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Macht oder ökonomisches Gesetz (Fortsetzung)

 

Gliederung:

 

  1. Historische Einführung

  2. Wettbewerb versus Monopol

  3. Die Marktmorphologie

  4. Die Rolle der Eigentumsordnung

  5. Die Betriebsordnung

  6. Wirtschaftliches versus politisches Kalkül

  7. Direkte versus repräsentative Demokratie

  8. Streik und andere Privilegien

  9. Wohlfahrtstheoretische Überlegungen

 

 

4. Die Rolle der Eigentumsordnung

 

Erich Preiser hat in der unmittelbaren Zeit nach dem zweiten Weltkrieg darauf aufmerksam gemacht, dass Macht und Einkommensverteilung nicht allein von der Marktform abhängt, dass die Einkommen auch bei vollständiger Konkurrenz auf allen Märkten zuungunsten der Arbeitnehmer verteilt seien, da auch die jeweils gültige Eigentumsordnung über Macht und Verteilung entscheide.

 

Die Arbeitnehmer, insbesondere die Arbeiter im engeren Sinne seien eigentumslos, sie seien Proletarier, welche im Gegensatz zu den Besitzenden immer nur über eine einzige Einkommensquelle, nämlich die Arbeitskraft verfügten. Im Gegensatz hierzu verfüge der Besitzende neben seiner Arbeitskraft immer auch über Kapital, das ihm ein zusätzliches Einkommen ermögliche.

 

Da der Arbeiter nur über seine Arbeitskraft verfüge, sei er dem Arbeitgeber ausgeliefert, er könne nicht als gleichberechtigter Marktpartner mit dem Arbeitgeber einen gerechten und fairen Lohn aushandeln, er sei auf die Arbeit angewiesen, da er bei Arbeitslosigkeit all seiner regulären Einkünfte verlustig gehe. Der Arbeiter müsse also auf das Lohndiktat des Arbeitgebers eingehen, auch dann, wenn er die Lohnhöhe als zu gering und deshalb als ungerechtfertigt ansehe.

 

Arbeit und Kapital unterschieden sich in wesentlichen Punkten. Der Arbeitnehmer könne auf der einen Seite seiner Arbeitskraft vorübergehend verlustig gehen, wenn er von den sozialen Risiken der Krankheit, des Unfalls oder der Arbeitslosigkeit betroffen werde. Kapital könne hingegen immer erwerbswirtschaftlich eingesetzt werden. Kapital könne nicht ‚krank’ werden.

 

Auf der anderen Seite verfüge der Besitzende dann, wenn eine Einkommensquelle – aus welchen Gründen auch immer – ausfalle, immer noch über die jeweils zweite Einkommensquelle. Er werde also vom Verlust der einen Erwerbsquelle längst nicht so entscheidend getroffen, seine Existenz werde im Allgemeinen hiervon nicht bedroht.

 

Allerdings muss man hinzufügen, dass der Verlust von Kapital den Besitzenden in einer etwas anderen Sichtweise auch wiederum stärker betreffen kann, als den Arbeitnehmer. Macht eine Unternehmung Konkurs, so werden zwar zunächst beide Gruppen: die Arbeitnehmer wie die Kapitalgeber von diesem Ereignis negativ betroffen. Die Arbeitnehmer verlieren ihre Beschäftigung und werden arbeitslos, der Kapitalgeber verliert sein Vermögen. Zumindest dann, wenn wir funktionierende Märkte unterstellen, können die Arbeitnehmer ihre Arbeitskraft einem anderen Unternehmer anbieten, ihre Arbeitskraft als solche ist nicht verloren gegangen, während der Eigentumsverlust im allgemeinen endgültig ist. Es ist dann eher der Umstand, dass die Märkte nicht richtig funktionieren, dass also z. B. ein älterer Arbeitnehmer keinen neuen Arbeitsplatz mehr findet, obwohl er noch durchaus arbeitsfähig und arbeitswillig ist, welcher dazu führt, dass die Arbeitnehmer genauso stark oder sogar noch stärker als die Unternehmer von einem Konkurs betroffen werden.

 

Versuchen wir in einem ersten Schritt, die Gedankengänge Erich Preisers anhand einer Graphik zu verdeutlichen. Wir betrachten einen normalen Arbeitsmarkt, wir tragen auf der Abszisse den Arbeitseinsatz und auf der Ordinate die Lohnhöhe ab, beide Reaktionskurven weisen einen im Prinzip normalen Verlauf auf, die Kurve der Arbeitsnachfrage habe einen negativen, die des Arbeitsangebotes hingegen einen positiven Verlauf.

 

 

Beschreibung: macht7

 

Wir gehen von einem Gleichgewichtslohn l0 aus. Konjunkturbedingt ginge nun der Absatz und mit ihm die Nachfrage nach Arbeit zurück, die Arbeitsnachfragekurve verschiebe sich nach links unten. Die Folge ist ein starker Rückgang im Lohnsatz. Dieser sinkt auf l1 ab.

 

Wenn wir nun unterstellen, dass auch die Arbeitnehmer über Eigentum verfügen würden, dann würde sich auch ihre Machtposition gegenüber den Arbeitgebern verbessern. Sie stünden nun nicht mehr machtlos den Arbeitgebern gegenüber und müssten nun nicht mehr das Lohndiktat des Arbeitgebers auf Gedeih und Verderb annehmen. Sie könnten nun auch dem Arbeitgeber mit Kündigung drohen, da sie eine vorübergehende Arbeitslosigkeit durch die nun anfallenden Zinserträge und notfalls durch Auflösung des Vermögens überbrücken könnten.

 

Dieser Zugewinn an Macht äußere sich in einer höheren Elastizität des Arbeitsangebotes. Lohnsenkungen könnten nun mit einem stärkeren Rückgang im Arbeitsangebot kompensiert werden. Die Arbeitsangebotskurve verlaufe nun flacher.

 

 

Beschreibung: macht8

 

Die neue Arbeitsangebotskurve entspricht nun der gestrichelten Linie. Der gleiche Rückgang in der Arbeitsnachfrage führt nun zu bedeutend geringeren Verringerungen im Lohnsatz. Dieser sinkt nun nicht mehr auf l2, sondern nur noch auf l1.

