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Macht, Machtmissbrauch und Machtkontrolle (3)

 

 

Gliederung:

 

0. Die Entstehung von Macht

1. Das Machtmonopol des Staates

2. Gewaltenteilung u. die Bedeutung der Opposition

3. Vollständige Konkurrenz und countervailing powers

4. Die Glaubensfreiheit

5. Die Pressefreiheit

6. Streik und Aussperrung

7. Die Macht im Betrieb

8. Die Macht in der Familie

9. Informelle Macht

 

 

4. Die Glaubensfreiheit

 

Auch in den kulturellen Subsystemen unserer Gesellschaft besteht das Problem des Machtmissbrauches. Das gilt sowohl für die wissenschaftlichen als auch für die erzieherischen, sogar für die religiösen Systeme.

 

Die Macht des Wissenschaftlers beruht im Wesentlichen im Wissensvorsprung, den der Wissenschaftler vor dem Laien hat. Auch der Laie bemüht sich in aller Regel um die Erklärung der Phänomene, denen er alltäglich begegnet, auch er bemüht sich wie der Wissenschaftler dadurch Wissen zu erlangen, dass er mit seinen Sinnen Beobachtungen macht und aus diesen Beobachtungen mit Hilfe seines Verstandes Schlussfolgerungen zieht.

 

Er unterscheidet sich vom Wissenschaftler jedoch wesentlich darin, dass der Wissenschaftler systematisch vorgeht und Vorkehrungen trifft, um Sinnestäuschungen soweit wie nur möglich zu vermeiden und um stets das in Jahrtausenden von Abertausenden Wissenschaftlern vor ihm entdeckte Wissen bei seinen Hypothesen und Beweisführungen heranzuziehen, während sich der Laie im Allgemeinen nur auf das Wissen stützt, das er selbst eruiert hat.

 

Die Beweisführungen in den Wissenschaften sind zumeist nur für denjenigen nachzuvollziehen, welcher in den einschlägigen Wissensdisziplinen eigens ausgebildet ist. Der Umstand, dass sich die exakten Wissenschaften oftmals lateinischer oder griechischer Fachausdrücke bedienen, sowie der weitere Umstand, dass die Beweisführungen oftmals mit mathematischen Gleichungen geführt werden, erschwert es im Allgemeinen einem Laien, der Beweisführung zu folgen.

 

Der Machtmissbrauch eines Wissenschaftlers beruht vor allem darin, dass Wissenschaftler immer wieder der Versuchung unterliegen, ihre eigenen Werturteile als wissenschaftliche Erkenntnis auszugeben. Zumindest für die empirischen Wissenschaften gilt das von Max Weber aufgestellte Postulat der Werturteilsfreiheit. Danach kann der Wissenschaftler nur Faktenzusammenhänge, nicht aber Werturteile wissenschaftlich einwandfrei nachweisen. Wie schon Jeremy Bentham vor Max Weber richtig erkannt hatte, lassen sich Werturteile nicht allein aus Annahmen über die Fakten ableiten, jede normative Schlussfolgerung muss mindestens in ihren Annahmen von einem Werturteil ausgehen, das sich selbst wiederum einer wissenschaftlichen Beweisführung entzieht.

 

Die alleinige Aufgabe des Wissenschaftlers besteht somit in der Vermittlung von Sachwissen und in dieser Frage verfügt der Wissenschaftler zumindest dann, wenn er sich an die allgemeinen Spielregeln wissenschaftlichen Arbeitens hält, gegenüber dem Laien eine eindeutige Sachkompetenz. Das so von der Wissenschaft aufgedeckte Wissen ist also für alle, auch für die Laien gültig.

 

Negativ formuliert ist es also nicht die Aufgabe des Wissenschaftlers, für Werturteile zu werben und es ist ein Missbrauch der Wissenschaft, wenn ein Wissenschaftler in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, dass sich die von ihm propagierten Werturteile wissenschaftlich einwandfrei und deshalb für alle verbindlich beweisen ließen.

 

Dieses Postulat der Werturteilsfreiheit verlangt nicht, dass der Wissenschaftler darauf verzichten sollte, sich an der politischen Diskussion über die anzustrebenden obersten Ziele zu beteiligen. Der Wissenschaftler hat wie jeder Bürger das Recht, sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen und sich für die Erhaltung bestimmter Werte öffentlich einzusetzen.

