst haben. In allererster Linie wird das Leben der Getöteten verkürzt bzw. führt bei Schwerverletzten das weitere Leben zu einer starken Beeinträchtigung und zu erhöhtem Leid. Kinder verlieren ihren Vater oder ihre Mutter, Eltern ihre Kinder, Bekannte ihre Freunde. Und dieser Verlust bedeutet auf der einen Seite, dass viele Individuen ihre Ernährer verlieren und dass deshalb die alltägliche Lebensführung in starkem Maße beeinträchtigt wird, auf der anderen Seite wird aber auch allein aus der Tatsache, dass man lieb gewordene Menschen verloren hat, eine starke gefühlsbezogene Beeinträchtigung ausgelöst.
Damit diese Ausführungen nicht falsch interpretiert werden: Es soll hier keinesfalls vorgeschlagen werden, über die traurigen Ereignisse nicht mehr zu berichten, es wird die Art und Weise kritisiert, wie diese Ereignisse geschildert werden. Die tatsächlich bekannten Ereignisse könnten in der Regel in wenigen Minuten berichtet werden.
Auch gilt es zu berücksichtigen, dass ja die öffentlichen Sender mit dem Phoenix-Programm ein eigenes Programm haben, das gerade über die aktuellen Ereignisse vertieft unterrichten soll. Weiterhin verfügen auch die öffentlichen Sender über Webseiten, in denen sie ausführlichst über alle wichtigen Nachrichten
Berichte und Hintergrundmaterial liefern. Wer sich also ausführlicher über bestimmte Nachrichten unterrichten will, könnte dies auch dann, wenn sich die Hauptsender in ihren periodischen Nachrichten auf die Kernaussagen beschränken würden.
Worin liegen nun Nutzen und Gefahren einer zu ausführlichen Berichterstattung? Als erstes gilt es festzustellen, dass es natürlich zu den Grundaufgaben der Berichterstattung zählt, auch darüber zu berichten, wie Menschen durch natürliche, aber unter Umständen auch künstlich erzeugte Katastrophen in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Medien würden ihrer Pflicht zur Veröffentlichung über alle öffentlich interessierenden Fragen nicht Genüge tun, würden sie über nationale und persönliche Unglücksfälle nicht berichten oder diese furchterregenden Ereignisse verharmlosend darstellen.
Als zweites kann auch durchaus vermerkt werden, dass gerade die ausführliche und bisweilen anklagende Berichterstattung bisweilen dazu beiträgt, die Verhältnisse zum Besseren zu wenden. So besteht durchaus die Möglichkeit, dass z. B. aufgrund einer ausführlichen Darstellung der Folgen eines Wirbelsturmes oder eines Erdbebens und des Aufzeigens, in welch existenzieller Weise diese Naturkatastrophen das nackte Überleben der hiervon betroffenen Menschen gefährden, sehr viele Menschen, welche dieses menschliche Leid an den Bildschirmen zu Hause verfolgen, rührt und sie dazu bewegt, diesen Menschen durch Spenden zu helfen, und zwar in beachtlich größerem Maße, als sie dies tun würden, wenn sie von diesen Katastrophen nur durch eine kleine Zeitungs- oder Radionotiz, welche sie vielleicht sogar gar nicht zur Kenntnis nehmen, in den täglichen Nachrichten erfahren würden.
Auch kann zugestanden werden, dass z. B. eine ausführliche Darstellung von Vertreibungen oder Folterungen in Gefängnissen von Diktaturen das öffentliche Gewissen wachrufen und auf die Machthaber einen gewissen Druck ausüben kann, sodass sich diese gezwungen sehen, diese Menschenrechtsverletzungen einzustellen oder zumindest zu mildern.
Es wäre jedoch falsch, wenn man aufgrund solcher Berichterstattungen nur positive Auswirkungen erwarten würde. Zur Menschenwürde, welche auch durch eine zu ausführliche Darstellung von Missständen beeinträchtigt werden kann, zählt auch das Recht eines jeden Menschen auf eine Intimsphäre.
Eine zu ausführliche Darstellung von menschlichem Leid, also z. B. das Aufzeigen, wie Menschen, welche aufgrund bestimmter Katastrophen ihre nächsten Angehörigen verloren haben, in Tränen ausbrechen und sich aus Verzweiflung die Haare raufen, verletzt sicherlich diese Intimsphäre; jeder Mensch hat ein Recht darauf, allein oder im Kreise seiner engsten Angehörigen und Freunde zu trauern. Es gehört auf der einen Seite zu den Eigenschaften der Menschen, dass sie aufgrund des erfahrenen Leides die Fassung verlieren können, dass aber auf der anderen Seite durch zu offensichtlichem Zeigen dieser Haltungen eine natürlich gegebene Schamsphäre verletzt wird und die Betroffenen ihr Gesicht verlieren.
Dieser stets auftretende Zielkonflikt zwischen Beachtung der menschlichen Intimsphäre und dem Interesse der Öffentlichkeit an der Berichterstattung kann nur dadurch befriedigend gelöst werden, dass sich die Darstellung der Katastrophen auf objektiv gegebene Tatsachen beschränkt und dass den Trauernden das Recht auf die Intimsphäre belassen wird.