 

Kritisch muss angemerkt werden, dass auf der einen Seite Arbeitnehmer nur dann einen spürbaren Zuwachs an Macht auf den Arbeitsmärkten gewinnen, wenn sie bereits über größere Vermögensbestände verfügen, denn nur dann reichen die Zinseinnahmen aus, um eine vorübergehende Arbeitslosigkeit zu überbrücken.

 

Auf der anderen Seite konnte durch sozialpolitische Maßnahmen dieser erwünschte Effekt sehr viel effizienter realisiert werden. Die Arbeitnehmer sind durch den gesetzlichen Kündigungsschutz weitgehend gegen willkürliche Entlassungen geschützt; verfügen sie aber wegen Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit vorübergehend über weniger Erwerbseinkommen, so haben sie im Rahmen der Sozialversicherung einen weit besseren und effizienteren Schutz und erhalten Leistungen (wie Krankengeld oder Arbeitslosengeld) während der Zeit der verminderten Erwerbsfähigkeit.

 

Auch muss betont werden, dass es von der Form der Vermögensbildung abhängt, ob die Arbeitnehmer tatsächlich gegenüber ihren Arbeitgebern einen Machtgewinn verzeichnen können. Es kann auch genau das Gegenteil eintreten. Wenn der Vermögenszuwachs eines Arbeitnehmers darin besteht, dass er Wohneigentum erwirbt, so wird er immobil und ist weniger bereit, einen Arbeitsplatz außerhalb der bisherigen Wohngemeinde anzunehmen; die Elastizität seines Arbeitsangebotes hat sich vermindert.

 

Die Machtposition des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber ist vor allem dann vermindert und nicht erhöht, wenn das Wohnungseigentum (in Form sogenannter Werkswohnungen) von den Arbeitgebern zur Verfügung gestellt wird. Hier ist das Wohnrecht oftmals an die Beschäftigung in der Unternehmung gekoppelt, die das Wohneigentum zur Verfügung gestellt hat. Die Möglichkeit des Arbeitnehmers, mit Kündigung zu drohen, ist geringer geworden, da er zumeist mit dem Arbeitsplatz auch die Wohnung verliert.

 

Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand kann auch noch auf andere Weise – als von Preiser aufgezeigt – die Einkommenssituation der Arbeitnehmer verbessern. So hat Nicholas Kaldor im Rahmen seiner Verteilungstheorie gezeigt, dass eine Zunahme der Arbeitnehmerersparnis die Lohnquote ansteigen lässt.

 

Im Gegensatz zu der Theorie Erich Preisers liegt jedoch bei Kaldor der Einkommensgewinn nicht darin, dass der Nominallohnsatz ansteigt, sondern darin, dass die Unternehmer weniger Möglichkeiten haben, Kostensteigerungen auf den Güterpreis abzuwälzen; die Steigerungen in den Güterpreisen gehen zurück. Auch bei gleichem Nominallohnsatz steigt das Reallohneinkommen der Arbeitnehmer.

 

Es ist hier nicht der Machtzuwachs, den die Arbeitnehmer auf den Arbeitsmärkten durch Eigentumsbildung erhalten, der eine Verbesserung der Einkommenslage der Arbeitnehmer herbeiführt. Wenn man will, kann man hier davon sprechen, dass sich die Machtposition der Unternehmer auf den Gütermärkten verschlechtert hat, da sie nun in geringerem Maße in der Lage sind, die Güterpreise anzuheben. Der Nachfrageüberhang auf den Konsumgütermärkten geht zurück; aber nur bei Nachfrageüberhängen müssen sich die Konsumenten Preissteigerungen gefallen lassen.

 

 

5. Die Betriebsordnung

 

Der Arbeitsmarkt unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von den Gütermärkten. Auf Gütermärkten beschränken sich die Beziehungen zwischen den Marktpartnern im Wesentlichen auf den Kauf oder Verkauf eines Gutes. Nach Erfüllung dieses Auftrages enden im Allgemeinen diese Beziehungen, allenfalls entstehen aus Schadenersatzansprüchen nachträglich gewisse Pflichten des Anbieters. Rein rechtlich gesehen besteht eine Gleichstellung beider Partner.

 

Der zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ausgehandelte Arbeitsvertrag sieht jedoch im Gegensatz hierzu dauerhafte Beziehungen vor, der Arbeitnehmer soll auf längere Zeit für den Arbeitgeber tätig werden. Auch kann man hier keinesfalls mehr in rechtlicher Hinsicht von Gleichstellung sprechen. Der Arbeitnehmer hat die Anordnungen des Arbeitgebers zu erfüllen, er ist dem Arbeitgeber untergeordnet. Diese Beziehung entsteht nicht primär aus unterschiedlichen Machtpositionen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt, sondern ist vor allem in größeren Unternehmungen aus sachlichen Gründen unerlässlich. Eine effiziente Produktion setzt voraus, dass sich die einzelnen Arbeiten innerhalb einer Unternehmung ergänzen.

 

Man sprach in diesem Zusammenhang von der Fremdbestimmung der Arbeit, sie wurde nicht nur von den Sozialisten, sondern auch von den Vertretern der christlichen Soziallehre gebrandmarkt. Diese Fremdbestimmung lässt sich nicht nur in marktwirtschaftlichen Systemen feststellen. Sie findet sich auch in Systemen staatlicher Planwirtschaft, wobei der Unterschied zwischen beiden Systemen nur darin liegt, dass in staatlichen Planwirtschaften auch die Betriebsleiter fremdbestimmt zu arbeiten haben.

 

Es gibt mehrere Vorschläge und politische Maßnahmen, um diese Fremdbestimmung und ungleiche Machtverteilung innerhalb der Unternehmung zu überwinden. Hier an dieser Stelle sollen etwas ausführlicher die Pläne eines betrieblichen Miteigentums der Arbeitnehmer besprochen werden, welche vor allem von den Vertretern der christlichen Soziallehre entwickelt wurden, weiterhin die Maßnahmen einer betrieblichen Mitbestimmung, so wie sie vor allem von Sozialdemokraten und Gewerkschaften gefordert und auch weitgehend realisiert wurden und schließlich die Pläne einer radikalen Dezentralisierung im Betrieb bis runter zu den einzelnen Arbeitsplätzen, so wie sie bisweilen von Wissenschaftlern (z. B. von Dieter Schmidtchen) vorgeschlagen wurden.

