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  Christliche Religion zwischen Liberalismus und Sozialismus

 

 

 

Gliederung:

 

1. Einführung

2. Gemeinsamkeiten zwischen christl. Glauben und Sozialismus

3. Unterschiede zwischen christlichem Glauben und Sozialismus

4. Unterschiede zwischen christlichem Glauben und Liberalismus?

5. Gemeinsamkeiten zwischen christl. Glauben und Liberalismus

6. Unterschiede zwischen Liberalismus und Sozialismus

7. Schlussbemerkungen

 

 

 

4. Unterschiede zwischen christlichem Glauben und Liberalismus?

 

Nach einer weitverbreiteten Meinung tritt der Liberalismus als Vertreter einer freien Marktwirtschaft für Egoismus, ein Streben allein nach größtmöglichem Gewinn unter Hintanstellung des Allgemeinwohls ein und ist für eine Ausbeutung der Arbeiter durch die Unternehmer und Manager, also für eine generelle Haltung verantwortlich, welche allein dem Streben nach materiellen Vorteilen folgt.

 

Richtig an diesen Vorstellungen ist, dass die Physiokraten, die Vertreter liberaler Ideen in Frankreich im ausgehenden 18. Jahrhundert für ein laisser faire, also für ein Wirtschaftssystem eintraten, welches von staatlicher Regulierung weitgehend befreit sein sollte und dass der Frühliberalismus in Großbritannien für Freihandel, vor allem für eine Abschaffung der Importzölle eintrat und sich gegen eine umfassende Kontrolle des Staates aussprach und der Überzeugung war, dass der freie vom Staat weitgehend unbehelligt gelassene Markt sehr viel besser als eine staatliche Planbehörde in der Lage sei, die Produktion an den Wünschen der Konsumenten auszurichten.

 

Richtig ist auch, dass einige führende Vertreter des englischen Frühliberalismus wie etwa Jeremy Bentham eine utilitaristische Weltanschauung vertreten haben, wonach das größtmögliche Glück für eine größtmögliche Anzahl von Menschen nicht nur das wichtigste Motiv der wirtschaftenden Menschen darstelle, sondern dieses lustbetonte Verhalten auch als das wichtigste einer Gesellschaft aufgegebene Ziel propagiert wurde. Bernard de Mandeville, ein weiterer Vertreter des Frühliberalismus vertrat sogar in seiner berühmten Bienenfabel die Auffassung, dass Neid, Habgier und Gewinnsucht letztendlich das Gemeinwohl herbeiführten und deshalb nicht verabscheuungswürdig seien.

 

Aber bereits Adam Smith, der als eigentlicher Begründer des Frühliberalismus und der modernen Nationalökonomie gilt, hat sich deutlich von diesen utilitaristischen Ideen abgegrenzt. Nicht Unmoral und verantwortungsloses, egoistisches Verhalten wird bei ihm verherrlicht, vielmehr ging es Adam Smith beim Eintreten für eine freie Marktwirtschaft in erster Linie darum, eigenverantwortliches Verhalten der einzelnen Unternehmer und Konsumenten zu fördern, die Menschen dazu zu erziehen, dass sie für ihr eigenes Wohl zunächst selbst verantwortlich sind und nicht darauf vertrauen, dass ein allmächtiger Staat in die höchstpersönlichen Belange der einzelnen Menschen hinein regiere.

 

In dieser Hinsicht kommt jedoch Adam Smith der christlichen Soziallehre mit ihrer Forderung nach Subsidiarität sehr nahe. Entsprechend dem von Vertretern der christlichen Soziallehre entwickelten Subsidiaritätsprinzip ist das einzelne Individuum und sind die untergeordneten Gemeinschaftsformen wie vor allem die Familie und die Gemeinde für die anstehenden Entscheidungen selbst verantwortlich und sollen nur dort Hilfe von Seiten des Staates erhalten, wo die untergeordneten Instanzen bei der Bewältigung der Aufgaben überfordert sind.

 

Darüber hinaus sollen sich diese staatlichen Maßnahmen nach Möglichkeit auf eine Hilfe zur Selbsthilfe beschränken. Sinngemäß verlangt auch der Liberalismus bezogen auf die Lösung wirtschaftlicher Probleme, dass die anstehenden Entscheidungen soweit wie möglich von den einzelnen Produzenten und Konsumenten entschieden werden und dass ein staatliches Eingreifen nur dort zu erfolgen hat, wo die Gemeinwohlziele in Gefahr sind; wiederum wird auch hier die Forderung erhoben, dass dieses staatliche Eingreifen die Entscheidungsfähigkeit der einzelnen Individuen nicht abtöten darf, dass der Staat sich marktkonformer Eingriffe zu bedienen habe, welche nur auf indirekte Weise, durch Einflussnahme der wirtschaftlichen Daten, die Ergebnisse des Marktes korrigieren, die eigentliche Entscheidung jedoch nachwievor dem Einzelnen überlassen sollen.

 

Bereits Alois Schumpeter hat darauf aufmerksam gemacht, dass die liberalen Ideen zwar von einigen Liberalen im Gewande eines Utilitarismus vorgetragen wurden, dass der Liberalismus jedoch zu keiner Zeit das eigentliche Grundproblem jeder Wirtschaftstheorie an diese in der Tat fragwürdige Weltanschauung verraten hätte. Die Aufgabe jeder Wirtschaftstheorie beschränke sich auf die Beantwortung der Frage, wie sich Knappheit an materiellen Ressourcen überwinden lässt und auf welchem Wege sich trotz Knappheit die einem Wirtschaftssystem aufgegebenen Ziele am effizientesten lösen lassen. Auch und gerade der Liberalismus habe zu dieser Frage entscheidende Lösungsvorschläge unterbreitet und zum besseren Verständnis eines marktwirtschaftlichen Systems beigetragen.