Es geht hierbei weniger um die Frage, was dargestellt werden soll, sondern in welcher Form berichtet wird und welche Aspekte des aufgetretenen Leides hervorgehoben werden. Nur solche Aspekte sollten beleuchtet werden, welche unbedingt notwendig sind, um die oben erwähnten positiven Wirkungen (Spenden, Druck auf Machthaber) hervorzurufen.
So ist zunächst einmal zu unterscheiden, ob es sich bei den darzustellenden Ereignissen um Vorgänge handelt, welche einen Handlungsbedarf hervorrufen, so z. B. dann, wenn den von Naturkatastrophen Betroffenen nur durch großzügige Spenden geholfen werden kann oder wenn auf Machthaber Druck ausgeübt werden kann, ihre Haltung zu korrigieren.
Ein solcher Fall liegt nicht mehr vor, wenn z. B. über eine Geiselnahme oder eine Kindesmisshandlung berichtet wird und aufgezeigt wird, wie die Angehörigen von Schmerz und Wut übermannt werden. Weder ist es hier im Allgemeinen notwendig, dass die Bevölkerung zu Spenden bewegt wird noch kann irgendwie durch diese Berichterstattung positives bewirkt werden. Natürlich müssen diese Straftaten verfolgt werden und alles was zur Aufklärung beitragen kann, ist positiv zu beurteilen.
Eine zu ausführliche Berichterstattung läuft jedoch Gefahr, dass die Gemüter aufgepeitscht werden, dass zur Verschärfung der Gesetze aufgerufen wird auch dort, wo die bestehenden Gesetze voll ausreichen. Die Aufklärung wird auf diese Weise nicht verbessert, wohl aber werden durch diese verschärften Gesetze die Freiheitsrechte auch solcher Bürger, welche keine Straftat begangen haben, aber das Pech haben, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren und deshalb aus mehr oder weniger zufälligen Gründen strafrechtlich belangt werden, um ein weiteres reduziert.
Weiterhin ist zu befürchten, dass eine zu ausführliche Berichterstattung von Straftaten dazu beiträgt, dass weitere Straftaten begangen werden, entweder weil potentielle Straftäter durch eine zu ausführliche Berichterstattung darüber informiert werden, auf welchem Wege solche Vergehen möglich sind oder weil – wie vor allem bei terroristischen Akten – eine Art Wettbewerb zwischen den Tätern entsteht, um sich gegenüber anderen hervor zutun.
Um diese Zusammenhänge besser zu verstehen, muss man sich darüber klar werden, wie terroristische Akte im Allgemeinen geplant und ausgeführt werden. Den Terroristen geht es nicht primär darum, ganz bestimmte Personen zu töten, sondern vielmehr darum, an bestimmten Stellen, welche das öffentliche Interesse in besonderem Maße berühren, möglichst spektakuläre Taten zu vollbringen, um das öffentliche Interesse auf sich zu ziehen und damit in der Bevölkerung Angst zu verbreiten und die Politiker zu panischen Reaktionen zu veranlassen.
Hierzu zählt auch das Ziel, die Politiker zu Handlungen – wie z. B. Einschränkung der persönlichen Freiheiten aller Bürger – zu bewegen, welche eigentlich konträr zu den letztlichen Zielen aller freiheitlichen Demokratien liegen.
In dieser Hinsicht besteht nun die Gefahr, dass die Medien unbewusst und unabsichtlich zu Handlangern der Terroristen werden, da der eigentliche Zweck der Aktion eben nicht das Sterben zahlreicher unschuldiger Personen ist, sondern – wie bereits erwähnt – darin liegt, dass diese Aktionen bekannt werden und dass panische Furcht in der Bevölkerung hervorgerufen wird, dass die Politiker zu Taten veranlasst werden, aufgrund derer sich die Bevölkerung von den Regierungen abwendet und somit schließlich eine Destabilisierung in der gesamten westlich orientierten Welt eintritt.
Es wäre weiterhin wohl falsch zu unterstellen, dass hier eine hoch durchorganisierte zentralistische Organisation des Terrorismus besteht, dass alle Aktionen zentral geplant werden und dass die ausführenden Selbstmordattentäter reine Befehlsempfänger der Zentrale sind, welche jederzeit – auch kurz vor Ausführung der Tat – zurückgepfiffen werden können.
Natürlich ist es richtig, dass z. B. an der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan zentrale Strukturen der Al-Qaida bestehen, dass dort von zentraler Stelle in Lagern mögliche Attentäter in Kampftechniken ausgebildet werden und dass auch von dieser zentralen Stelle aus Appelle zu Selbstmordattentaten in die Welt ausgestrahlt werden. Gerade der in Syrien und vor allem im Irak entstandene IS-Staat ist zentral organisiert.
Die Durchführung dieser terroristischen Akte erfolgt jedoch zumeist durch ein loses Netz von zahlreichen zum Teil auch konkurrierenden örtlichen Einheiten, welche sehr wohl eigenständig darüber entscheiden, welche Aktionen, zu welchem Zeitraum und an welcher Stelle und von welchen Kämpfern durchgeführt werden.
In diesem Zusammenhange besteht nun die Gefahr, dass eine sehr ausführliche Berichterstattung vor allem in den Schlagzeilen dazu beiträgt, die Aktivitäten der terroristischen Kampfeinheiten zu verstärken. Die einzelnen Zellen erfahren von den Anschlägen anderer Zellen, sie sind neidisch auf dessen Erfolg und versuchen diese zu überbieten. Auf jeden Fall wirkt die Berichterstattung anreizend, dem Beispiel anderer zu folgen.