 

Beginnen wir zunächst mit den Plänen eines Miteigentums, die – wie bereits erwähnt – vor allem von Vertretern der christlichen Soziallehre entwickelt wurden. Betriebliches Miteigentum wird aufgrund verschiedener Zielsetzungen gefordert. In erster Linie geht es um ein verteilungspolitisches Anliegen, man will auf diese Weise die Einkommensverteilung zugunsten der Arbeitnehmer verbessern. Wir haben uns oben bereits mit diesen Vorstellungen ausführlich befasst. Hier in diesem Zusammenhang interessiert lediglich die Vorstellung, mit Hilfe eines betrieblichen Miteigentums die Fremdbestimmung der Arbeitnehmer zu überwinden.

 

Die Wirtschaftspläne der Unternehmungen werden im Allgemeinen von den Kapitalgebern kontrolliert, entweder weil der Unternehmer einer Personengesellschaft den größten Teil des Kapitals in sein eigenes Unternehmen eingebracht hat oder weil innerhalb der Kapitalgesellschaften die Produktionsleiter von den Kapitalgebern bestellt werden und diesen verantwortlich sind.

 

Wenn nun die einzelnen Arbeitnehmer am Erwerbsvermögen der Unternehmung, in der sie beschäftigt sind, beteiligt werden, üben auch sie Einfluss auf die Entscheidungen der Unternehmung aus, sie wirken also am Entscheidungsprozess einer Unternehmung mit, die Arbeit hört auf, fremdbestimmt zu sein.

 

Es ist dies eine Kontrolle, wie sie auch innerhalb einer repräsentativen Demokratie von den Wählern ausgeübt wird. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieser Einfluss extrem gering ist. Der einzelne Arbeitnehmer ist nur einer unter vielen, er kann über sein Miteigentum keinen spürbaren Einfluss ausüben, um seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen; nur dort, wo die Interessen aller Arbeitnehmer gleichgerichtet sind, besteht die Möglichkeit, dass sich die Interessen der Arbeitnehmer durchsetzen, allerdings nur dann, wenn der Anteil der gesamten Arbeitnehmerschaft am Kapital der Unternehmung beachtlich groß ist, die Arbeitnehmerschaft z. B. zumindest über eine Sperrminorität verfügt. Man wird also nicht erwarten können, dass der einzelne Arbeitnehmer auf diese Weise seine Aufgaben selbst bestimmt oder auch nur an der Aufgabenverteilung im Betrieb entscheidend mitwirken kann.

 

Gleichzeitig sind mit der Einführung eines betrieblichen Miteigentums für den einzelnen Arbeitnehmer auch negative Wirkungen verbunden. Mitwirkung über Miteigentum ist immer auch mit Risiken verbunden. Dies gilt nicht nur in  dem Sinne, dass die aufgrund des Miteigentums anfallende Beteiligung am Unternehmergewinn unsicher ist; von größerer Bedeutung ist, dass ein Unternehmen immer Gefahr läuft, Verluste zu erzielen, bis hin zum Konkurs und Verlust des gesamten Vermögens. Es besteht hier die Gefahr, dass ein Arbeitnehmer aufgrund von Absatzschwierigkeiten nicht nur seinen Arbeitsplatz, sondern gleichzeitig auch seinen Anteil am Betriebsvermögen verliert. Er verliert sein Vermögen genau in dem Zeitpunkt, in dem er wegen vorübergehender Arbeitslosigkeit eigentlich sein Vermögen dringend benötigen würde.

 

Diese Schwierigkeiten treten übrigens auch bei den Unternehmungen auf. Gerät eine Unternehmung in Absatzschwierigkeiten, hat sie die Produktion an den veränderten Bedarf anzupassen, hierzu bedarf es auf der einen Seite des Kapitals für zusätzliche Investitionen, auf der anderen Seite müssen unter Umständen Arbeitnehmer entlassen werden, denen nun aufgrund der Miteigentumsverträgen ihre Anteile auszuzahlen sind. Das Unternehmen verliert also gerade dann Kapital, wenn dieses für Investitionszwecke dringend benötigt wird.

 

Es ist umstritten, ob es erwünscht ist, dass die Arbeitnehmer unternehmerische Risiken mittragen. Auf der einen Seite sind sie gerade deshalb Arbeitnehmer geworden, weil sie risikoscheu sind und nehmen ein geringeres Einkommen im Vergleich zu Selbständigen in Kauf. Auf der anderen Seite kann nur derjenige Risiken übernehmen, der bereits über ausreichend Vermögen verfügt und auch das Spezialwissen mitbringt, das für unternehmerische Entscheidungen notwendig ist. Das Ziel, Arbeitnehmer am Erwerbsvermögen zu beteiligen, lässt sich sehr viel sachgerechter durch Teilnahme an gesamtwirtschaftlichen Vermögen (z. B. durch Erwerb von  Fonds, welche die Risiken streuen) erreichen.

 

Wenden wir uns nun den Maßnahmen einer betrieblichen Mitbestimmung zu, so wie sie in der BRD im Rahmen des Betriebsverfassungsgesetzes und der Mitbestimmungsgesetze verwirklicht ist. Diese Gesetze sehen vor, dass die Belegschaft in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer unmittelbar an den Entscheidungen der einzelnen Unternehmungen, in denen die Arbeitnehmer beschäftigt sind, beteiligt wird. An  dieser Stelle sollen nicht die rechtlichen Bestimmungen im Einzelnen dargestellt werden, sondern lediglich die Grundzüge der Mitwirkung aufgezeigt werden und die Frage geklärt werden, inwieweit auf diesem Wege die Machtverteilung in einer Unternehmung maßgebend beeinflusst werden kann.

 

Das Betriebsverfassungsgesetz sieht eine Mitwirkung des Betriebsrates vor. Der Betriebsrat wird von der Belegschaft gewählt und hat das Recht, an sozialen Entscheidungen, vor allem bei Entlassungen und Neueinstellungen mitzuwirken und weiterhin über die anstehenden wirtschaftlichen Fragen (in der sogenannten Betriebsversammlung) informiert und gehört zu werden. Mit wenigen Ausnahmen von Kleinstbetrieben ist in jeder Unternehmung ein Betriebsrat zu bilden. Den gewählten Betriebsräten sind auch die sachlichen Mittel und die benötigte Zeit zur Verfügung zustellen, damit sie auch ihrer Aufgabe gerecht werden können.