 

Es ist allein zu fordern, dass die wertenden Äußerungen eines Wissenschaftlers genauso bewertet werden wie die Äußerungen aller anderer Bürger, nicht mehr aber auch nicht weniger. Soweit sich ein Wissenschaftler zu politischen Werten  äußert, stellt dies seine persönliche Meinung dar. Während bei Äußerungen über empirische Zusammenhänge davon ausgegangen werden kann, dass dieses Wissen für alle gilt, sind Äußerungen über politische Werte immer nur persönliche Überzeugungen eines Wissenschaftlers.

 

Kritisch wird bisweilen die Frage diskutiert, inwieweit die in der Wissenschaft übliche Bildung von Schulen die Wissenschaft fördert oder zu missbräuchlichem Verhalten führt. So hat z. B. in Deutschland die Bildung der historischen Schule im Rahmen der Wirtschaftswissenschaften dazu geführt, dass in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts fast alle wichtigen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle in Deutschland fest in den Händen dieser Schule lagen.

 

Da diese Gruppe die Bildung von Theorien im Sinne allgemein gültiger Gesetze mehrheitlich ablehnte und der Auffassung war, dass sich menschliches Verhalten niemals im Sinne der Naturwissenschaften erklären lasse, sondern nur im Nachhinein verstanden werden könne, stand die deutsche Wirtschaftswissenschaft gegenüber den Problemen einer Inflation Anfang der 20er Jahre, weiterhin der Depression Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts sowie der Reparationsforderungen der Alliierten vollkommen hilflos gegenüber und war nicht in der Lage, darzulegen, wie die Politik diese Probleme lösen kann. Dieses Beispiel zeigt, dass Schulenbildung durchaus zu gravierenden Missbräuchen und Mängeln führen kann.

 

Allerdings kann man auch nicht davon sprechen, dass Schulenbildung stets zu missbräuchlichem Verhalten führt. Im Grunde genommen findet der wissenschaftliche Fortschritt vor allem innerhalb der einzelnen wissenschaftlichen Schulen statt. Diskussionen sind im Allgemeinen sehr viel fruchtbarer und fördern deshalb den wissenschaftlichen Fortschritt sehr viel mehr, wenn die Diskutanten über die letztlichen (wissenschaftlichen) Grundwerte einig sind und Meinungsverschiedenheiten zu Beginn einer Diskussion vorwiegend nur in sachlichen Fragen bestehen. Wer von ganz anderen Grundwerten ausgeht, wendet auch zumeist eine andere Sprache an, er versteht seinen Gegner gar nicht richtig. In aller Regel ist auch die Bereitschaft, Grundwerte aufzugeben, sehr gering. Es besteht leicht die Gefahr, dass eine Diskussion dann, wenn zwischen den Diskutanten tiefe Meinungsverschiedenheiten über Grundwerte bestehen, in Polemik ausartet.

 

Historisch gesehen fanden deshalb auch relativ wenig Diskussionen zwischen Vertretern unterschiedlicher wissenschaftlicher Schulen statt. Berühmt geworden war der öffentliche Disput zwischen Gustav Schmoller, dem Haupt der jüngeren historischen Schule und Carl Menger, als Vertreter einer theoretischen Position. Sie führte jedoch weder die historische Schule noch die Wirtschaftstheoretiker zu wesentlich neuen Erkenntnissen.

 

Weder sahen sich die Wirtschaftstheoretiker lange Zeit veranlasst, innerhalb der wirtschaftstheoretischen Modelle institutionelle Faktoren zu berücksichtigen, was sicherlich ein Gewinn gewesen wäre, noch waren die Vertreter der historischen Schule bereit, die Bedeutung allgemeiner Theorien anzuerkennen, was ja dann auch dazu geführt hatte, dass noch nicht einmal das bisherige Wissen über die Ursachen von Inflation und Depression in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zur Problemlösung in Deutschland herangezogen wurde.

 

Wenden wir uns nun den Missbrauchsmöglichkeiten im religiösen Bereich zu. Die eigentliche Aufgabe der religiösen und allgemeinen weltanschaulichen Systeme besteht in der Erhaltung der kulturellen Werte und in dem Bemühen, in der Anwendung dieser Grundmaximen jeweils die Veränderungen in der realen Welt mitzuberücksichtigen. Andere Umstände erfordern in aller Regel auch eine Änderung der konkreten Maßnahmen, gerade bei einem krampfhaften Festhalten der bisherigen Anwendungen besteht die Gefahr, dass der eigentliche Sinn einer Grundmaxime verloren geht.