Diese Anreize bestehen übrigens auch dann, wenn in den Medien über Misserfolge terroristischer Aktionen berichtet wird. Solche Informationen tragen in der Regel keineswegs dazu bei, die Terroristen zu entmutigen und von der Erfolglosigkeit ihrer Aktivitäten zu überzeugen; ganz im Gegenteil stellt die Kenntnis missglückter Attentate einen zusätzlichen Anreiz, die eigenen Anstrengungen zu verstärken, wobei jede einzelne Zelle von der Überzeugung ausgeht, dass sie erfolgreicher sein werde als ihre Konkurrenten, dass ihr weniger gravierende Fehler unterlaufen werden.
Aus dieser Sicht muss man also befürchten, dass eine zu auffällige und zu ausführliche Berichterstattung den Umfang terroristischer Aktionen eher verstärkt und dass es aus Gemeinwohlüberlegungen heraus oftmals günstiger wäre, wenn über terroristische Akte nicht an vorderster Stelle berichtet würde und wenn sich die Berichte in den allgemeinen Medien auf wenige sachliche Hinweise beschränken würden. Damit würde der Nährboden für den Terrorismus zumindest etwas eingeschränkt.
6. Gesinnungsethik versus Verantwortungsethik
Oftmals handeln Politiker als Gesinnungsethiker, obwohl in dieser Situation eine Verantwortungsethik verlangt werden müsste. Entscheidend ist ihnen in diesem Falle ihre einwandfreie Gesinnung, sie fragen nicht danach, welche Wirkungen ihr Verhalten tatsächlich auslöst. Für sie zählt allein die richtige Gesinnung.
Diese Unterscheidung wurde von Max Weber eingeführt. Er spricht von Gesinnungsethik, wenn der Handelnde das, was er als das sittlich Richtige ansieht, unmittelbar durchführt, ohne nach den Folgen seines Handelns zu fragen. Er fragt auch nicht in einem ersten Schritt nach den Ursachen des festgestellten Übels, um dann in einem zweiten Schritt zu überprüfen, auf welchem Wege zweckmäßiger Weise dieses Übel beseitigt werden kann. Zustände, welche als unerwünscht angesehen werden, sind einfach zu verbieten.
Verantwortungsethik im Sinne Max Webers liegt hingegen dann vor, wenn zunächst nach den Ursachen eines unerwünschten Zustandes gefragt wird und wenn dann unter den möglichen Alternativen jene ausgewählt wird, welche den erwünschten Zustand von allen Alternativen am ehesten herbeiführt und welche auch die geringsten negativen Nebenwirkungen auf andere gesellschaftspolitische Ziele aufweist.
Diese Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik hängt eng zusammen mit der von Hans Freyer und Arnold Gehlen eingeführten Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärgesellschaften.
Zu den Primärgesellschaften werden kleine und deshalb überschaubare Gemeinschaften gezählt. Es bedarf keiner vorherigen Besinnung, welche Maßnahmen notwendig sind, um einen nicht erwünschten Zustand zu beseitigen. Es liegt auf der Hand, was getan werden muss, um die unerwünschten Zustände zu beseitigen.
Und dies ist vor allem deshalb so, weil wir hier in einer stationären und geschlossenen Gesellschaft leben, was in der Vergangenheit richtig war, ist auch heute und in Zukunft richtig. In einem langjährigen Anpassungsprozess hat sich erwiesen, was getan werden muss, um ein Übel zu beseitigen. Wir verfügen heute über wirkungsvolle Rezepte, die es einfach anzuwenden gilt. Die Familie, die Beziehung der Freunde untereinander, kleinere Gemeinden und bis zu einem gewissen Grad auch die mittelalterliche Gesellschaft zählen zu den Primärgesellschaften.
Ganz anderes gilt für die Sekundärgesellschaften. Sie sind groß und komplex und deshalb unübersichtlich. Sie sind offene Gesellschaften und dies bedeutet, dass sie immer wieder von neuen Menschen bestimmt werden und dass stets mit äußeren Einflüssen zu rechnen ist.
Die sekundäre Gesellschaft ist deshalb nicht stationär, sondern dynamisch, es ist stets mit Änderungen zu rechnen und aufgrund dieser Änderungen kann auch nicht mehr wie von selbst davon ausgegangen werden, dass das, was in der Vergangenheit richtig war, auch heute noch ohne weiteres richtig bleibt. Es muss stets überprüft werden, ob aufgrund anderer Umstände auch andere Regeln zu gelten haben.
Dies bedeutet nicht, dass jede Regel der Vergangenheit allein deshalb nun falsch ist, weil sie bereits in der Vergangenheit beachtet wurde. Werte werden nicht einfach deshalb falsch, weil sie nicht mehr der Mode entsprechen. Es muss vielmehr in jedem Einzelfall überprüft werden, ob diese Regeln auch heute noch Gültigkeit besitzen. Und dies bedeutet sehr wohl, dass ein Teil der bisher eingehaltenen Regeln nach wie vor Gültigkeit besitzt, es muss eben nur zuvor überprüft werden, ob dies tatsächlich der Fall ist, es ist also nicht mehr selbstverständlich.
Gerade weil sich die gesellschaftlichen Daten permanent verändern, sind darüber hinaus die zu erwartenden Ergebnisse nicht mehr absolut sicher. Man kann nun nur noch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die zur Diskussion stehenden Maßnahmen auch zu dem erwünschten Ergebnis führen.