 

In größeren Unternehmungen und vor allem in Kapitalgesellschaften gilt die Mitwirkung entsprechend dem Mitbestimmungsgesetz. Der Aufsichtsrat ist paritätisch mit Vertretern der Kapital- und der Arbeitnehmerseite zu besetzen, bei Stimmengleichheit gibt die Stimme des Aufsichtsratsvorsitzenden den Ausschlag. Gleichzeitig hat ein von Arbeitnehmerseite gewählter Arbeitsdirektor im Vorstand gleichberechtigt mitzuwirken.

 

Zu einem Teil gilt die Kritik, die wir an den Plänen des betrieblichen Miteigentums geübt haben auch für die betriebliche Mitbestimmung. Auch diese Form der Mitwirkung entspricht weitgehend den Entscheidungsprozessen in einer repräsentativen Demokratie, der Einfluss des einzelnen Arbeitnehmers ist extrem gering, nach wie vor kann der einzelne Arbeitnehmer an der konkreten Ausgestaltung seines eigenen Arbeitsplatzes kaum mitwirken.

 

In einer Hinsicht schneidet allerdings die betriebliche Mitbestimmung besser ab als das betriebliche Miteigentum. Im Rahmen der betrieblichen paritätischen Mitbestimmung ist sichergestellt, dass der Einfluss der Arbeitnehmer dem der Kapitalgeber weitgehend entspricht, während beim betrieblichen Miteigentum im Allgemeinen der Anteil der Arbeitnehmer wesentlich geringer ist als der Anteil der Kapitaleigner.

 

Ein ganz anderer Weg wird in den Plänen beschritten, in denen aufgrund einer radikalen Dezentralisierung bis hin zum Arbeitsplatz eine Mitwirkung des einzelnen Arbeitnehmers angestrebt wird. Der Grundgedanke ist einfach. Man geht davon aus, dass die Gesamtplanung einer Volkswirtschaft im Rahmen marktwirtschaftlicher Systeme einer Vielzahl einzelner Unternehmungen überlassen wird, dass die Koordination dieser Einzelpläne nicht über einen zentralen Plan, sondern über das Wirken des Marktes erfolgt. Die heutige Planung innerhalb einer Unternehmung gleicht der bürokratischen Planung einer staatlichen Planwirtschaft.

 

Es wird nun die Vorstellung entwickelt, dass auch innerhalb einer Unternehmung eine dezentrale Koordination erreicht werden könnte, indem dem einzelnen Arbeitnehmer ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt wird, an dem er seine individuellen Vorstellungen verwirklichen kann, wobei der interne Arbeitsplatz eine ähnliche Funktion einnimmt, wie auf übergeordneter Ebene die vom Staat zur Verfügung gestellte Infrastruktur, welche von den einzelnen Unternehmungen in Anspruch genommen wird. Genauso wie die Preise auf der Ebene des Marktes eine Koordination der Einzelpläne bewirken, könnte ein internes Verrechnungssystem, das permanent an die jeweilige Knappheitslage angepasst würde, die Koordination der Aktivitäten der einzelnen Arbeitnehmer übernehmen.

 

Eine solche Dezentralisierung der betrieblichen Planung würde dem einzelnen Arbeitnehmer eine weitgehende Selbstbestimmung bringen in genau dem gleichen Sinne, wie dies für die Aktivitäten der Unternehmer auf Marktebene gilt. Allerdings würde dieser Plan den Arbeitnehmern auch ein weit größeres Risiko bringen, als dies bei der heutigen Betriebsordnung der Fall ist. Offensichtlich besteht ein Konflikt zwischen dem Ziel, dem Arbeitnehmer innerhalb seiner Arbeit eine höhere Selbstverwirklichung und damit auch mehr Macht zu gewähren und dem anderen Ziel der meisten Arbeiter, das berufliche Risiko möglichst gering zu halten.

 

6. Wirtschaftliches versus politisches Kalkül

 

Wir hatten eingangs darauf aufmerksam gemacht: Der Streit um Macht oder ökonomisches Gesetz kann einmal in dem Sinne verstanden werden, dass nach den letztlichen Bestimmungsgründen der Verteilung gefragt wird oder aber auch in dem Sinne, dass auf den Modus procedendi, auf das Kalkül abgehoben wird, das bei der Einkommensverteilung zum Zuge kommt. Bisher befassten wir uns vorwiegend mit der an erster Stelle gestellten Frage. Wir wollen uns nun in diesem Abschnitt der Frage nach dem Kalkül zuwenden. Es ist dies insbesondere die Frage, ob der Tarifverhandlungsprozess eher als ein wirtschaftliches oder eher als ein politisches Kalkül beschrieben werden kann.

 

Die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichem und politischem Kalkül geht auf Joseph Alois Schumpeter zurück. Dieser hatte in seiner Arbeit ‚Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie’ die These vertreten, dass in Demokratien ein ähnlicher Prozess stattfinde wie in Marktwirtschaften. Genauso wie das Verhalten der Unternehmer besser gedeutet wird, wenn wir von dem Streben nach Gewinnmaximierung ausgehen, als dass wir unterstellen, die Unternehmer hätten bei all ihren Entscheidungen das Gemeinwohl vor Augen, genauso könnte man den politischen Prozess besser verstehen, wenn man davon ausgeht, dass sich die Politiker wiederum nicht primär vom Gemeinwohl, sondern von Machtinteressen leiten ließen, in Demokratien also ihre Entscheidungen vorwiegend danach ausrichten, wie sich ihre politischen Aktivitäten bei der nächsten  Wahl auswirken könnten. Dem Gewinnstreben der Unternehmer entspreche das Streben nach Stimmenmaximierung der Politiker.

 

Diese Umkehr in der Betrachtungsweise bedeute allerdings nicht, dass das Gemeinwohl der Volksgemeinschaft nicht zum Zuge komme. Genauso, wie die Wirtschaftstheorie aufgezeigt habe, dass in einer funktionierenden Wettbewerbsgesellschaft die finanziellen Anreize der Unternehmer so kanalisiert würden, dass sie gerade dann ihren Gewinn maximieren, wenn die Produktionsausrichtung (die Allokation) den Bedürfnissen der Bevölkerung entspräche, genauso gelte in einer funktionierenden Demokratie, dass der Wettbewerb der Parteien letztlich die Politiker zwinge, genau die Maßnahmen durchzuführen, welche von der Mehrheit der Wähler präferiert werden.