 

Nehmen wir als Beispiel die im Alten Testament zweimal von Gott erteilte Weisung: „Wachset und mehret euch“. In der konkreten Situation entsprach sie einer sehr sinnvollen und verständlichen Weisung. Dieses Gebot wurde einmal im Schöpfungsbericht der Bibel, zum andern nach der Sündflut verkündet, also zu einer Zeit, in welcher die Erde menschenleer war und es deshalb erwünscht, ja sogar geboten war, dass sich die Menschen vermehrten und die Erde besiedelten.

 

Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, wenn man diese Grundmaxime, welche von Gott sicherlich für alle Zeiten erlassen wurde, heute in Zeiten einer weltweit überfüllten Erde wortwörtlich so auslegen wollte, dass jeder aufgefordert sei, die Menschheit weiter zu vermehren, je mehr um so besser. In Zeiten der Überbevölkerung entspricht es im Gegenteil gerade dem eigentlich tieferen Sinn dieser Maxime, dass die Menschen sich darum bemühen sollen, das Wachstum der Bevölkerung auf die vorhandenen natürlichen Ressourcen zu begrenzen.

 

Im Grunde will diese Weisung als allgemein gültige Maxime die Menschen auffordern, ein vernünftiges Verhältnis zwischen dem vorhandenen Vorrat an natürlichen Ressourcen und der Zahl der Menschen, die mit diesen begrenzten Vorräten ernährt werden müssen, einzuhalten.

 

Im Hinblick auf die Vermehrung der Menschen gibt es ein Zuviel und ein Zuwenig. Werden zu wenig Menschen geboren, ist es äußerst schwierig, dass die Jüngeren erwerbstätigen Menschen die älteren nicht mehr erwerbsfähigen Menschen miternähren. Werden zu viel Menschen geboren, entstehen Hungersnöte und Kriege um die knappen natürlichen Ressourcen. In beiden Fällen wäre der Sinn dieser Maxime, nämlich ein vernünftiges Verhältnis zwischen der Anzahl der Weltbevölkerung und dem Nahrungsspielraum anzusteuern, verfehlt.

 

Dieses Beispiel zeigt, dass nur dann der eigentliche Sinn der Grundmaxime erreicht wird, wenn bei der Anwendung dieser Grundsätze jeweils die näheren, gerade vorliegenden Umstände berücksichtigt werden. Gerade ein stures Festhalten am Wortlaut einer Maxime kann dazu führen, dass der eigentliche Sinn der Maxime verfehlt wird.

 

Man könnte zunächst von der Vorstellung ausgehen, dass die Gefahr eines Machtmissbrauches zumindest bei den religiösen Weltanschauungen geringer als innerhalb der politischen und wirtschaftlichen Gesellschaftssysteme sei, da man davon ausgehen könne, dass sich für die Führungsämter in diesen Gesellschaftssystemen nur diejenigen um ein Amt bemühen, welche im Gegensatz zu den Führungskräften aller anderen weltlichen Gesellschaftssystemen auch gar keine irdischen Ziele verfolgen. Zu einem Priesteramt würden sich also nur solche Personen melden, welche von vornherein auch moralisch hoch qualifiziert seien.

 

Aber auch hier zeigt die geschichtliche Entwicklung eindeutig, dass auch in diesen Gesellschaftssystemen wie in allen anderen Bereichen in hohem Maße Machtmissbrauch betrieben wurde. Nehmen wir das Beispiel des Borgiapapstes Alexander VI, welchem kaum ein Verbrechen unbekannt war, der kaum ein Leben führte, wie es Jesus  vorgelebt hatte. So bestach er z. B. Kardinäle, um ihn zum Papst zu wählen, er erging sich in sexuellen Lustbarkeiten, er war nicht bereit, wie es eigentlich das christliche Glaubensbekenntnis lehrt, sündigen Menschen dann zu verzeihen, wenn sie zur Umkehr bereit waren.

 

Auch das  Verhalten der Inquisition, welche durch grausame, kaum zu überbietende Folter falsche Geständnisse erzwang und ihre Opfer zur Strafe verbrennen ließ, auch wenn sie ihre Sünden bereuten, ist ein Beispiel für Machtmissbrauch in höchster Form.