Und dies bedeutet, dass auch dann, wenn die Politiker durchaus die effizienteste Maßnahme ergreifen, trotzdem das erwünschte Ergebnis im Einzelfall nicht eintreten wird. Und gerade deshalb kann man im Falle des Scheiterns auch nicht immer von einem Verschulden der Politiker sprechen. Der Misserfolg kann, muss aber nicht auf ein Verschulden der politisch Verantwortlichen zurückgeführt werden.
Die Komplexität der Sekundärgesellschaft bringt es weiterhin mit sich, dass die zur Diskussion stehenden Maßnahmen in den wenigsten Fällen allen Bürgern zugute kommen. Es gibt in Sekundärgesellschaften keine oder nahezu keine Maßnahmen, welche entweder allen Bürgern zugutekommen oder allen Bürgern schaden. Stets wird es Gewinner und Verlierer einer Maßnahme geben. Eine der Verantwortungsethik verpflichtete Politik muss also stets die teils positiven, teils negativen Auswirkungen gewichten und nach einem Kompromiss suchen, bei dem die Gewinne möglich groß und die Verluste möglich gering sind.
Die Komplexität unserer modernen Gesellschaft bringt es weiterhin mit sich, dass zumeist eine Lösung der anstehenden Probleme nicht mit einer Maßnahme allein erwartet werden kann, dass es vielmehr fast immer einer Vielzahl begleitender Maßnahmen bedarf, um eine einigermaßen befriedigende Lösung zu finden. So bedarf ein Gesetz zumeist auch Ausnahmen von der Regel.
Gleichzeitig gilt aber gerade aus diesen Gründen auch, dass eine an und für sich Gutes bewirkende Lösung nicht einfach deshalb abgelehnt werden kann, weil es Verlierer gibt. Dies ist nicht notwendig, da ja zumeist durch Festlegung von Ausnahmen der Schaden der potentiellen Verlierer verhindert oder zumindest gemildert werden kann. Und dies wäre auch nicht berechtigt, da stets die immer vorhandenen Vor- uns Nachteile gegeneinander aufgerechnet werden müssen. Man kann und darf nicht das Wohl der Allgemeinheit zugunsten des Wohles einiger Weniger opfern.
Trotz ihrer Komplexität ermöglichen Sekundärgesellschaften dennoch in aller Regel durchaus befriedigende Lösungen. Dies liegt daran, dass sich in dieser Gesellschaft Mechanismen entwickelt haben, welche automatisch gemeinwohlfördernde Lösungen herbeiführen, unabhängig davon, von welcher Gesinnung die Handelnden getragen werden.
Ein solcher automatisch wirkender Mechanismus ist z. B. der Wettbewerbsmarkt. Wenn die Unternehmer in Wettbewerb zueinander stehen, so kommt es ihrem Gewinn genau dann zugute, wenn sie die Produktion am Bedarf der Konsumenten ausrichten. Sie vergrößern ihren Gewinn gerade dann, wenn sie die Kosten senken und auf diese Weise Vorteile vor ihren Konkurrenten erreichen. Hier (das heißt, wenn Wettbewerb tatsächlich herrscht), schadet es nicht, wenn der Unternehmer seine Produktion an seinem Gewinn ausrichtet, der Wettbewerb sorgt dafür, dass der Unternehmer genau dann seinen Gewinn vergrößert, wenn er die Produktion am Bedarf der Kunden ausrichtet.
In gleicher Weise trägt auch der Wettbewerb der Politiker in einer repräsentativen Demokratie bei, dass genau die Politiker die Wahlen gewinnen, welche solche Lösungen in Aussicht stellen, die auch der Mehrheit der Wähler zugutekommen. Und dies bedeutet, dass es bei der Beurteilung wirtschaftlicher und politischer Maßnahmen nicht so sehr auf die Gesinnung, sondern allein auf die tatsächlich eintretenden Wirkungen ankommt.
Der Hinweis, dass der Politiker oder Unternehmer höchst persönliche Ziele verfolgt hat, reicht nun nicht mehr aus, die durchgeführten Maßnahmen abzulehnen. Es ist denkbar, dass eine politische Maßnahme primär aus egoistischen Zielen erfolgte und trotzdem das Allgemeinwohl gefördert hat. So bezweckte Bismarck z. B. mit der Einführung der Sozialversicherung die Stärkung des preußischen Königs und trotzdem kam diese Sozialgesetzgebung der damaligen Arbeitnehmerschaft zugute. Andererseits mag eine andere politische Maßnahme von sehr edlen Motiven getragen sein, sie kann ihr Ziel trotzdem verfehlen und kann in diesem Falle trotzdem nicht empfohlen werden.
Runden wir diese Überlegungen zur Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik dadurch ab, dass wir diese Unterscheidung gegenüber anderen, verwandten Begriffen abgrenzen.
Die Forderung nach Gesinnungsethik hebt keineswegs darauf ab, ob der Handelnde sein eigenes Wohl hintanstellt und trotzdem das Geforderte tut, obwohl er damit rechnen muss, sich selbst zu schaden.