 

Wenn wir diese Betrachtungsweise auf das Problem der Einkommensverteilung und auf den Verhandlungsprozess der Tarifpartner übertragen, so sprechen wir von einem wirtschaftlichen Kalkül immer dann, wenn die Verhandlungsführer ihre Entscheidungen unmittelbar an dem Ziel ausrichten, das Einkommen ihrer Mitglieder zu maximieren, während von einem politischen Kalkül immer dann gesprochen wird, wenn die Entscheidungen unmittelbar an Machtfragen ausgerichtet werden, ob also z. B. die Verbandsfunktionäre bei der nächsten Vorstandswahl wiedergewählt werden oder noch allgemeiner, ob diese Entscheidungen zum Überleben des Verbandes beitragen.

 

Auch hier muss natürlich berücksichtigt werden, dass es letztlich von der Verbandsordnung abhängt, inwieweit die Entscheidungen der Tarifpartner die Ziele und Bedürfnisse der Mitglieder repräsentieren. Die These, dass Machtfragen im Vordergrund stehen, darf nicht so gedeutet werden, dass die Ziele der Mitglieder überhaupt nicht zum Zuge kommen. Wir dürfen nur nicht erwarten, dass in jedem einzelnen Falle die Ziele der Verbandsfunktionäre mit den Zielen der Mitglieder zusammenfallen. Aber nur in diesem Falle wäre es gleichgültig, ob wir von den Interessen der Funktionäre oder von den Interessen der Mitglieder eines Verbandes ausgehen. Bei der grundsätzlichen Entscheidung zwischen den Interessen der Funktionäre und der Mitglieder rückt die Frage nach der erwünschten Verbandsordnung, welche die Interessen beider Gruppen zusammenführt, in den Vordergrund der Betrachtung.

 

Es war vor allem Arthur Ross, der darauf hinwies, dass wir den Tarifverhandlungsprozess nicht richtig verstehen, wenn wir diese Unterscheidung von Mitglieder- und Funktionärsinteressen nicht berücksichtigen würden. Es gibt vor allem zwei Gründe, weshalb zwischen den Zielsetzungen der Verbandsfunktionäre (Verhandlungsführer) und den Zielsetzungen der Mitglieder unterschieden werden muss.

 

Auf der einen Seite erfordert die Verhandlungsführung den Aufbau einer Bürokratie, die – wenn sie einmal aufgebaut ist – ihre eigenen Ziele und Gesetzmäßigkeiten entwickelt. Verhandlungsführung kann nun nicht mehr neben einer normalen Berufstätigkeit wahrgenommen werden, sie wird nun zum eigenen Beruf, wiederum mit eigenen Zielsetzungen.

 

Ein zweiter Grund dafür, dass zwischen den Zielen der Verbandsfunktionäre und denen der Mitglieder unterschieden werden muss, liegt darin, dass die Mitglieder eines Verbandes nicht stets die gleichen Bedürfnisse und Interessen haben. Facharbeiter haben z. B. andere Interessen als ungelernte Arbeiter, der eine Arbeitnehmer hat größeres Interesse an möglichst hohem Einkommen, ein anderer an möglichst viel Freizeit oder auch an den Aufstiegschancen. Erst in einem aufwendigen Willensbildungsprozess innerhalb des Verbandes kann festgelegt werden, welche Zielsetzungen und in welcher Rangfolge als Verbandsziele vertreten werden sollen.

 

 Der Soziologe Seymour Martin Lipset hat allerdings aufgezeigt, dass die Gewerkschaftsorganisationen keinesfalls immer so funktionieren, wie man dies von demokratischen Einrichtungen erwartet. Für eine Demokratie ist es entscheidend, dass bei den Wahlen echte Alternativen zur Diskussion stehen. Bei den Wahlen zur Bestimmung der führenden Verbandsfunktionäre werden jedoch den Mitgliedern oftmals keine echten Alternativen geboten; es werden vielmehr öfters den Wählenden Wahllisten vorgelegt, die vorher im Vorstand abgesprochen wurden.

 

Für diese Charakteristiken der Wahlen in Verbänden sind vor allem drei Tatbestände verantwortlich. Erstens wird es als unerwünscht und verbandsschädigend hingestellt, gegen die Vorschläge des Vorstandes zu kandidieren. Werden mehrere Kandidaten zugelassen, die in Wettbewerb zueinander stehen, so werden auch unterschiedliche Zielvorstellungen entwickelt, die – so wird befürchtet – dem Image und der Aktionsfähigkeit des Verbandes abträglich sind. Solche Vorstellungen finden sich übrigens auch bei der Nominierung von Spitzenpolitikern innerhalb der Parteien.

 

Zweitens kann auch nur dann ein effektiver Wettbewerb von Spitzenfunktionären um die höchsten Ämter innerhalb eines Verbandes erwartet werden, wenn auch die in Opposition zum gegenwärtigen Vorstand stehenden Kandidaten die Möglichkeit besitzen, die Ressourcen des Verbandes bei ihrem Wahlkampf einzusetzen. Wie vor allem Lipset aufgezeigt hat, mangelt es jedoch bei den Gewerkschaften in der Regel solcher Möglichkeiten.

 

Ohne auf den Verbandsapparat zurückgreifen zu können, haben jedoch oppositionelle Kandidaten kaum Chancen, gewählt zu  werden. Im Gegensatz hierzu verfügen bei den staatlichen Wahlen die oppositionellen Parteien in der Regel über vergleichbare Ressourcen; so werden die nominierten Kandidaten mit öffentlichen Wahlgeldern ausgestattet; oftmals verfügen auch die oppositionellen Kandidaten über einen Verwaltungsapparat, da sie in bestimmten Untergruppierungen (in einzelnen Ländern oder Kommunen) die Regierungsgeschäfte ausüben.