 

Darüber hinaus gilt es daran zu erinnern, dass auch der Liberalismus in der Zwischenzeit weiterentwickelt wurde und dass die wichtigsten Vertreter dieses Neoliberalismus allen voran Walter Eucken und Alfred Müller-Armack in christlichem (protestantischem) Glauben tief verwurzelt waren und ihr Eintreten für eine Marktwirtschaft nicht nur als vereinbar mit ihrem christlichen Glauben hielten, sondern gerade eine marktwirtschaftliche Ordnung im Gegensatz zu einer Zentralverwaltungswirtschaft als die einzige Lösung ansahen, welche auch die Verwirklichung christlicher Werte ermöglichen kann.

 

Im Zusammenhang mit der moralischen Bewertung eines marktwirtschaftlichen Systems gilt es als erstes festzustellen, dass der Markt im ethischen Sinne neutral ist, die Ergebnisse des Marktes sind so gut oder auch so schlecht, wie die Menschen gut oder schlecht sind, welche sich des Marktes bedienen. Ein Markt beschränkt sich auf die Aufgabe, ein vorgegebenes Ziel, welches zu seiner Verwirklichung knapper Ressourcen benötigt, so effizient wie möglich zu realisieren.

 

Das Marktgeschehen kann dazu benutzt werden, mit einem begrenzten Spendenaufkommen eine möglichst große Hilfe für Notleidende Menschen zu organisieren. Ein Markt kann aber auch dafür verwandt werden, um fragwürdige, verbrecherische und mafiose Geschäfte zu betreiben. In dem ersten Falle handelte es sich um moralisch sehr hochstehende, im zweiten Fall hingegen um eindeutig verbrecherische Zielsetzungen. Nicht der Markt, sondern der handelnde Mensch bestimmt, für welche Ziele das wirtschaftliche System benutzt wird.

 

An zweiter Stelle ist darauf hinzuweisen, dass die einer Gesellschaft übertragenen Aufgaben in der modernen Welt arbeitsteilig gelöst werden. Wir haben in den kulturellen Einrichtungen Gesellschaftssysteme, welche primär für die Aufrechterhaltung und Förderung der kulturellen Werte und damit auch für die geltende Moral verantwortlich sind. Andere Gesellschaftssysteme, wie die Marktwirtschaft, sind demgegenüber primär nur für einen effizienten Einsatz der knappen Ressourcen und nicht zur Förderung moralischer Standards verantwortlich. Dies bedeutet aber auch, dass immer dann, wenn sich in unserer gesamten Gesellschaft amoralische Verhaltensweisen breit machen, die erste Verantwortung hierfür beim kulturellen System liegt, dieses System und nicht primär die Marktwirtschaft hat in diesem Falle seine bzw. ihre primäre Aufgabe verfehlt.

 

Wenn man z. B. feststellt, dass weltweit Güter produziert werden, bei denen Kinderarbeit eingesetzt wird und die Arbeiter zu einem Hungerlohn entlohnt werden, liegt das eigentliche Versagen bei den kulturellen Systemen, denen es offensichtlich nicht gelungen ist, in der Bevölkerung eine Haltung zu erzeugen, solche Produkte gar nicht nachzufragen. Fände sich in der Bevölkerung keine ausreichende Nachfrage nach solchen Produkten, unterbliebe eine solche fragwürdige Produktion schon deshalb, weil die Unternehmer, welche solche Produkte anbieten, auf ihren Waren sitzen blieben, Verluste erzielten und deshalb sehr schnell solche fragwürdigen Produktionsmethoden von selbst aufgeben würden.

 

Natürlich ist es richtig, dass man auch von verantwortungsvollen Unternehmungen verlangen sollte, dass sie die Produktion mit solchen fragwürdigen Produktionsmethoden gar nicht aufnehmen sollten. Aber auch hier muss die Tatsache, dass es zahlreiche Unternehmer gibt, welche sich dieser Methoden bedienen, zunächst auf ein Versagen der kulturellen Systeme zurückgeführt werden.

 

In Wirklichkeit beginnen hier erst die eigentlichen Probleme. Wenn es nämlich den kulturellen Systemen nicht gelingt, amoralisches Verhalten zurückzudrängen und wenn also amoralisches Verhalten nicht nur ausnahmsweise erfolgt, sondern zur Regel wird, gehen von diesem Misslingen starke Anreize zu einer Verbreiterung amoralischen Verhaltens aus. Götz Briefs sprach in diesem Zusammenhang von Grenzmoral. Wenn sich nämlich Unternehmer dadurch, dass sie sich an bestimmte moralische Regeln nicht halten, Kostenvorteile versprechen können, besteht die Gefahr, dass gerade die moralisch bewussten Unternehmer aus dem Markt gedrängt werden.

 

Nehmen wir als Beispiel die Forderung nach einem familiengerechten Lohn, nachdem der Arbeitnehmer, welcher Kinder mitzuernähren hat, einen höheren Lohn als sein Arbeitskollege, der die gleiche Arbeit verrichtet, aber ledig ist, zu beanspruchen hat. Nehmen wir einmal an, dass ein großer Teil verantwortungsbewusster Unternehmer einen solchen familiengerechten Lohn auszahlt, dass aber ein anderer beachtlicher Teil von Konkurrenten diese Familienzuschläge nicht auszahlt, da keine gesetzliche Verpflichtung zur Auszahlung eines Familienlohnes bestünde.