Nehmen wir das Beispiel Luthers vor dem Reichstag in Worms, als er seine Thesen verteidigen musste und schließlich den oft zitierten Satz aussprach: ‚Hier stehe ich, ich kann nicht anders‘. Hier geht es nicht primär wie bei der Unterscheidung von Max Weber um die Wahrung des allgemeinen Wohls, sondern darum, dass man sich an das, was das Gewissen uns sagt, auch dann halten sollte, wenn diese Haltung zu persönlichem Schaden führen kann. Luther hat seinen Glauben auch dann nicht verraten, als eben dieser Glaube die Gefahr heraufbeschwor, dass er der Folter der kirchlichen Inquisitionsbehörde anheimfiel.
Mit Gesinnungsethik im Sinne von Max Weber ist weiterhin auch nicht die Meinung gemeint, welche im Neuen Testament angesprochen ist, wenn Jesus die Schriftgelehrten als Heuchler bezeichnet. So heißt es bei Matthäus (23,23): ‚Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue.
Und in Vers 28 Kapitel 23 des Matthäus-Evangeliums fährt Jesus fort: ‚So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Ungehorsam gegen Gottes Gesetz. (Mt 23,28).
Jesus ermahnt hier also die Juden, bei allen Gesetzen und Vorschriften stets auf den eigentlichen Sinn dieser Vorschriften zu achten. Es kommt danach primär auf die Gesinnung des Handelnden und nicht auf das äußere Opfer an. So erfahren wir z. B. bei Markus 12,41-44: ‚Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern.‘
Auch in diesem Zusammenhang kann man davon sprechen, dass Jesus eine Gesinnungsethik einfordert. Aber auch diese Art von Ethik ist nicht angesprochen, wenn wir mit Max Weber in den modernen, komplexen Gesellschaftssystemen anstelle einer Gesinnungsethik eine Verantwortungsethik einfordern. Die Gefahr, welche Max Weber sah, liegt nicht in einem heuchlerischen Verhalten, sondern darin, dass man sich die Auswirkungen der politischen Handlungen nicht bewusst wird.
Verantwortungsethik im Sinne von Max Weber hat aber auch nichts damit zu tun, dass man nun nach der Maxime, der Zweck heilige die Mittel, handelt. An und für sich ist dieser Ausspruch nicht wörtlich zu verstehen. In der traditionellen Auslegung dieses Satzes weicht man nämlich von dem üblichen Sinn dieser Worte ab. An und für sich gilt nämlich sehr wohl, dass ein Mittel eben kein Ziel darstellt, das es seine Berechtigung allein daraus ableitet, welche Ziele mit diesem Mittel angestrebt werden. In diesem Sinne wird ein Mittel stets durch die Ziele geheiligt, um derentwillen das Mittel eingesetzt wurde.
Aber gerade diese Beziehung ist nicht gemeint, wenn man davon spricht, dass hier der Zweck jedes Mittel heilige. Wir haben nämlich davon auszugehen, dass nahezu alle Maßnahmen, welche man als Mittel zur Erreichung eines Zieles einsetzt, nicht nur Einfluss auf die eigentlichen Ziele haben, sondern fast immer gleichzeitig andere Ziele negativ beeinflussen.
Selbstverständlich kann man nur dann von einer verantwortungsvollen Handlung sprechen, wenn vor einer Handlung alle Wirkungen der eingeschlagenen Maßnahme berücksichtigt werden und wenn nur dann zu einem Mittel gegriffen wird, wenn auch die negativen Wirkungen mit bewertet werden und wenn alle Wirkungen zusammen also per saldo einen Zuwachs an allgemeiner Wohlfahrt herbeiführen.
Ein Politiker handelt also dann, wenn er nach der üblichen Auslegung der Maxime, der Zweck heilige die Mittel, vorgeht, gerade nicht im Sinne einer Verantwortungsethik. Und eine solche Rechtfertigung ist vor allem deshalb so gefährlich, da ja – wie gezeigt – diesem Satz wortwörtlich genommen durchaus zugestimmt werden kann.
Wir sprachen oben davon, dass sich in den modernen Gesellschaftssystemen Mechanismen entwickelt haben, welche automatisch gemeinwohlfördernde Lösungen herbeiführen, unabhängig davon, von welcher Gesinnung die Handelnden getragen werden. Dies bedeutet natürlich keinen Freibrief für ungesetzliches Verhalten. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Wer die Gesetze übertritt, hat die im Gesetz vorgesehene Strafe zu erwarten, gleichgültig ob ein Bürger oder ein Politiker die Gesetze übertreten hat.
Unsere demokratische Ordnung kennt jedoch eine Gewaltenteilung. Die Verfolgung von Straftaten ist Aufgabe der Strafbehörden und der Gerichte und nicht der Exekutive oder Legislative. Der Hinweis darauf, dass es bei der Beurteilung der politischen Maßnahmen primär auf die zu erwartenden Wirkungen und nicht auf die Gesinnung ankommt, bezieht sich allein auf die Frage, wie die politischen Handlungen zu bewerten sind, etwaige strafbare Handlungen der Politiker unterliegen einer anderen Abteilung unseres Gemeinwesens.
Wenn es aber bei der Beurteilung politischer Maßnahmen gar nicht in erster Linie um die Frage geht, welche Gesinnung für diese Vorschläge den Ausschlag gegeben haben, sondern allein um die Frage, ob die erhofften Wirkungen auch tatsächlich eintreten, ist es auch nicht in Ordnung, wenn man die Gegner der eigenen Vorschläge dadurch bekämpft, dass man sie wegen ihrer Moral angreift, obwohl diese nur bezweifeln, ob die beabsichtigte Maßnahme geeignet ist, die beabsichtigten Ziele zu realisieren.