 

Ein sicherlich wichtiger Grund dafür, dass sich Machtmissbrauch größten Umfanges auch in religiösen Gesellschaftssystemen findet, liegt sicherlich darin, dass auch bei der Auswahl zum Priester Sachkompetenz verlangt wird, Priester kann nur der werden, der ein theologisches Examen abgeschlossen hat, dass es auch kaum möglich ist, zu überprüfen, inwieweit ein Kandidat zur Priesterweihe tatsächlich gerade die Tugenden aufweist, welche von einem geistigen Führer eigentlich verlangt werden. Schließlich stehen auch in den höheren Führungsebenen der religiösen Systeme zahlreiche Aufgaben an, welche weltlichen Problemen gewidmet sind und welche gerade deshalb genauso zum Machtmissbrauch verleiten, wie dies in den weltlich ausgerichteten Gesellschaftssystemen der Fall ist.

 

Nun geht die katholische Lehre allerdings davon aus, dass eine Papstwahl durch den Heiligen Geist, also von Gott selbst inspiriert wird und dass aus diesem Grunde eigentlich die Gewähr dafür gegeben sei, dass nur moralisch hochstehende Persönlichkeiten zum Papst gewählt werden könnten. Schließlich könne Gott im Gegensatz zu Menschen in die Seele der einzelnen Individuen schauen und Gott wird weiterhin unterstellt, dass er allwissend ist, also genau weiß, welcher der zur Papstwahl stehenden Kardinäle die besten Voraussetzungen für dieses Amt aufweise und der auch allmächtig ist, um sicherzustellen, dass auch dieser Kandidat tatsächlich gewählt wird.

 

Nun dürfen wir uns den Einfluss des Heiligen Geistes bei der Papstwahl keinesfalls so vorstellen, dass die Kardinäle bei ihrer Wahl nur noch willenloses Sprachrohr des Heiligen Geistes darstellen, sodass der Wahlzettel eigentlich gar nicht vom wählenden Kardinal, sondern vom Heiligen Geist selbst ausgefüllt werde. Eine solche falsche Interpretation vom Wirken des Heiligen Geistes bei der Papstwahl müsste ja notwendiger Weise dazu führen, dass immer nur ein Wahlgang notwendig wäre und dass der Papst jeweils einstimmig gewählt würde. Dem ist jedoch keinesfalls so und dies bedeutet notwendiger Weise, dass hier das Wirken des Heiligen Geistes bei der Papstwahl falsch interpretiert wird. Für die Wahl eines Papstes waren zumeist mehrere Wahlgänge notwendig und wohl kaum wurde der Papst bei einer Wahl einstimmig gewählt.

 

In Wirklichkeit müssen wir davon ausgehen, dass das Wirken des Heiligen Geistes in allen Fällen – und damit auch bei der Papstwahl – auf indirekte Weise erfolgt. Der Heilige Geist wirkt über das Gewissen der Menschen  und versucht die einzelnen Individuen – also die Kardinäle bei der Papstwahl - zu ermahnen. Stets sind es jedoch die Kardinäle, welche ihre Stimme als selbstständige Wesen abgeben und Kardinäle sind wie alle Menschen unvollkommene Wesen in jeder Hinsicht. Sie können die Belehrungen des Heiligen Geistes missverstehen und falsch deuten, sie können sogar trotz des Wirkens des Heiligen Geistes diese Belehrungen bewusst außer Acht lassen und aus Eigeninteresse einen nicht geeigneten Kandidaten auswählen.

 

Wir können also davon ausgehen, dass Machtmissbrauch größeren Umfangs auch in weltanschaulichen Systemen stattfindet, diese Gefahr teilen die kulturellen Systeme mit allen anderen großen Gesellschaftssystemen. Trotzdem ergeben sich beachtliche Unterschiede zwischen den kulturellen und den sonstigen Gesellschaftssystemen. Der Umstand, dass im Rahmen der religiösen Systeme die geltenden Gebote von Gott selbst erlassen wurden und dass davon ausgegangen wird, Gott könne sehr viel besser als alle Menschen die Untaten der Menschen erkennen und er werde diese Untaten am Ende der Zeiten im Weltgericht bestrafen, verleiht den geistlichen Führern eine besonders große Macht.