 

Die Unternehmer, welche nun keine Familienzuschläge zum Lohn gewähren, können damit ihre Produkte zu geringeren Kosten produzieren und zu geringeren Preisen anbieten, mit der Folge, dass die bisherigen Kunden der verantwortungsvollen Unternehmer zu den Wettbewerbern mit der mangelnden Moral überwechseln. Um einen Konkurs zu verhindern, werden immer mehr Unternehmer, welche bisher verantwortungsvoll handelten, die moralisch fragwürdigen Verhaltensweisen übernehmen. Die moralischen Vorstellungen derjenigen Unternehmer, welche die geringsten moralischen Standards einhalten (daher der Name Grenzmoral) bestimmen in diesem Falle langfristig das Geschehen.

 

Wenn nun der Staat die Gewährung von Familienzuschlägen per Gesetz verlangen würde, erhielten zwar die Arbeitnehmer mit Kindern einen familiengerechten Lohn, soweit sie eine Beschäftigung erlangt haben. Aber immer dann, wenn die Entlassung oder auch die Neueinstellung von Arbeitskräften anstehen würde, würden sich die Arbeitnehmer mit Kindern erneut schlechter stellen als ihre ledigen Kollegen, da ein Unternehmer mit einer fragwürdigen Moral wiederum Kosten einsparen könnte und dadurch einen Wettbewerbsvorteil erlangen könnte, dass er vorwiegend nur ledige Arbeitnehmer beschäftigen würde.

 

Eine Lösung aus diesem Dilemma lässt sich nur dadurch erreichen, dass der Staat von sich aus ein Kindergeld gewährt. Es gibt in jeder Marktwirtschaft Probleme wie z. B. den Familienlastenausgleich, die nur durch staatliche Maßnahmen befriedigend geregelt werden können.

 

Ganz generell müssen wir davon ausgehen, dass jedes marktwirtschaftliche System einer Ordnung bedarf, gerade deshalb spricht man auch im Rahmen des Neoliberalismus von einem Ordoliberalismus. Jedes menschliche Geschehen erfordert gewisse allgemein gültige Spielregeln und diese bestehen darin, dass bestimmte faktische Handlungen verboten werden. Es ist selbstverständlich, dass sich Unternehmer zur Maximierung ihrer Gewinne weder des Diebstahls, des Betrugs, der Steuerhinterziehung oder anderer in einem Rechtsstaat verbotenen Methoden bedienen dürfen wie es auch selbstverständlich ist, dass auch jeder Konsument alle Verhaltensweisen zu unterlassen hat, welche aus moralischen oder gesetzlichen Gründen nicht erwünscht sind.

 

Nicht der Umstand, dass jedes funktionierende Gesellschaftssystem bestimmter Verbote bedarf, schränkt die Freiheit der Bürger entscheidend ein. Wenn aus der Vielzahl möglicher Verhaltensweisen einige wenige als nicht erlaubt eingestuft werden, so verbleiben dem Handelnden nach wie vor zahlreiche andere erlaubte Möglichkeiten. Der Unternehmer wird nicht gezwungen, bestimmte Produkte herzustellen, es wird ihm auch nicht generell verboten, Güter zu produzieren, er kann in aller Regel nach wie vor zwischen verschiedenen Produkten und verschiedenen Produktionstechniken jene Alternative auswählen, welche ihm seine individuellen Ziele am bestmöglichen garantieren, er kann auch wiederum in gewissen Grenzen nachwievor über die Höhe des Preises entscheiden.

 

Eine konstitutive Beschränkung der Freiheit würde nur dann vorliegen, wenn der Staat eine ganz bestimmte Entscheidung als einzig erlaubte Handlungsweise vorschreiben würde, nicht die Verbote, sondern die Gebote zerstören die Freiheit. Selbst dann, wenn der Staat alle bisher bekannten Verhaltensweisen verbieten sollte, bliebe dem einzelnen (Unternehmer oder Konsumenten) immer noch vorbehalten, nach neuen, bisher nicht bekannten Wegen Ausschau zu halten. Diese Freiheit zur Innovation wird erst dort aufgehoben, wo der Staat nach der Maxime handelt: „verboten ist alles, was nicht eigens erlaubt ist“. Hier wäre es auch verboten, nach neuen Wegen zu suchen, falls diese nicht ausdrücklich vom Staat zuvor erlaubt worden wären.

 

Auch die Vorstellung, dass in einer Marktwirtschaft schon deshalb das Gemeinwohl vernachlässigt werde, weil die Marktteilnehmer primär das Ziel verfolgen, ihren Gewinn oder Nutzen zu vergrößern, geht an dem eigentlichen Problem vorbei. Es ist klar zu unterscheiden zwischen den Motiven, welche die Handelnden bewegen und den objektiven Auswirkungen, welche dieses Handeln im Hinblick auf das allgemeine Wohl der Gemeinschaft hervorruft.

 

Der Liberalismus war stets bemüht, aufzuzeigen, dass in einer funktionierenden Marktwirtschaft die Einzelinteressen so kanalisiert werden, dass die Unternehmer gerade dann ihren Gewinn maximieren, wenn die Produkte den Bedürfnissen der Konsumenten bestmöglich entsprechen. Natürlich erfüllt eine Marktwirtschaft nur dann diese Koordination, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. So sind die positiven Wirkungen auf das Gemeinwohl nur dann zu erwarten, wenn zwischen den Unternehmungen ein intensiver Wettbewerb herrscht und wenn in die Kalkulationsrechnungen der Unternehmer alle Kosten eingehen, welche einer Volkswirtschaft im Zusammenhang mit der Produktion entstehen.