Auf die Gesinnung der einzelnen Diskutanten kommt es bei der Bewertung der einzelnen geplanten Maßnahmen gar nicht an. Auch sind in aller Regel Motive und Gesinnungen gar nicht erkennbar und damit eindeutig nachweisbar. Der Vorwurf einer amoralischen Gesinnung führt nur dazu, die politische Atmosphäre zu vergiften und den fast immer notwendigen Kompromiss zu erschweren. Also ist es sogar ausgesprochen moralisch fragwürdig dem Gegner Haltungen vorzuwerfen, die weder eindeutig bewiesen werden können, noch für die Beurteilung der anstehenden Pläne bekannt sein müssen.
Was nun entsprechend der Verantwortungsethik zu Handeln im Einzelnen bedeutet und worin die Unterschiede zu einer reinen Gesinnungsethik liegen, wollen wir im Folgenden anhand der vergangenen Diskussion um die Einführung eines allgemeinen und gleichen gesetzlichen Mindestlohnes diskutieren.
Der Gesinnungsethiker stellt fest, dass ein Teil der Arbeitnehmer noch nicht einmal das Lohneinkommen erwerben kann, das dem Existenzminimum entspricht. Er führt diesen Umstand auf die Schlechtigkeit der Arbeitgeber dieser Arbeitnehmer zurück und ist empört über diese Ungerechtigkeit. Eine weitergehende Ursachenerforschung hält er für nicht notwendig, für ihn kommt nur in Frage, dass man auf jeden Fall, gleichgültig auf welche Ursachen dieses Übel zurückzuführen ist, alle Arbeitgeber zwingen muss, mindestens einen vom Gesetzgeber verordneten Mindestlohn auszuzahlen.
Auch der Verantwortungsethiker hält die Tatsache, dass nicht alle Arbeitnehmer über ein Einkommen verfügen, das zumindest dem Existenzminimum entspricht, für ungerecht und auch er fühlt sich verpflichtet, alles Mögliche zu tun, um diese Ungerechtigkeit soweit wie möglich zu beseitigen.
Aber diese Zielsetzung steht gar nicht zur Diskussion, wenn über die Einführung eines gesetzlichen und allgemeinen Mindestlohn diskutiert wird. Wir haben eine Verfassung, das Grundgesetz, und Artikel 1 des Grundgesetzes stellt fest, dass die Menschenwürde unantastbar ist.
Es ist auch unbestritten, dass die Menschenwürde nur gewahrt werden kann, wenn jeder Bürger zumindest über Einkünfte in Höhe des Existenzminimums verfügt. Also erübrigt sich auch eine Diskussion darüber, ob es erwünscht und notwendig ist, dafür Sorge zu tragen, dass auch jeder Bürger über Einkünfte in dieser Mindesthöhe verfügt.
Allerdings ist mit dieser Verpflichtung keineswegs bereits der Weg vorgezeichnet, auf dem man dieses grundgesetzlich geschützte Recht politisch verwirklichen soll. Hier gilt die Regel, dass man in einem ersten Schritt nach den Ursachen zu forschen hat, welche diese unerwünschte Situation hervorgerufen haben und mit welchen Maßnahmen diese Ursachen behoben werden können. Und die einzelnen zur Diskussion stehenden Alternativen gilt es daraufhin zu überprüfen, welches Mittel die beste Eignung für das genannte Ziel aufweist und gleichzeitig die geringsten unerwünschten Nebenwirkungen auf andere, ebenfalls wichtige gesellschaftspolitische Ziele herbeiführt.
Im Rahmen dieser Ursachenerforschung erkennt man als erstes, dass das in einigen Branchen festzustellende zu geringe Lohnniveau auf zwei grundverschiedene Ursachen zurückgeführt werden muss. Unterschiedliche Ursachen verlangen aber auch unterschiedliche Lösungen.
Auf der einen Seite hängt diese Tatsache damit zusammen, dass auf einzelnen Arbeitsmärkten ein eindeutiges Nachfragemonopol vorherrscht, das den Unternehmungen die Möglichkeit einräumt, die Lohnsätze unter das Niveau des Existenzminimums zu drücken.
Zwar gilt die Tarifautonomie, wonach Lohnsätze in den Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden festzusetzen sind, auch für diese Branchen. In diesem Sinne sind auch alle Tariflöhne Mindestlöhne, nur eben keine Mindestlöhne, welche vom Staat erlassen und für alle Branchen in gleicher Höhe festgelegt sind.
In diesen Branchen ist jedoch der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer sehr gering und die in Tarifverhandlungen beschlossenen Lohnsätze sind zunächst nur für die organisierten Arbeitnehmer verpflichtend. Aufgrund dieses extrem geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrades finden oftmals überhaupt keine Tarifverhandlungen statt, sodass die Unternehmer die Lohnhöhe autonom festlegen können.
Diese erste Ursache für Lohnsätze, welche
unterhalb des Existenzminimums liegen, kann nur dadurch beseitigt werden, dass
Tarifverhandlungen staatlicherseits erzwungen werden können. Leonhard Miksch,
ein Schüler Walter Euckens, hatte in einem etwas anderen Zusammenhang die
Forderung erhoben, dass dann, wenn kein
Wettbewerb von selbst möglich sei, der Staat die Aufgabe habe, einen
‚Wettbewerb als ob‘ zu organisieren.