 

Dass es sich hierbei um metaphysische Probleme handelt, welche sich hier auf Erden mit Hilfe der Sinne und des Verstandes überhaupt nicht beweisen lassen, verleiht zunächst den geistlichen Machthabern sogar einen enormen Machtzuwachs. Zwar kann niemand beweisen, dass es einen gerechten und allwissenden Gott überhaupt gibt und dass diese Bestrafungen im Endgericht tatsächlich stattfinden.

 

Aber genauso kann eben auch nicht eindeutig widerlegt werden, dass es einen Gott und ein solches Endgericht gibt. Gerade diese Unsicherheit über diese zu erwartenden Ereignisse gibt zusammen mit der Schwere der angedrohten Strafen den religiösen Führern eine besonders große Macht und dementsprechend ist auch die Versuchung, diese Macht zu missbrauchen, hier besonders groß.

 

Auf welchem Wege kann nun dieser Machtmissbrauch in religiösen Systemen verhindert bzw. zumindest eingedämmt werden? Hier wären insbesondere drei Einrichtungen zu nennen: die strikte Trennung zwischen Kirche und Staat, die unbedingte Religionsfreiheit sowie eine dezentrale Führungsstruktur innerhalb der Kirche.

 

Die erste Forderung nach einer strikten Trennung von Kirche und Staat setzte sich im christlichen Europa nur allmählich durch. Im Mittelalter unternahmen sowohl die deutschen Kaiser wie auch die Päpste wiederholt den Versuch, die Oberherrschaft über Staat und Kirche zu erlangen, die Päpste verstanden sich nicht nur als Oberhaupt der Kirche mit dem Recht, die Bischöfe in den einzelnen Ländern zu ernennen und über die Einhaltung der christlichen Gebote zu wachen, sondern sie verstanden sich gleichzeitig auch als Stellvertreter Gottes hier auf Erden, welche darüber zu befinden haben, wer zum Kaiser gewählt wird. Und viele Päpste verstanden die weltliche Macht als Vollzieher ihrer kirchlichen Entscheidungen.

 

Umgekehrt waren aber auch die Kaiser und Könige bemüht, in ihren Ländern die Bischöfe selbst zu wählen und Päpste, welche den Kaisern als unangenehm erschienen, kurzer Hand abzusetzen. Den Höhepunkt erreichte dieser Investiturstreit, als sich Kaiser Heinrich IV. veranlasst sah, in Canossa sich Papst Gregor VII zu unterwerfen. Es gab dann auch Kaiser, wie z. B. Karl V., welche sich zur Aufgabe setzten, nach der Kirchenspaltung durch Luther die einzelnen deutschen Staaten wiederum für den Katholizismus zurückzugewinnen. Eine strikte Trennung von Kirche und Staat wurde dann erst in der Neuzeit, so vor allem durch Napoleon weitgehend realisiert.

 

In den vom Islam geprägten Staaten finden wir auch heute noch eine Einheit von Religion und Staat, wobei der oberste Führer der Geistlichkeit – in ähnlicher Weise wie im Kommunismus der Parteiführer – letztendlich auch im Staate die Obermacht innehat, letztendlich über die Gesetzgebung wacht und nach religiösem Recht (der Scharia) richtet bzw. richten lässt.

 

Die Forderung nach strikter Trennung zwischen Kirche und Staat lässt sich ähnlich begründen wie die von Locke und Montesquieu propagierte Forderung nach Gewaltenteilung im Rahmen des politischen Gesellschaftssystems. Genauso wie dort die Macht der einzelnen Gewalten (Exekutive, Legislative wie Jurisdiktion) dadurch begrenzt werden soll, dass keine dieser Mächte in die Entscheidungen der jeweils anderen Mächte eingreifen darf, genauso soll auch im Zusammenhang mit der Forderung nach strikter Trennung von Staat und Kirche keine dieser beiden Gewalten das Geschehen in den jeweils anderen Bereichen bestimmen dürfen.

 

Nur auf diesem Wege erscheint es möglich zu sein, größeren Machtmissbrauch von Kirche und Staat zu verhindern. Der Staat würde einen enormen Machtzuwachs dadurch erhalten, dass er auch über die Einhaltung der religiösen Bestimmungen wacht, genauso wie auch die Kirchenbehörden unbegrenzt ihre Macht ausdehnen könnten, wenn sie jeweils mit staatlicher Polizeigewalt die einzelnen Untergebenen zur Einhaltung der kirchlichen Vorschriften zwingen könnten.

