Sowohl von der SPD, von den Linken und den Grünen wird neuerdings vermehrt die Forderung erhoben, den gesetzlichen Mindestlohn deutlich zu erhöhen. Die Erfahrungen mit der bisherigen Regelung hätten gezeigt, dass sich die Befürchtungen der Gegner eines einheitlichen und gesetzlichen Mindestlohnes nicht bewahrheitet hätten, dass aber auf der anderen Seite der Mindestlohn nicht ausreiche, um zu verhindern, dass Arbeitnehmer wegen eines zu niedrigen Mindestlohnes in Armut fielen.
Gleichzeitig wird der Eindruck erweckt, dass es sich bei dieser Frage um ein moralisches Problem handle, die Befürworter einer solchen Regelung seien auf der moralisch guten Seite, die Gegner hingegen seien also die Bösen.
Diese Argumente zeichnen ein vollkommen falsches Bild der Situation. Es geht in der Diskussion gar nicht primär um die Frage, ob ein Mindestlohn notwendig und erwünscht sei. Einen Mindestlohn gab es auch schon vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes, jeder Tariflohn stellt einen Mindestlohn dar.
Die Gegner dieser Regelungen wenden sich nicht gegen die Forderung, dass es einen Mindestlohn geben müsse, sondern allein gegen einen gesetzlichen, für die gesamte Bundesrepublik einheitlichen Mindestlohn.
Das Grundgesetz garantiert die Tarifautonomie. Danach ist es Aufgabe der Tarifpartner, die Lohnsätze und die Arbeitsbedingungen in den Tarifverhandlungen festzulegen. Man geht hier von der Überzeugung aus, dass dann, wenn die Arbeitsbedingungen von den Beteiligten, also den Arbeitgebern und den Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmer festgelegt werden, weitaus bessere Ergebnisse erzielt werden als wenn die Arbeitsbedingungen einseitig von staatlichen Behörden festgelegt werden.
Schon der Umstand, dass Arbeitnehmervertreter die Ergebnisse zusammen mit den Arbeitgebern ausgehandelt haben, erhöht die Bereitschaft der Arbeitnehmer, die Ergebnisse zu akzeptieren.
Des Weiteren haben wir davon auszugehen, dass bei regionalen Verhandlungen die Verhandlungsführer sehr viel besser als staatliche Behörden Kenntnisse darüber haben, welche Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer angemessen sind.
Es ist stets davon auszugehen, dass gerade auch aus Sicht der Arbeitnehmer die Höhe der Lohnsätze und die Arbeitsbedingungen die eigenen Interessen unterschiedlich berühren. Auf der einen Seite sind die Arbeitnehmer an einem möglichst hohen Lohn interessiert, mit den Lohnsätzen steigt jedoch gleichzeitig die Gefahr, dass Umsatz und Beschäftigung gefährdet werden. Es liegt also im eigenen Interesse der Arbeitnehmer, diesen Konflikt so zu lösen, dass beide Ziele (Verteilungsgerechtigkeit und Beschäftigung) ausgewogen sind.
Schließlich muss auch bedacht werden, dass sich diese Konfliktsituation in einzelnen Branchen unterschiedlich darstellt, sodass eine einheitliche Regelung gar nicht in der Lage ist, eine für alle Arbeitnehmer optimale Lösung zu erzielen. Gerade bei einer einheitlichen Lösung besteht die Gefahr, dass in einzelnen Branchen ein geringerer Lohn festgelegt wird als es in diesen Branchen möglich wäre, während in anderen Branchen es im Interesse der Arbeitnehmer liegen würde, einen etwas geringeren Lohn zu akzeptieren, dafür aber eine höhere Beschäftigungssicherheit zu erreichen.
Auch gilt es zu bedenken, dass die Änderungen in den wirtschaftlichen Daten immer wieder eine Korrektur der festgelegten Arbeitsbedingungen notwendig machen und dass bei einer staatlichen Festlegung der Zeitraum, bis eine Anpassung möglich ist, in aller Regel wesentlich länger ist.