Analog
hierzu könnte man die Forderung erheben, dass überall dort, wo de facto keine
Tarifverhandlungen stattfinden, einer der Tarifpartner das Recht besitzt, eine
Tarifverhandlung zu erzwingen. Und wenn die Arbeitgeber diesen Tariflohn nur
den ganz wenigen Gewerkschaftsmitgliedern auszahlen, besteht auch nach geltendem
Recht bereits die Möglichkeit, dass wiederum einer der Tarifpartner vom
Arbeitsminister des jeweiligen Landes bzw. vom Bundesarbeitsminister verlangt,
den Tariflohn für allgemeinverbindlich (also für alle Arbeitnehmer dieses
Wirtschaftszweiges) zu erklären.
Natürlich
ist es bei einer solchen Lösung richtig, dass die auf diese Weise beschlossenen
Tariflöhne von einander abweichen können, dass also entgegen der Lösung eines
einheitlichen staatlich verordneten Mindestlohnes in den einzelnen Branchen
unterschiedliche Tariflöhne (Mindestlöhne) festgesetzt werden.
Diese Möglichkeit
unterschiedlicher Tariflohnsätze entspricht jedoch der bestehenden
Tarifordnung. Durch die Festsetzung der Tariflohnsätze wird nämlich nicht nur
das Problem der gerechten Einkommensverteilung entschieden. Von der Höhe des
Tariflohnes hängt immer gleichzeitig einmal der Beschäftigungsgrad, zum andern
die Kostenhöhe und damit indirekt auch die Versorgung der Bevölkerung mit
Konsumgütern ab.
Inwieweit aber das Ziel der Beschäftigung sowie das Ziel einer bestmöglichen Versorgung der Bevölkerung von der Lohnhöhe abhängt, ist von Branche zu Branche verschieden und gerade aus diesen Gründen sieht unsere Arbeitsmarktordnung keine Festsetzung der Löhne durch den Staat, sondern durch die Tarifpartner vor, welche viel besser als eine staatliche Behörde in der Lage ist, jeweils einen angemessenen Kompromiss zwischen diesen drei Zielsetzungen zu finden.
Die tatsächlichen Lohnsätze können jedoch noch aus einem ganz anderen Grunde unter das Niveau des Existenzminimums fallen. Diese zweite mögliche Ursache hängt eng damit zusammen, wie die in unserer Volkswirtschaft durch technischen Fortschritt hervorgerufenen Wohlfahrtssteigerungen auf die Bevölkerung verteilt werden. Findet in einer Unternehmung technischer Fortschritt statt und sinken deshalb die Stückkosten, so gibt es prinzipiell zweierlei Möglichkeiten, diese Wohlfahrtsgewinne an die privaten Haushalte weiterzugeben.
Die Unternehmer könnten die Verkaufspreise senken, sodass also die privaten Haushalte mit ihrem gegebenen Nominaleinkommen wegen verringerter Preise mehr Güter erwerben können. Es ist aber auch möglich, dass die Lohnsätze entsprechend der Produktivitätssteigerung angehoben werden, sodass die privaten Haushalte bei gleichbleibenden Preisen über ein höheres Nominaleinkommen verfügen.
De facto wird der zweite Weg beschritten, die Gewerkschaften erkämpfen in den periodisch stattfindenden Tarifverhandlungen eine Anpassung der Tariflöhne an den Produktivitätsfortschritt. Und genau diese Praxis führt nun im Hinblick auf die Einkommensstruktur zu Schwierigkeiten.
Wir müssen nämlich davon ausgehen, dass das Gros der Erfindungen in den einzelnen Branchen unterschiedlich hoch ist, es gibt Wachstumsbranchen mit sehr hohen Produktivitätssteigerungen und andere Branchen, in denen nahezu kein weiterer technischer Fortschritt möglich ist.
Aus verständlichen Gründen versuchen jedoch alle Gewerkschaften eine möglichst hohe Lohnsteigerung zu erkämpfen. Auch die Gewerkschaften in den Branchen, in denen kein technischer Fortschritt erzielt werden konnte, geben sich nun mit dem bisherigen Lohnniveau nicht zufrieden und versuchen eine Lohnsteigerung zu erkämpfen, welche den durchschnittlichen Lohnsteigerungen in den Wachstumsbranchen möglichst weitgehend entsprechen.
Gelingt dieser Versuch, geraten die Unternehmungen in große Schwierigkeiten. Während die Unternehmungen in den Wachstumsbranchen die Lohnkostensteigerungen mit den durch den technischen Fortschritt erreichten Kostensenkungen an anderer Stelle verrechnen können und somit die Stückkosten konstant bleiben, sehen sich die Unternehmer in den stagnierenden Branchen gezwungen, die Lohnkostensteigerungen auf den Preis abzuwälzen.
Dieser Versuch gelingt aber nur dann, wenn diese Unternehmer nicht gleichzeitig in Konkurrenz stehen mit ausländischen Unternehmungen, welche einen weit aus geringeren Lohn ihren Arbeitnehmern auszahlen. Gerade aus diesen Gründen sind diese inländischen Unternehmer bemüht, wo immer nur möglich den Lohn zu drücken.
In diesem Falle liegt also der eigentliche Grund für einen zu geringen Lohnsatz in dem Umstand, dass in bestimmten Branchen keine Produktivitätssteigerungen möglich sind und dass deshalb ohne Preissteigerungen auch keine Anpassung der Löhne an das generelle Lohnniveau möglich wird.