 

Genauso wie die Forderung nach Gewaltenteilung im staatlichen Gesellschaftssystem erwächst auch die Forderung nach strikter Trennung von Staat und Kirche aus der Befürchtung, dass die Gefahr missbräuchlicher Anwendung der jeweiligen Macht notwendiger Weise in dem Maße ansteigt, wie die Machtfülle zunimmt. Rührt im politischen Bereich die Gefahr des Machtmissbrauches aus dem staatlichen Gewaltmonopol her, so lässt sich die Missbrauchsgefahr in religiösen Systemen daraus ableiten, dass die Religion letztendlich den Sinn des Lebens bestimmt und mit unendlichen Strafen im Weltgericht am Ende der Zeiten drohen kann.

 

Eng zusammen mit der Forderung nach strikter Trennung von Kirche und Staat steht die zweitgenannte Forderung nach absoluter Religionsfreiheit. Auch diese Forderung hat sich im christlich geprägten Europa erst in der Neuzeit durchgesetzt. Genauso wie im römischen Reich die Christen bis zu Konstantin dem  Großen, vor allem unter Nero blutig verfolgt wurden, wurden dann unter Karl dem Großen die Sachsen unter Androhung des Todes gezwungen, ihrem heidnischen Glauben abzuschwören und Christen zu werden und wer dieser Aufforderung nicht folgte, wurde erschlagen.

 

Vor allem die Inquisition verfolgte nicht nur Ketzer, sondern erpresste unter Folter Geständnisse und ließ Tausende wegen gewisser Äußerungen oder Handlungen verbrennen. In der Zwischenzeit erkennt auch die katholische Kirche die Religionsfreiheit ex pressis verbis an, so wird im letzten vatikanischen Konzil eigens betont, dass jeder seinem Gewissen folgen darf und muss. Es wurde so erkannt, dass nur bei einer allgemein akzeptierten Freiheit jeder Einzelne die Möglichkeit hat, seinem Gewissen zu folgen und sich zu dem rechten Glauben frei zu bekennen. Und dass sich die einzelnen Menschen freiwillig zum Glauben bekennen, ist die eigentliche christliche Forderung an die Menschen.

 

Man sollte sich auch darüber klar sein, dass die Bibel stets die Freiheit des Menschen betont hat. Im Schöpfungsbericht des Alten Testamentes erfahren wir, dass Gott die Menschen als sein Ebenbild erschaffen hat und dies bedeutet in erster Linie, dass Gott den Menschen als freies Wesen erschaffen hat. Gott will zwar, dass wir seinen Geboten folgen, er will jedoch nicht, dass die Menschen mit Waffengewalt zum Glauben gezwungen werden, sondern dass sich jeder Einzelne aus freien Stücken zum richtigen Glauben bekennt.

 

Im Neuen Testament erfahren wir dann, dass Jesus auch dort, wo Gesetzesübertretungen entsprechend der von Moses erlassenen Vorschriften mit dem Tode bestraft werden sollten, dem einzelnen Sünder die Möglichkeit einräumte, seine Tat zu bereuen und umzukehren. So sieht das Mosaische Gesetz z. B. vor, dass eine Ehebrecherin, welche auf frischer Tat ertappt wurde, sofort zu steinigen sei. Als jedoch die Schriftgelehrten eine frisch ertappte Ehebrecherin zu Jesus brachten und ihn frugen, wie denn seiner Meinung nach mit dieser Frau zu verfahren sei, ließ Jesus die Frau gehen und ermahnte sie lediglich, umzukehren und nicht mehr zu sündigen.

 

Die strikte Gewährung der Religionsfreiheit allein ist ein Garant dafür, dass sich jeder nach seinem Gewissen entscheiden kann. Auch dann, wenn sich ein Einzelner für ein anderes Glaubensbekenntnis entscheidet als dem, das unserer Meinung nach das einzig richtige ist, ist durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen, dass sich der Einzelne zumeist auch ehrlich darum bemüht hat, den richtigen Glauben zu finden.