 

Drittens setzt die Möglichkeit, die jeweils Regierenden abwählen zu können, voraus, dass die abgewählten ohne großen Gesichtsverlust zu ihren bisherigen Tätigkeiten zurückkehren können. Nun muss man davon ausgehen, dass bei sehr großen Organisationen – wie z. B. den Gewerkschaften – ein hoher Prestigegewinn mit dem Aufstieg an die Spitze eines Verbandes verbunden ist, sodass nach einer Abwahl eine Rückkehr zu der bisherigen beruflichen Tätigkeit vor allem für die Betroffenen als unzumutbar angesehen wird. Es ist deshalb kein Wunder, dass diese Gruppe darum kämpft, im Amt zu bleiben und Opposition zu verhindern.

 

Nun sind diese aufgezeigten Verbandsmerkmale bei Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sehr unterschiedlich ausgeprägt. Wir haben als erstes Unterschiede in der Mitgliederstärke beider Verbände. Während die größten Gewerkschaften mehr als eine Million Mitglieder zählen, umfassen die Arbeitgeberverbände oft nur einige wenige hunderte oder auch Tausende Mitgliedsunternehmungen.

 

Große Organisationen bedürfen auch eines großen Verwaltungsapparates; schon allein das Zustandekommen eines einheitlichen Willens erfordert hier hohen Verwaltungsaufwand. Bei sehr kleinen Verbänden kann unter Umständen sogar auf jegliche Organisation verzichtet werden, vor allem dann, wenn die einzelnen Mitglieder Unternehmungen darstellen, die selbst eine Bürokratie besitzen und bei denen die geringe Verwaltungsarbeit bisweilen von einem der Mitglieder übernommen werden kann.

 

Je größer ein Verband ist, umso größer ist auch die Gefahr, dass sich die Interessen der einzelnen Mitglieder unterscheiden. Aber auch unabhängig von der Mitgliederstärke gilt für die Unternehmungen, dass ihre Interessen im Hinblick auf die Beschäftigung von Arbeitnehmern eher gleichgerichtet sind, alle Unternehmungen haben ein Interesse daran, die Lohnkostensumme so gering wie möglich zu halten.

 

Die Interessen der Arbeitnehmer sind demgegenüber vielfältiger und auch widersprechender, sie sind nicht nur an steigenden Löhnen, sondern auch an geringen Arbeitszeiten, an der Sicherheit am Arbeitsplatz und vor allem an einem hohen Schutz vor Kündigung interessiert. Die Interessen der Facharbeitskräfte unterscheiden sich von denen der Hilfsarbeiter. Der Übergang zu einer kapitalintensiven Produktion kann zur gleichen Zeit die Lage der Hilfsarbeiter verschlechtern, da Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt werden, die Lage der Facharbeitskräfte jedoch verbessern, in dem mit dem Produktivitätsanstieg auch höhere Löhne möglich werden und auch die berufliche Tätigkeit interessanter wird.

 

Natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen den Interessen mittelständischer Unternehmungen und großen Kapitalgesellschaften. Diese Unterschiede ergeben sich vor allem dadurch, dass die Kapitalgesellschaften einen viel leichteren Zugang zu Kapitalmarktmitteln besitzen. Gerade die unterschiedliche Größe dieser Unternehmungen bringt es mit sich, dass Großbetriebe durchaus in der Lage sind, für eine vorübergehende Zeit einzelne Fachkräfte für die Verbandsarbeit abzustellen, während Kleinbetriebe auf jede einzelne Fachkraft angewiesen sind. Diese Unterschiede haben jedoch selbst wiederum zur Folge, dass die Großbetriebe sehr viel mehr Einfluss auf die Verbandspolitik nehmen können und Kleinbetriebe oftmals den Eindruck gewinnen, ihre Interessen würden von den Verhandlungsführern vernachlässigt.

 

Auch die Aufstiegsmöglichkeiten und damit der Prestigeverlust bei einer Abwahl sind bei den Arbeitgeberverbänden geringer als bei den Gewerkschaften. Im Allgemeinen ist die Arbeit im eigenen Unternehmen mit dem gleichen Prestige verbunden wie die Arbeit im Verband, so dass die Abwahl für die Abgewählten keine existenzielle Bedrohung darstellt.

 

 

 7. Direkte versus repräsentative Demokratie

 

Sobald wir ein politisches Kalkül unterstellen, bezieht sich das Problem der Machtverteilung nicht nur auf die Gruppen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wir haben nun zusätzlich zu berücksichtigen, dass auch innerhalb der Gruppen – also z. B. innerhalb der Gewerkschaft – die Macht unterschiedlich auf die Führungskräfte einerseits und die Mitglieder andererseits verteilt sein kann.

 

Wir wollen im Weiteren unterstellen, dass die Gewerkschaften eine demokratische Ordnung gewählt haben, dass also die Führungskräfte von den Mitgliedern gewählt werden. Nun unterscheidet man im Allgemeinen zwischen einer direkten und einer repräsentativen Demokratie. Innerhalb einer direkten Demokratie werden alle wichtigen Entscheidungen von den Mitgliedern selbst entschieden, während sich innerhalb einer repräsentativen Demokratie die Mitwirkung der Mitglieder im Wesentlichen auf die Wahl der Vorstände beschränkt und die eigentlich anstehenden Entscheidungen den Führungskräften obliegen.

 

In der Realität sind im allgemeinen Mischformen verwirklicht, wobei bei den Gewerkschaften – ähnlich wie bei staatlichen Organen – im Grundsatz die Form einer repräsentativen Demokratie gegeben ist, die jedoch dadurch ergänzt wird, dass bei bestimmten Entscheidungen das Votum der Mitglieder eingeholt werden muss.

 

So sehen z. B. die Satzungen wohl aller Gewerkschaften in der BRD vor, dass vor Ausrufung eines Streiks die Mitglieder selbst entscheiden müssen, ob sie einen Streik befürworten und auch dann, wenn aufgrund des Streiks ein neues Verhandlungsergebnis vorliegt, haben in der Regel die Mitglieder weiterhin zu entscheiden, ob sie mit diesem Ergebnis zufrieden sind und ob sie deshalb für eine Beendigung des Streiks votieren.

 

In der Regel darf ein Streik nur dann ausgerufen werden, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder dem Streik zustimmet. Umgekehrt sehen die Satzungen der Gewerkschaften vor, dass der Vorschlag der gewerkschaftlichen Verhandlungsführer, das erreichte Ergebnis anzunehmen, nur mit einer qualifizierten Mehrheit abgelehnt werden kann.