 

Der Liberalismus glaubte sogar nachgewiesen zu haben, dass die Gemeinwohlbelange in einer so funktionierenden Marktwirtschaft insgesamt besser erfüllt werden als in einer staatlichen Planwirtschaft, in welcher von den Politikern und Beamten die Forderung erhoben wird, bei allen ihren Entscheidungen das Gemeinwohl anzustreben. Es besteht nämlich stets die Gefahr, dass Politiker nur vorgeben, das Gemeinwohl anzustreben, dass sie aber trotzdem in ihre eigne Tasche wirtschaften.

 

Es ist auch zu berücksichtigen, dass ein wohlmeinender Staatsbeamte gar nicht wissen kann, was dem Einzelnen gut tut. Schließlich fehlen den Beamten und Politikern die finanziellen Anreize, die Produktion an den Konsumentenwünschen auszurichten, da auf der einen Seite der Beamte bei Erfolg keine finanzielle Entlohnung erhält, auf der anderen Seite bei Misserfolg auch nicht für die angerichteten Schäden mit seinem eigenen Vermögen haftet.

 

Nun hat es trotz dieser Überlegungen, die zu belegen scheinen, dass der christliche Glaube marktwirtschaftliches Verhalten nicht von vornherein ausschließt, den Anschein, als würden einige Stellen aus dem Neuen Testament den christlichen Glauben in einen kaum lösbaren Widerspruch zu dem marktwirtschaftlichen Verhalten der Unternehmer bringen. Gedacht wird hierbei vor allem an das Gleichnis und die Aussage, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen könne, als dass ein Reicher in das Himmelreich eingehe. Bei Matthäus Kapitel 19,23-30 erfahren wir:

 

23 ‚Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: Amen, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.

24 Nochmals sage ich euch: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.

25 Als die Jünger das hörten, erschraken sie sehr und sagten: Wer kann dann noch gerettet werden?

26 Jesus sah sie an und sagte zu ihnen: Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich.

27 Da antwortete Petrus: Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen?

28 Jesus erwiderte ihnen: Amen, ich sage euch: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.

29 Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen.

30 Viele aber, die jetzt die Ersten sind, werden dann die Letzten sein, und die Letzten werden die Ersten sein. 

 

Besondere Beachtung fand in diesem Gleichnis wie bereits gesagt die Feststellung von Jesus, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Himmelreich komme. Würde man diese Aussage wortwörtlich nehmen, hieße dies, dass kein einziger Reicher schließlich ins Himmelreich gelangen könne. Denn es ist ganz ausgeschlossen, dass ein Kamel und mag es noch das kleinste auf der Welt sein, je durch ein tatsächlich existierendes Nadelöhr schlüpfen kann, mag das Nadelöhr noch so groß sein.

 

Diese Feststellung widerspricht jedoch eindeutig der oben angeführten Bibelstelle über Zachäus, in der Jesus zu Zachäus sagte: ‚Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.‘ Wenn Zachäus das Heil geschenkt wurde und wenn auch er als Sohn Abrahams bezeichnet wird, ist auch er – trotz seines Reichtums – ein Anwärter auf das jenseitige Reich Gottes.

 

Aber die Feststellung, dass kein einziger Reicher in das Himmelreich gelangen kann, steht auch bereits in Widerspruch zu dem Einleitungssatz dieses Gleichnisses: ‚Amen, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.‘ Wenn etwas schwer ist, dann ist es nicht unmöglich, dann bedarf es zwar einiger Anstrengungen eines Reichen, aber wenn er sich Mühe gibt, kann er es sehr wohl erreichen, ins Reich des Himmels einzugehen.

 

Vor allem aber stünde eine solche Feststellung, kein einziger Reicher gelange ins Himmelreich, in eindeutigem Widerspruch zu der Antwort, welche Jesus seinen Jüngern gab, als diese über dieses Gleichnis vom Kamel, das durch kein Nadelöhr geht, entsetzt waren: ‚Jesus sah sie an und sagte zu ihnen: Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich.‘ Danach kann sehr wohl auch ein Reicher mit Gottes Hilfe ins Himmelreich eingehen.

 

Aber auch die Art und Weise, wie Jesus das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr einleitet, verbietet eigentlich diese Feststellung, kein Reicher gelange ins Himmelreich. Jesus hatte in einem ersten Satz davon gesprochen, dass es ein Reicher schwer habe, ins Himmelreich einzugehen. Dies bedeutet, dass es keinesfalls ausgeschlossen ist, dass je ein Reicher in das Reich Gottes gelange. Jesus fährt dann fort: ‚Nochmals sage ich euch‘, um dann das Bild vom Kamel anzuschließen.

 

Wollte Jesus mit dem Vergleich mit dem Kamel aussagen, dass kein einziger Reicher das Himmelreich erreiche, hätte er vielleicht fortfahren können: ‚nein es ist nicht nur schwierig, sondern sogar unmöglich, für einen Reichen ins Himmelreich einzugehen, die Unmöglichkeit würde dann in mehreren sich steigernden Schritten aufgezeigt. In Wirklichkeit sagt Jesus jedoch, nochmals sage ich euch, er bringt damit zum Ausdruck, dass er den Inhalt der ersten Aussage (es ist schwierig) wegen der Wichtigkeit der Aussage wiederholen möchte, indem er ein Bild benutzt, das jeder Zuhörer sofort erkennen kann.