 

Eine generelle Religionsfreiheit trägt vor allem dazu bei, den möglichen Machtmissbrauch einzudämmen, mit dem immer dann zu rechnen ist, wenn nur eine Religion als die einzig wahre anerkannt wird und wenn den Glaubenshütern das Recht eingeräumt wird, jeden – eventuell sogar mit dem Tode – zu bestrafen, der aufgrund seiner eigenen Gewissensfreiheit meint, einem anderen Glauben folgen zu müssen. Es ist das Eine, einen bestimmten Glauben nach eigener Gewissensprüfung für den richtigen zu halten und auch für diesen Glauben öffentlich einzutreten und es ist etwas ganz Anderes, jeden  zu verfolgen und zu bestrafen, der anderer Überzeugung ist und vermeint, einem anderen Glauben folgen zu müssen.

 

Inwieweit es in praxi gelingt, größeren Machtmissbrauch zu unterbinden, hängt drittens auch von der inneren Führungsstruktur einer Religionsgemeinschaft ab. Bereits bei der Diskussion über möglichen Machtmissbrauch im wirtschaftlichen Bereich haben wir gesehen, dass immer dann, wenn monopolistische Marktstrukturen vorliegen, Machtmissbrauch größeren Umfangs möglich wird. Auch eine Diktatur verleiht dem Machthaber eine immense Machtfülle, auch hier ist ein Machtmissbrauch größeren Ausmaßes vorprogrammiert.

 

Nun weist eine Religion natürlich zunächst einmal per se eine monopolistische Struktur auf. Eine Religion definiert sich ja ganz anders als eine Demokratie. In einer Demokratie entscheiden die Wähler im Grunde, welche Politik betrieben werden soll. Sie wählen unter mehreren Kandidaten denjenigen aus, der den Vorstellungen der Mehrheit der Wähler am meisten entspricht. Wenn die gewählten Politiker nicht zur Zufriedenheit der Wähler agiert haben, hat die  Bevölkerung die Möglichkeit, diese Politiker bei der nächsten Wahl abzuwählen und ihre Stimmen der bisherigen Opposition zu geben.

 

Zwar wird die Macht der Politiker und damit letzten Endes auch die Macht der Bevölkerung dadurch beschränkt, dass die Verfassung bestimmte Handlungen verbietet. So sieht eine Verfassung auch sogenannte  Menschenrechte vor, welche niemand vorenthalten werden dürfen, mag die Mehrheit der Bevölkerung noch so sehr den festen Willen haben, diese Menschenrechte bestimmten Gruppen der Bevölkerung vorzuenthalten. Trotzdem verbleibt für die Zielsetzungen der Bevölkerung stets ein großer Bereich, innerhalb dem in einer Demokratie die Bevölkerung frei bestimmen kann, welche Ziele im Einzelnen angestrebt werden sollen.

 

Ganz anderes gilt für eine Religion. Hier sind es die Grundwerte, welche im Rahmen einer Religion festlegen, welche Ziele verfolgt werden und welche Handlungsweisen deshalb ergriffen werden müssen. In einer Demokratie kann die  Bevölkerung in einer Wahl – natürlich im Rahmen der Verfassung – das Ruder herumreißen und Politiker wählen, die ganz andere Ziele als bisher verfolgen. Dies ist hier vollkommen in Ordnung. Wenn der Wille des Volkes verwirklicht werden soll, so kann die Bevölkerung auch im Prinzip jederzeit die zu verfolgenden Ziele abändern.

 

Eine Religion hingegen definiert sich stets durch ihre Grundwerte. Diese sind immer gültig. Wenn die Gläubigen einer Religion einigen dieser Grundwerte eines Tages abschwören, dann schwören sie eben dieser Religion ab, sie gehören von diesem Augenblick an de facto nicht mehr dieser Religionsgemeinschaft an. So kann auch nicht eines Tages davon gesprochen werden, dass die Christen z. B. bestimmte Vorschriften der zehn Gebote nicht mehr für zeitgemäß halten und deshalb einfach von nun an diese Gebote nicht mehr beachten.

 

Die Zehn Gebote gehören nämlich zu der Magna Charta sowohl des Judentums wie auch der Christenheit, in ihnen sind die letzten, immer gültigen Grundwerte formuliert, von denen nicht abgewichen werden kann, oder anders formuliert, ein Individuum, welches auch nur eines dieser Grundwerte aufgibt, hört damit auf, Mitglied dieser Religion zu sein, mögen noch so viel Christen der Meinung sein, dass diese Grundwerte ihnen nicht mehr passen.