 

Nun könnte man die Forderung erheben, möglichst viele Entscheidungen durch die Mitglieder selbst entscheiden zu lassen, um auf diese Weise die Machtverteilung zugunsten der Mitglieder zu korrigieren. Einer solchen Forderung sind jedoch enge Grenzen gesetzt. Wir müssen nämlich berücksichtigen, dass ein Konflikt zwischen dem Ziel einer möglichst starken Beteiligung der Mitglieder und der Effizienz der Tarifverhandlungen besteht. Dass Lohnverhandlungen in Gremien geführt werden, in welchen alle Mitglieder der Gewerkschaften und der Arbeitgeber vertreten sind, ist bereits wegen der Anzahl der Mitglieder kaum zu verwirklichen.

 

Auch dann, wenn man verlangen wollte, dass die Verhandlungsführer nur mit einer von den Mitgliederversammlungen präzisierten Marschroute die Verhandlungen führen dürften und wenn darüber hinaus jedes Zugeständnis von der Mitgliederversammlung genehmigt werden müsste, käme es wohl kaum zu einem endgültigen von beiden Seiten akzeptierten Verhandlungsergebnis. Die Stärke eines Tarifpartners äußert sich eben darin, dass in den Forderungen Einigung besteht und dass der einzelne Verhandlungsführer schnell entscheiden kann und auch berechtigt ist, bindende Zugeständnisse zu machen.

 

Auf der einen Seite steigen die mit einer direkten Demokratie verbundenen Kosten stark an, es müssen zeitraubende Diskussionen vorgesehen werden, diese müssen vorbereitet werden, es müssen Räume angemietet werden, usw. usf. Auf der anderen Seite ist die Materie so komplex, dass es im Interesse der Mitglieder liegen muss, dass die Verhandlungsführung bei Führungskräften liegt, welche spezielles Wissen und Fertigkeiten aufweisen.

 

Wir kommen also zu dem Ergebnis, dass der Versuch durch Ausweitung der Anteile einer direkten Demokratie im Hinblick auf das Interesse der Mitglieder einem Pyrrhussieg gleichkäme. Ein Mehr an Beteiligung an den laufenden Entscheidungen würde mit einer starken Schwächung der Position der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern erkauft werden.

 

 

  8. Streik und andere Privilegien

 

Für die Verteilung der Macht zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern spielt das Arbeitskampfrecht eine entscheidende Rolle. Wie vor allem John Richard Hicks in seiner Lohntheorie gezeigt hat, sind es die Befürchtungen eines Streikausbruchs, welche die Arbeitgeber veranlassen, den Lohnforderungen der Gewerkschaften entgegenzukommen.

 

Das Recht der Arbeitnehmer zu streiken wurde für so wichtig gehalten, dass es neben dem Recht der Arbeitnehmer, sich in Gewerkschaften zusammen zu schließen, grundgesetzlich geschützt ist. Der Grund für diese Ausnahmeregelung liegt in erster Linie darin, dass man historisch gesehen von einer Monopolstellung der Arbeitgeber auf den Arbeitsmärkten ausging, der man ein Gegengewicht entgegenstellen wollte.

 

Die Monopolstellung der Arbeitgeber auf den Arbeitsmärkten erklärte sich zu Beginn der Industrialisierung damit, dass ein Arbeitnehmer in seiner Wohngemeinde nur in ganz wenigen Unternehmungen eine Anstellung finden konnte und dass das Verkehrsnetz noch nicht so ausgebaut war, dass die Arbeitnehmer auch in Nachbargemeinden eine Beschäftigung finden konnten. Diese Behinderungen sind aufgrund des Ausbaus der Verkehrsnetze heute sicherlich nicht mehr allgemein gegeben.

 

Trotzdem muss auch heute noch davon ausgegangen werden, dass vor allem in Großbetrieben der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber unterlegen ist; der Abschluss eines Arbeitsvertrages ist für den einzelnen Arbeitnehmer eine einmalige Angelegenheit, während der Arbeitgeber eine Vielzahl von Abschlüssen von Arbeitsverträgen zu bewerkstelligen hat, für ihn ist es eine Routinearbeit, er hat einen ausgebauten Verwaltungsapparat zur Verfügung und ist gerade deshalb dem einzelnen Arbeitnehmer überlegen.

 

Dadurch, dass die Arbeitnehmer das Recht zu streiken haben, wird zwar die einseitige Monopolstellung des Arbeitgebers vermindert; das Pendel kann jedoch hierdurch unter Umständen auch in die andere Richtung ausschlagen und den Gewerkschaften auf den Arbeitsmärkten eine Vormachtstellung einräumen, welche unter Umständen eine effiziente Produktion mit einer Ausrichtung an den Konsumentenbedürfnissen verhindert.

 

Gerade aus diesen Gründen erlaubt das Grundgesetz in der BRD den Arbeitgebern, einem Streik mit der Aussperrung der Arbeitnehmer zu begegnen. Auf diese Weise soll die Verteilung der Macht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern so austariert werden, dass von einer ausgewogenen Verteilung der Macht ausgegangen werden kann.

 

Allerdings ist das Recht, Arbeitnehmer auszusperren eingeschränkt. Auf der einen Seite gibt es Länderverfassungen, in denen ex pressis verbis eine Aussperrung verboten ist. Auf der anderen Seite haben die Arbeitsgerichte festgesetzt, dass nur sogenannte Abwehraussperrungen rechtens sind, die also in Antwort auf einen bereits eingetretenen Streik verhängt werden. Man ging davon aus, dass Tarifverträge nur von Arbeitnehmern gekündigt werden, um erhöhte Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen zu erkämpfen und dass es deshalb auch nicht berechtigt sei, dass die Arbeitgeber in einem ersten Schritt zu dem Mittel der Aussperrung greifen.

 

Ein Streik besteht in einer vorübergehenden kollektiven Arbeitsniederlegung; da der Streik grundgesetzlich geschützt ist, darf einem Arbeitnehmer auch nicht aufgrund einer Beteiligung am Streik gekündigt werden. Eine Aussperrung besteht analog hierzu darin, dass die Beschäftigung von Arbeitnehmern kollektiv vorübergehend ausgesetzt wird und dass deshalb während dieser Zeit auch kein Lohn ausgezahlt wird, ohne dass jedoch das Arbeitsverhältnis hierdurch beendet wird.