 

Wir dürfen also mit anderen Worten den Ausspruch über den Reichen und das Kamel nicht wörtlich verstehen. Es wurden nun Versuche unternommen, diese Bibelstelle umzuinterpretieren. So wurde die Meinung geäußert, das Nadelöhr sei ein volkstümlicher Name für eine besonders enge Mauerpforte in der Stadtmauer Jerusalems. Durch diese Mauerpforte könne zwar ein Kamel zur Not durchgedrängt werden, aber eben nur mit großen Anstrengungen. Leider ist es vollkommen unklar, ob diese Mauerpforte zur Zeit Jesu schon existiert hatte.

 

Andere wie z. B. auch die jüdische Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide haben darauf hingewiesen, dass hier ein Lesefehler vorliege, das Wort ‚κάμιλος‘ heiße Seil und sei mit dem Wort ‚κάμηλος‘ (was Kamel bedeutet) verwechselt worden. Das in diesem Gleichnis verwendete Bild weise also darauf hin, dass das Anbringen der Seile an die Fischernetze äußerst schwierig sei.

 

Mir scheint auch diese Interpretation nicht überzeugend. Es ist allenfalls denkbar, dass eine solche Verwechslung vorgenommen wurde, es ist aber keinesfalls bewiesen, dass im Urtext oder sogar bei Jesus selbst von einem ‚κάμιλος‘, also einem Seil und nicht doch von einem ‚κάμηλος‘, also einem Kamel gesprochen wurde.

 

Vor allem wird bei einer solchen Interpretation unverständlich, weshalb Jesus im Zusammenhang mit diesem Bild noch davon spricht, dass es ein Reicher schwer, ja sogar sehr schwer hat, ins Himmelreich zu gelangen. Es mag zwar für jemand, der nicht im Fischereibereich beschäftigt ist, äußerst schwierig sein, das Seil an ein Fischernetz anzubringen. Für einen gelernten Fischer dürfte diese Aufgabe jedoch kein unlösbares Problem darstellen, das Anbringen der Seile an das Fischernetz gehörte sicherlich zu den täglichen Aufgaben eines Fischers. Und wenn wir diese Feststellung unserer Interpretation dieses Gleichnisses zugrunde legen, heißt dies doch, dass jeder Reiche (Fischer), der sein Handwerk ordnungsgemäß erlernt hat, durchaus die Voraussetzungen mitbringt, um schließlich ins Himmelreich einzugehen.

 

Vor allem steht der Versuch, anstelle des Kamels von einem Seil zu sprechen, in eklatantem Widerspruch zu der Reaktion, den die Jünger auf dieses Gleichnis zeigten, in dem sie Jesus entsetzt frugen, wer denn dann überhaupt noch ins Himmelreich gelangen könne. Denn wenn diese Interpretation richtig wäre, könnte jeder Reiche, sofern er sich nur etwas mühe gäbe, sehr wohl ins Himmelreich gelangen. Und Jesus hätte dann auch nicht daraufhin weisen müssen, dass für Gott auch das möglich sei, was dem Menschen unmöglich erscheine. Jesus hat an anderer Stelle sehr wohl die Jünger ermahnt, wenn sie seine Gleichnisse missverstanden haben. So hatte Jesus seine Jünger ermahnt, sich vor dem Sauerteig der Pharisäer zu hüten und als er feststellte, dass seine Jünger ihn missverstanden haben, dass sie der Meinung waren, Jesus spreche vom gesäuerten Brot, machte er sie eigens darauf aufmerksam, dass er in Wirklichkeit an die falschen Lehren der Pharisäer gedacht habe.

 

Wie haben wir also das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr zu interpretieren? Wir erinnern uns dazu, dass Jesus ganz allgemein sich einer Ausdrucksweise bedient, welche im ganzen orientalischen Raum üblich ist: Nämlich eine Lebensweisheit pointiert, das heißt zugespitzt zu formulieren, um auf diese Weise das Augenmerk des Zuhörers in besonderem Maße zu erreichen. Auf die Frage, wie oft man seinen Mitbrüdern verzeihen solle, wird dann nicht schlichtweg geantwortet, dass Gläubige immer wieder verzeihen sollen, wie oft er auch geschädigte wurde, sondern es wird die etwas blumig wirkende, plastische Ausdrucksweise gewählt: ‚Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.‘ (Matthäus Kapitel 18,21-22)

 

Und in gleicher Weise meint dann das Bild vom Kamel, das durch kein Nadelöhr passt, dass es einfach schwer, sehr schwer sogar ist, als Reicher ins Himmelreich zu gelangen.

 

Zum Verständnis dieses Gleichnisses hilft es auch, wenn man andere Gleichnisse heranzieht, die ebenfalls von den Reichen und ihren Gefahren handelt. Im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus  (Lukas 16,19-31) wird uns von einem Reichen berichtet, welcher in Saus und Braus lebte und nach seinem Tode in der Unterwelt qualvolle Schmerzen litt. Wir erfahren auch, weshalb er diese Strafe empfing: Er hatte zugesehen, wie ein Armer vor der Tür des Reichen übersät von Geschwüren gelegen hatte, ohne dass der Reiche bereit gewesen wäre, diesem Armen zu helfen. Er hat also das Gebot der Nächstenliebe gravierend verletzt, obwohl dem Reichen das Elend des Lazarus vor Augen war (Lazarus lag ja für ihn sichtbar vor seiner Haustür). Und obwohl er ohne große materielle Einschränkungen diesem Armen hätte helfen können, nahm er von Lazarus keinerlei Notiz und ließ ihn buchstäblich verrecken:

 

19  ‚Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte.