Will man in diesem Falle die Gewährung höherer Löhne erzwingen, hätte dies zur Folge, dass die Produktion im Inland wegen entstehender Verluste eingeschränkt werden müsste, die Nachfrage würde sich auf im Ausland produzierte Waren verlagern und die Folge wäre eine vermehrte Arbeitslosigkeit in diesen stagnierenden Sektoren.
In einer solchen Situation ist es schwierig, diese Ursachen zu beseitigen und damit auch eine Anpassung der Lohnsätze in diesen Branchen zu erreichen. Es gibt hier keine bestmögliche Lösung, man muss stets zu einer second best-Lösung greifen. Nun wird man davon ausgehen können, dass die im Grundgesetz geforderte Wahrung der Menschenwürde nicht vorschreibt, dass das volle Lohneinkommen vom Arbeitgeber zu zahlen sei.
Der Forderung nach einem Einkommen mindestens in Höhe des Existenzminimums wäre auch schon entsprochen, wenn sich das Gesamteinkommen eines Arbeitnehmers aus einem Lohnanteil, den der Arbeitgeber zahlt und einem weiteren Anteil, den der Staat zuschießt, zusammensetzen würde.
Man könnte diese Lösung durch die Einführung einer negativen Einkommenssteuer erreichen. Der Staat setzt die Höhe des Mindesteinkommens fest, die Steuerbehörde zahlt in den Fällen, in denen das vom Arbeitgeber gewährte Lohneinkommen unterhalb dieses Mindesteinkommens liegt, die Differenz hierzu als Subvention aus.
Eine solche Lösung würde auch die Diffamierung vermeiden, welche immer dann entsteht, wenn ein Individuum Sozialhilfe beantragen muss. Das Einkommenssteuerrecht gilt für alle Bürger, alle, reich wie arm, werden gleich behandelt. Und wenn alle Arbeitgeber verpflichtet werden, alle Lohnzahlungen dem Finanzamt mitzuteilen, was heute der Fall ist, könnte eine solche Regelung durchgeführt werden, ohne dass die Arbeitnehmer eine eigene Einkommenssteurerklärung abgeben müssten, um eine solche Lohnsubvention zu erhalten.
Man könnte sogar vorsehen, dass diese vom Staat gewährte Subvention die Arbeitgeber zusammen mit dem eigentlichen Lohneinkommen auszuzahlen haben, indem die staatliche Subvention von den Finanzämtern an die Arbeitgeber ausgezahlt würde.
Nun wird bisweilen eingewandt, dass die von den Kritikern eines staatlich einheitlichen Mindestlohnes befürchteten negativen Auswirkungen nach Einführung des Mindestlohnes nicht eingetreten seien und dass aus diesen Gründen diese Kritik widerlegt sei.
So einfach liegen die Verhältnisse jedoch nicht. Die befürchteten negativen Nebenwirkungen sind nämlich erst nach einem länger andauernden Anpassungsprozess zu erwarten. Es vergeht zunächst eine gewisse Zeit, bis die betroffenen Unternehmungen überhaupt eine Gewinnminderung aufgrund dieser Maßnahme feststellen.
Diese Zeit ist besonders lang, wenn die Einführung eines Mindestlohnes in eine Zeit von Nachfrageüberhängen fällt. Übersteigt nämlich die Nachfrage das Angebot, so können Unternehmer auch solche Preissteigerungen durchsetzen, welche unter normalen Bedingungen (bei einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage) zu einer Nachfrageminderung und damit Produktionseinschränkung sowie Entlassung von Arbeitnehmern führen würde.
Auch dann, wenn die ersten Gewinnrückgänge festgestellt werden, wird eine Anpassung noch nicht eingeleitet, da zunächst überprüft werden muss, ob diese Rückgänge nur vorübergehend eintreten oder von Dauer sind und auf die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes zurückzuführen sind. De facto schwanken die Gewinneinnahmen im Zeitablauf, sodass es nicht möglich ist, anhand konkreter Gewinnminderungen unmittelbar danach die langfristige Entwicklung abzuleiten.
Steht eines Tages fest, dass die Gewinne und Absatzmöglichkeiten auf Dauer zurückgegangen sind, beginnt eine längere Phase, in der nach möglichen Anpassungsmaßnahmen gesucht wird. Steht dann wiederum erst nach einer gewissen Zeit für eine Unternehmung fest, welche Änderungen zur Vermeidung zukünftiger Verluste vorgenommen werden sollen, folgt wiederum eine längere Phase, in welcher diese Änderungen vorbereitet werden müssen.
Es sind zeitraubende Investitionen notwendig, auch notwendig werdende Kündigungen können aufgrund der Kündigungsschutzgesetzgebung oder auch aufgrund von Vereinbarungen der Betriebsleitung mit dem Betriebsrat erst nach einiger Zeit ausgesprochen werden.
Wie sich die Einführung eines staatlichen und einheitlichen Mindestlohnes auf Konjunktur und Beschäftigung auswirken wird, kann also erst nach Ablauf einiger Jahre mit Sicherheit festgestellt werden. Es ist also nicht möglich, bereits einige Monate nach Einführung eines einheitlichen vom Staat festgesetzten Mindestlohnes die Wirksamkeit dieser Maßnahme zu beurteilen.