Nun wird man natürlich einräumen müssen, dass Tarifverträge zunächst einmal nur für Arbeitnehmer rechtlich gültig sind, welche der Gewerkschaft angehören. Es muss deshalb damit gerechnet werden, dass die von den Gewerkschaften erkämpften Vorteile den nicht in Gewerkschaften organisierten
Arbeitnehmern nicht zugute kommen.
Allerdings ist diese Gefahr in der Realität gering, da beide Tarifpartner bei dem Bundesarbeitsminister bzw. bei den Landesarbeitsministern den Antrag stellen können, den Tarifvertrag allgemeinverbindlich zu erklären, mit der Folge, dass in diesem Falle auch die nichtorganisierten Arbeitnehmer in den Genuss der mit den Arbeitgebern ausgehandelten Arbeitsbedingungen kommen.
Ganz davon abgesehen gewähren Arbeitgeber sehr oft die in den Tarifverträgen vereinbarten Lohnsätze auch den nichtorganisierten Beschäftigten, nicht etwa aus einer caritativen Regung heraus, sondern aufgrund der Ansicht, dass die Arbeitnehmer, welche von den Tariflöhnen ausgeschlossen werden, vermehrt in die Gewerkschaft eintreten und dadurch die Startchancen der Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen verschlechtern.
Aber es gibt in der Realität auch Branchen und Regionen, in denen so wenig Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind, dass überhaupt kein Tarifvertrag zustande kommt. Aber auch in diesen Fällen ist ein vom Staat verordneter einheitlicher Mindestlohn die schlechtere Alternative.
Leonhard Miksch, ein Schüler Walter Euckens, hat einmal den Vorschlag gemacht, dass dort, wo aus natürlichen Gründen kein Wettbewerb möglich ist, der Staat einen Wettbewerb organisieren müsse. In Analogie hierzu könnte man auch vorsehen, dass überall dort, wo – aus welchen Gründen auch immer – keine Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber zustande kommen, der Staat eine solche Tarifverhandlung herbeiführen müsse, also z. B. über einen vom Staat eingesetzten Schlichter Arbeitnehmervertreter sowie Arbeitgeber zu Tarifverhandlungen führen müsse.
Zwar würde hier der Staat auf die Tarifparteien Zwang ausüben, indem er eine Verhandlung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern erzwingt, nach wie vor würden jedoch die Arbeitnehmer bei der Aushandlung eines Kompromisses beteiligt und nach wie vor würden die Unterschiede in den einzelnen Tarifbereichen angemessen berücksichtigt.
Ein solcher Zwang ist sicherlich nur als Ultima Ratio zu rechtfertigen. Langfristig ist es erwünscht, nach den Ursachen zu forschen, welche dahin geführt haben, dass die Tarifverhandlungen ihre Bedeutung eingebüßt haben.
Die Gewerkschaften hatten in der Vergangenheit den Mitgliederschwund vor allem dadurch zu überwinden versucht, dass sie sich in größere Gewerkschaften zusammenschlossen und dadurch die Zahl der Gewerkschaften reduzierten. Der Erfolg blieb jedoch aus, da bei immer größer werdenden Gewerkschaften das einzelne Gewerkschaftsmitglied feststellen muss, dass die Gewerkschaften vorwiegend für jeweils andere Arbeitnehmergruppen aktiv sind.
Olson hatte demgegenüber vorgeschlagen, dass die Gewerkschaften neben dem Erkämpfen von Kollektivleistungen ihren einzelnen Mitgliedern vermehrt Einzelleistungen erbringen sollten. Bei Kollektivleistungen besteht stets die Gefahr, dass einzelne Arbeitnehmer als Trittbrettfahrer auftreten. Sie nehmen die Leistungen, welche von den Gewerkschaften erkämpft wurden, in Anspruch, ohne als Gewerkschaftsmitglied in Form von Mitgliedsbeiträgen die für diese Leistung entstandenen Kosten mit zu tragen.