20  Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war.

21  Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.

22  Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben.

23  In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß.

24  Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer.

25  Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden.

26  Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, sodass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte.

27  Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters!

28  Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen.

29  Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören.

30  Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren.

31  Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.‘

 

Wir erfahren also in diesem Gleichnis, dass der Reiche nicht einfach deshalb nach seinem Tode bestraft wurde, weil er reich war, sondern weil er das Gebot der Nächstenliebe sträflich missachtet hatte.

 

Aufschluss darüber, wann denn ein Reicher das Himmelreich verfehlt, bringt auch das Gleichnis vom reichen Toren bei Lukas Kapitel 12,16-21:

 

16  ‚Und er erzählte ihnen folgendes Beispiel: Auf den Feldern eines reichen Mannes stand eine gute Ernte.

17  Da überlegte er hin und her: Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll.

18  Schließlich sagte er: So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen.

19  Dann kann ich zu mir selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens!

20  Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?

21  So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist.‘

 

Dieser Reiche wird von Gott als Narr beschimpft, wiederum nicht einfach deshalb, weil er reich ist, sondern weil sein ganzes Tun und Lassen einzig und allein darauf gerichtet ist, noch reicher zu werden und weil er dann diesen Reichtum allein dafür zu verwenden beabsichtigt, um sich sagen zu können:  Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens!‘.

 

Hätte er seinen Reichtum dazu benutzt, zumindest einen Teil seines Reichtums entsprechend dem Gebot der Nächstenliebe zu verwenden und wenn die Suche nach Reichtum nicht die einzige oder wichtigste Sorge seines Lebens geblieben wäre, dann hätte Jesus ihn vermutlich nicht als Narr bezeichnet, der nun einen Anspruch auf das ewige Leben gerade durch sein Tun verwirkt hatte.

 

Also kommen wir auch hier zu dem Ergebnis, dass das Reichsein als solches nicht in Widerspruch zum christlichen Glauben steht, dass erst dann, wenn ein Reicher über seine wirtschaftlichen Tätigkeiten das eigentliche und sehr viel wichtigere Ziel, nämlich schließlich ins Himmelreich einzugehen, vernachlässigt, also sich nur noch darum kümmert, immer noch reicher zu werden, das ewige Leben verwirkt hat. Dann in der Tat steht dieses Reichsein und dieses Tun in krassem Gegensatz zum christlichen Glauben.

 

 

5. Gemeinsamkeiten zwischen christl. Glauben und Liberalismus

 

Genauso wie der Sozialismus mit der christlichen Religion das gemeinsame Ziel der Fürsorge für die Armen verbindet, genauso gehört das Freiheitspostulat zu den Zielen, welche Liberalismus und christlicher Glaube gemeinsam verfolgen.

 

Der Liberalismus entstand Ende des 18. Jahrhunderts, in dem er die staatliche Bevormundung der absolutistischen Staates bekämpfte. Er richtete sich auf der einen Seite gegen die Behinderungen des Außenhandels durch Zölle und Mengenkontingente und trat für einen ungehinderten Freihandel in den wirtschaftlichen Beziehungen der Volkswirtschaften untereinander ein und sprach sich auf der anderen Seite gegen eine staatliche Bevormundung in Form von direkten Eingriffen des Staates in die wirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmer und Konsumenten aus.

 

Auch im Mittelpunkt der christlichen Lehre steht die persönliche Freiheit des Menschen, auch wenn dieses Ziel in der Heiligen Schrift zumeist nur implizit angesprochen wird und nicht als eigenständiges Ziel benannt wird. In dem Gott den Menschen im Dekalog die zehn Gebote auftrug, gab er damit kund, dass der Mensch grundsätzlich frei ist und sich aus freien Stücken zum Glauben bekennen soll.

 

Ge- und Verbote setzen immer voraus, dass der Mensch, dem diese Verbote gelten, auch anders handeln könnte, er kann die Gebote beachten oder aber auch übertreten. Und wenn Gott im Alten wie auch Neuen Testament die Menschen immer wieder auffordert, die begangenen Sünden zu bereuen und umzukehren, so setzt diese Aufforderung voraus, dass der Mensch in seinem Handeln frei ist. Man kann nur schuldig sein, wenn man frei ist, also das auch tun kann, was man tun sollte und umgekehrt auch das unterlassen kann, was man unterlassen soll. Eine Reue zu fordern, ist weiterhin nur dann berechtigt, wenn man anders hätte handeln können und eine Umkehr setzt wiederum voraus, dass man die Freiheit hat, auch umzukehren.

 

Allerdings bestehen zwischen dem Freiheitsideal des Liberalismus und der christlichen Religion auch Unterschiede. Das Handeln, für das nach den Vorstellungen des Liberalismus Freiheit gefordert wird, bezieht sich in erster Linie auf irdische Probleme, es geht primär darum, dass die einzelnen Individuen über ihre eigenen Belange frei entscheiden können.

 

Der Freiheitsbegriff der christlichen Religion hingegen bezieht sich in allererster Linie auf die Sinngebung des Menschen, also auf das Recht, sich frei für oder gegen Gott zu entscheiden, die Gebote Gottes zu achten oder zu verletzen. Die Freiheit des Menschen in religiöser Hinsicht lässt sich darauf zurückführen, dass nach den Vorstellungen der Bibel Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat und dass der Mensch deshalb im Gegensatz zu den Tieren selbst entscheiden kann, ob er das Angebot Gottes, einen Bund zwischen Gott und den Menschen zu schließen, annehmen will.