 

Auch Arbeitnehmer, welche sich nicht am Streik beteiligen, können von einer Aussperrung betroffen werden. Wenn diese Arbeitnehmer keiner Gewerkschaft angehören, erhalten sie auch während der Dauer des Streiks von den Gewerkschaften kein Streikgeld; da die vorübergehende Arbeitslosigkeit durch einen Arbeitskampf ausgelöst wurde, besitzen die vom Arbeitskampf betroffenen Arbeitnehmer (in der streikenden Branche) auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld.

 

Da es in der BRD an einem Ausführungsgesetz mangelt, welches festlegt, worin die Grenzen des grundgesetzlich geschützten Arbeitskampfrechtes liegen, haben die obersten Arbeitsgerichte Kriterien entwickelt, welche beim Ausbruch von Arbeitskampfmaßnahmen zu beachten sind. Es sind dies vor allem die Prinzipien der Kampfparität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, wobei die angestrebten Ziele mit den durch den Arbeitskampf verursachten Schäden verglichen werden müssen, weiterhin die Prinzipien der Neutralität des Staates (der Staat darf nicht in den Arbeitskampf eingreifen und keine Maßnahmen durchführen, welche sich zuungunsten eines der Tarifpartner auswirken) und schließlich das Prinzip der Friedenspflicht (während der Dauer der Tarifverhandlungen darf nicht gestreikt werden).

 

 

 9. Wohlfahrtstheoretische Überlegungen

 

Bei unseren bisherigen Überlegungen beschränkten wir uns auf die Frage, welche Faktoren tatsächlich die Macht und Einkommensverteilung beeinflussen, ob in der Realität ökonomische oder politische Bestimmungsgründe vorherrschen. Wir wollen zum Abschluss kurz auf die Frage eingehen, welche Macht- und Einkommensverteilung denn aus wohlfahrtspolitischen Gründen erwünscht ist.

 

Es kann kein Zweifel bestehen, dass diese normativen Fragen in der Diskussion zwischen Böhm-Bawerk und Tugan-Baranovsky durchaus eine Rolle gespielt haben. Böhm-Bawerk ging es – wie den meisten Neoklassikern – auch darum aufzuzeigen, dass eine an ökonomischen Kriterien (und zwar an der Grenzproduktivität) ausgerichtete Einkommensverteilung am ehesten zu einem Wohlfahrtsoptimum beiträgt. Andererseits ging Tugan-Baranovsky von der Überzeugung aus, dass der politische Einsatz der Gewerkschaften zu einer Einkommensverteilung führt, welche der Marktverteilung überlegen ist.

 

Wenn wir nach dem normativen Aspekt des Machtproblems fragen, lassen sich zwei Fragestellungen unterscheiden, die Frage nach den unerwünschten Sekundärwirkungen und die Frage nach einer gerechtfertigten Verteilung der Macht.

 

Im Hinblick auf die erste Frage geht es vor allem um das Problem, ob durch Machteinsatz herbeigeführte Veränderungen in der Einkommensverteilung zu Fehlallokationen führen. Im Allgemeinen geht man in der Wohlfahrtstheorie davon aus, dass nahezu jede Änderung in der Verteilung auch negative Rückwirkungen auf die Produktionslenkung hat.

 

Der Grund hierfür liegt darin, dass der Lohnsatz – oder ganz allgemein – die Faktorpreise nicht nur über die Verteilung der Einkommen, sondern auch über die Ausrichtung der Produktion mitentscheiden. Da man nachweisen kann, dass gerade bei vollständiger Konkurrenz (und bei Nichtvorhandensein externer Effekte) eine optimale Ausrichtung der Produktion an den Bedürfnissen der Konsumenten erfolgt, muss jede Abweichung in den tatsächlichen Lohnsätzen notwendigerweise zu Fehlallokationen führen.

 

Nun haben wir allerdings gesehen, dass im bilateralen Monopol unter gewissen Voraussetzungen die Allokation der bei vollständiger Konkurrenz entspricht. Dies bedeutet, dass Lohnveränderungen unter diesen Voraussetzungen allokationsneutral sind. Zu diesen Voraussetzungen zählt einmal, dass die Tarifpartner eine Strategie der schrittweisen Annäherung wählen und zum andern, dass die Produktions- und Nutzenfunktionen homogen (bzw. homothetisch) verlaufen.

 

Die Annahme homothetischer Nutzenfunktionen ist äußerst umstritten. Sie widerspricht dem Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen des Einkommens. Wenn dieses Gesetz gültig ist – und dies ist die Annahme der meisten Nutzentheoretiker –, dann verläuft die Kontraktkurve eben nicht parallel zur Ordinatenachse und dann treten auch im bilateralen Monopol Abweichungen der Allokation vom Zustand der allgemeinen Konkurrenz ein. Es bleibt somit unter realistischen Annahmen bei der These, dass durch Macht veränderte Lohnsätze Fehlallokationen auslösen.

 

Natürlich ist damit nur ausgesagt, dass einem u. U. positiven Einkommenseffekt ein negativer Allokationseffekt entspricht. Es bedarf eines politischen Werturteils, das wissenschaftlich weder bewiesen noch widerlegt werden kann – ob die positiven Einkommenseffekte höher oder geringer eingeschätzt werden als die negativen Allokationseffekte.

 

Wenden wir uns zum Abschluss der Frage nach einer gerechtfertigten Einkommensverteilung zu. Auch hier gilt a fortiori, dass die Frage nach einer gerechten Verteilung eine politisch zu entscheidende Wertfrage darstellt. Liberale Wirtschaftstheoretiker gehen im Allgemeinen davon aus, dass ein Lohnsatz, der ohne Machteinfluss auf den Märkten zustande kommt und deshalb dem Wertgrenzprodukt der Arbeit entspricht als zumindest ‚fair’ eingestuft werden könne, da hier der Lohnsatz dem Beitrag der Arbeit zum Inlandsprodukt und damit dem Leistungsprinzip entspricht.

 

Natürlich wird im Allgemeinen sehr wohl davon ausgegangen, dass bei der Einkommensverteilung neben der Leistung auch der Bedarf berücksichtigt werden sollte. Es wird aber in der Regel eingeräumt, dass das Bedarfsprinzip (der Familienlastenausgleich und soziale Sicherheit) nicht allein durch den Markt, sondern nur durch nachträgliche Korrekturen erreicht werden kann.