 

Allerdings gilt es streng zu unterscheiden zwischen dem eigentlichen Grundwert, der für eine Religionsgemeinschaft konstitutiv ist und der Anwendung dieser Grundmaxime im Einzelfall. Wir haben oben bereits am Beispiel des Gebotes: „wachset und vermehret euch“ gesehen, dass dem eigentlichen Sinn dieser Aufforderung nicht entsprochen würde, wenn man auch in Zeiten der Überbevölkerung daran festhalten wollte, von den Menschen zu fordern, soviel Kinder wie möglich in die Welt zu setzen. Eine solche Haltung würde dem letztlichen Sinn dieser Vorschrift vollkommen widersprechen, es wäre das Gegenteil von dem, was tatsächlich in dieser Situation gefordert wäre.

 

Insofern – aber eben nur insofern – ist es nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten, stets zu überprüfen, wie in einer konkreten Anwendung eines Grundsatzes jeweils zu verfahren ist. Die Anwendung eines Grundsatzes kann durchaus nicht zeitgemäß sein. Und diese Unterscheidung zwischen dem immer gültigen Grundsatz und seiner Anwendung in einer konkreten Situation ist im Rahmen der Religionsgemeinschaften vor allem deshalb von Bedeutung, da sehr oft auch letztliche Grundwerte in einer Religion bereits bei der ersten Festlegung in seiner Anwendungsform formuliert wurden, sodass es hier stets notwendig wird, diese Formulierung der Zeit anzupassen.

 

Hier besteht die Gefahr, dass ein stures Festhalten am Wortlaut einer Weisung gerade den letztlichen Grundwert gefährdet, da in diesen Fällen die Bereitschaft der Gläubigen, die Grundwerte anzuerkennen, nachlassen wird und die Gefahr besteht, dass mit der falschen Formulierung der Grundsatz als solcher verworfen wird.

 

Vor allem die katholische Religion kennt eine hierarische Struktur. An der Spitze steht der Papst als Oberhaupt der Kirche, die einzelnen Bistümer werden von den Bischöfen geleitet und der Pfarrer einer Seelsorgeeinheit schließlich steht an der Spitze einer Kirchengemeinde. Hierbei wird der Papst und die päpstliche Verwaltung unterstützt durch das Konzil, in welchem Kardinäle und Bischöfe vertreten sind, während in den einzelnen Ländern Bischofskonferenzen und in einzelnen Kirchengemeinden Laienvertretungen die jeweiligen Pfarrer vor allem in weltlichen Angelegenheiten unterstützen.

 

In Glaubensfragen hat jedoch nach wie vor die Geistlichkeit das Sagen. Der Papst hat sogar das Recht, ex Cathedra neue Dogmen zu verkünden, in den einzelnen Bistümern obliegt die Entscheidung über Glaubensfragen beim Bischof und in der einzelnen Kirchengemeinde ist es den Geistlichen vorbehalten, die Messe zu halten und das Evangelium zu verkünden.

 

Immerhin wird im neuen Vatikanischen Konzil die Macht des Papstes insoweit wiederum de facto begrenzt, als Voraussetzung dafür, dass der Papst von seinem Recht Gebrauch macht, ex Cathedra Dogmen zu verkünden, die Übereinstimmung mit dem Konzil notwendig ist. De facto hatte bisher lediglich der Papst Pius XII. von diesem Recht Gebrauch gemacht, in dem er die Himmelfahrt Mariens zum Dogma erhob.

 

Geht man von den Aussagen des Neuen Testaments aus, so hat zwar Jesus Petrus und damit einen einzigen Apostel zu seinem Nachfolger bestimmt, hat jedoch das Ansinnen von Jakobus und Johannes, im Reich Gottes neben dem Weltenrichter zur Rechten und Linken sitzen zu dürfen, eindeutig zurückgewiesen, in dem er feststellte, dass über die Rangfolge der Jünger nur sein Vater, noch nicht einmal er selbst zu entscheiden habe.

 

Im Übrigen stellte Jesus die Forderung auf‚“wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen.“ Und dieses Leitbild ist sicherlich das Gegenteil von einer streng hierarchischen Gliederung der Kirche sowie des Versuchs, auch in den religiösen Systemen möglichst viel Macht aufzubauen.

 

Fortsetzung folgt!