 

Während sich der Freiheitsbegriff des Liberalismus vor allem auf die Frage: „Freiheit wovon“ konzentriert, gilt das Interesse der Religion schwergewichtig der Frage: „Freiheit wozu“. Dem Frühliberalismus ging es in erster Linie darum, die vom Staat verhängte Unfreiheit zu beseitigen. Es war der Staat, der nach Meinung der Frühliberalen die individuelle Freiheit der Individuen bedroht. Mit der weiteren Frage, wozu denn eine Freiheit gefordert wird, welche Entscheidungen denn durch die Gewährung der individuellen Freiheit erreicht werden sollen, hat der Liberalismus keine Antwort, geht es ihm ja darum, dass der einzelne selbst zu bestimmen hat, was er in freier Entscheidung beschließt, die vom Liberalismus geforderte Freiheit besteht gerade darin, dass dem einzelnen Individuum niemand von außen vorschreiben sollte, wie er seine persönlichen Belange regelt, was für ihn im Einzelnen gut und weniger gut ist.

 

Bei der von der christlichen Religion geforderten Freiheit geht es gerade nicht darum, dass der Mensch sich so entscheiden sollte, wie er es selbst für richtig hält. Es ist das erklärte Ziel, dass sich alle oder möglichst viele Menschen dafür entscheiden, Gott als höchste Instanz anzuerkennen und seine Gebote zu beachten. Er soll dies eben nur nicht aus Zwang, sondern aus freien Stücken tun. Es wird also mit der Freiheit ein ganz bestimmtes, für alle Menschen gleiches Ziel angestrebt, während es dem Freiheitsbegriff des Liberalismus entspricht, dass im Prinzip jeder Mensch ein anderes Ziel verfolgen kann.

 

In der Frage, auf welchem Wege denn die einer Ordnung vorgegebenen Ziele erreicht werden, lassen sich allerdings bei der christlichen Religion sehr wohl parallele Wege zum Liberalismus feststellen. Von gewissen christlichen Sekten wird die Ansicht vertreten, dass jedes einzelne Schicksal durch die göttliche Vorsehung bis ins Einzelne genau festgelegt ist. Diese Auffassung steht jedoch in Widerspruch zu der Lehre von der Freiheit des Menschen, Gottes Gebote zu befolgen oder ihnen zuwiderhandeln.

 

Wenn der Mensch wirklich frei ist, sich also auch gegen Gott entscheiden kann, dann wäre es widersprüchlich, dass trotzdem jedes einzelne Schicksal unabhängig vom Willen und Handeln aller Menschen eindeutig nach göttlichem Plan von vornherein festgelegt sei. Freiheit bedeutet ja wohl nicht, dass der Mensch zwar von Gott die Freiheit besitzt, sich z. B. mit Mordplänen zu beschäftigen, dass er aber in dem Augenblick, in dem er diese Pläne zu realisieren versucht, wie eine Marionette an der Ausführung dieser Pläne im letzten Augenblick gehindert werde. Wäre dies so, könnte man sicherlich nicht von einer wirklichen Freiheit des Menschen sprechen. Wenn der Mensch wirklich frei ist, dann muss im Einzelfall durchaus damit gerechnet werden, dass einzelne Menschen sündigen und ihren Mitmenschen großen Schaden zufügen. Es wäre abwegig, wenn wir hier noch davon sprechen würden, dass Gott diese Tat gewollt habe.

 

Natürlich bedeutet dies nicht, dass sich Gott – so wie es der Deismus lehrt – von dieser Welt zurückzieht. Er kann – vor allem durch das Wirken des Heiligen Geistes – über das Gewissen des einzelnen Menschen sehr wohl auf die Geschehnisse einwirken, nur verfügt auch hier der Mensch über die Freiheit, sich seinem Gewissen zu verschließen und die Angebote Gottes auszuschlagen.

 

Auch können wir durchaus unterstellen, dass Gott die Möglichkeit hat, im Einzelfall auch einmal die Gesetze der Natur außer Kraft zu setzen. Wenn die Christen daran glauben, dass Gott im Schöpfungsakt ein solch komplexes Netzwerk der Naturgesetze erschaffen hat, dass es tausend und abertausend forschenden Wissenschaftlern auch nach mehreren Jahrtausenden nicht gelungen ist, die Wirkungsmechanismen der Naturgesetze vollkommen zu enträtseln, so dürfte es keine logischen Schwierigkeiten bereiten, anzunehmen, dass derselbe Gott auch die Macht besitzt, diese Naturgesetze im Einzelfall außer Kraft zu setzen.

 

Nicht die Frage, ob Gott mächtig genug ist, auch Wunder zu vollbringen, ist hier die Frage, sondern, warum Gott ganz generell die Naturgesetze außer Kraft setzen will, wo er doch zuvor eine solch komplexe Maschinerie wie die Naturgesetze erschaffen hat. Es lässt sich zwar relativ leicht verstehen, dass Naturgesetze im Ausnahmefall von Gott außer Kraft gesetzt werden. Auch wir Menschen handeln ja bisweilen nach diesem Prinzip. Wenn ich mir ein Computerprogramm zur Anfertigung von Schriftsätzen anschaffe, gibt es dennoch einen Sinn, wenn man bisweilen einen Brief mit Hand anfertigt, z. B. deshalb, um diesem Brief eine persönliche Note zu verleihen, welche mit dem Computer nicht erreicht werden könnte.

 

Es gäbe aber wenig Sinn, sich ein kostspieliges Textprogramm anzuschaffen, wenn man trotzdem jeden einzelnen Schriftsatz dennoch von Hand schreiben würde. Genauso unverständlich ist ein Glaube, Gott habe mit den Naturgesetzen automatisch wirkende Einrichtungen geschaffen, obwohl er gleichzeitig unabhängig von den Naturgesetzen über jedes einzelne Geschehen hier auf Erden die Ergebnisse eigenhändig festlegt. Viel verständlicher erscheint hier eine Interpretation, wonach Gott im Allgemeinen vorwiegend auf indirektem Wege durch das Wirken des Heiligen Geistes auf das irdische Geschehen Einfluss nimmt. Natürlich besteht über das Wirken Gottes zur Einflussnahme irdischer Vorgänge ein gar nicht endgültig lösbarer Schleier. Unsere Sinne und unser Verstand sind nur in der Lage, Endgültiges über irdische, nicht aber über metaphysische Fragen festzustellen.

 

 

6. Unterschiede zwischen Liberalismus und Sozialismus

 

Eingangs dieses Artikels hatten wir hervorgehoben, dass man nicht einfach den Sozialismus als eine Weltanschauung verstehen kann, welche allein die Gleichheit, nicht aber die Freiheit des Menschen zu verwirklichen sucht, genauso wenig wie man den Liberalismus als ein Weltbild bezeichnen kann, das nur die Freiheit, nicht aber auch die Gerechtigkeit zu seinen Grundzielen erklärt.

 

Diese Vereinfachung, dass also nur eines dieser beiden Ziele verfolgt wird, gilt allenfalls nur für die extremen Varianten dieser beiden Weltanschauungen, so hat der reale Kommunismus der Sowjetunion fast jegliche Freiheitsregungen zu unterdrücken versucht, während vor allem im Rahmen des freiheitlichen Sozialismus sehr wohl neben dem Gerechtigkeitsziel auch Ziele der individuellen Freiheit angestrebt werden. Umgekehrt gilt, dass nur in der extremen Laisser-faire-Bewegung eines Manchesterliberalismus im 19. Jahrhundert Fragen der Gerechtigkeit keinerlei Beachtung fanden, während insbesondere im Rahmen des Neoliberalismus – so vor allem bei Walter Eucken – die soziale Frage und deren Lösung sehr wohl im Mittelpunkt der Reformbestrebungen steht.

 

Wenn wir trotzdem davon ausgehen können, dass beide Richtungen, der Liberalismus und Sozialismus eine unterschiedliche Antwort im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Freiheit und Gerechtigkeit geben, liegt dies einmal daran, dass unter Freiheit und Gerechtigkeit unterschiedliches verstanden wird, dass weiterhin das Gewicht, welches diesen beiden Zielen zuerkannt wird, unterschiedlich ausfällt und dass zum letzten vor allem andere Mittel empfohlen werden, um diese Ziele zu verwirklichen.

 

Wenn ein Liberaler von Freiheit spricht, denkt er vor allem an die Forderung, dass die wirtschaftenden Individuen unbeeinflusst vom Staat darüber befinden dürfen, was sie produzieren und was sie konsumieren möchten. Ein Anhänger des Sozialismus sieht hingegen die individuelle Freiheit vor allem dadurch bedroht, dass es einem großen Teil der Bevölkerung an den materiellen Ressourcen mangelt, welche zur Realisierung der individuellen Bedürfnisse benötigt werden. Eine Umverteilung ist also in diesem Sinne auch eine Maßnahme zur Sicherstellung des Freiheitspostulates.

 

Ein Sozialist verbindet mit dem Begriff der Gerechtigkeit die Frage, wie groß die Unterschiede in der individuellen Einkommenshöhe sind, je größer der Abstand zwischen dem Einkommen der Reichen und der Armen ausfällt, um so ungerechter gilt die bestehende Verteilung der Einkommen und der Vermögen. Ein Liberaler fragt hingegen überhaupt nicht nach den Unterschieden in den Einkommen und Vermögen, für ihn hängt Gerechtigkeit einmal damit zusammen, inwieweit die Einkommensunterschiede auf eine unterschiedliche individuelle Leistung zurückgeführt werden können und darüber hinaus, ob das Einkommen der untersten Einkommensklasse in absolutem Sinne zumindest der Höhe des Existenzminimums entspricht.

 

Weiterhin gilt es zu berücksichtigen, dass die meisten in der Realität auftretenden Ungerechtigkeiten dadurch ausgelöst werden, dass die Politik eine Monopolisierung der Märkte zulässt. Aber eine einigermaßen befriedigende Einkommensverteilung kann nur dann erreicht werden, wenn auch auf allen Märkten ein intensiver Wettbewerb herrscht. Nur unter diesen Bedingungen entspricht die Entlohnung dem Leistungsprinzip, also der Forderung, dass das Leistungsangebot mit dem Ertrag entlohnt wird, den dieser Produktionsfaktor dem Gesamtprodukt (das Grenzprodukt) hinzugefügt hat. In dem Maße, in dem die Vermachtung der Märkte zunimmt, weichen die Entlohungssätze auch von ihren jeweiligen Grenzprodukten ab. Aber es ist hier nicht der Markt, sondern die Tatsache, dass es die Politik nicht erreicht hat, einen intensiven Wettbewerb herbeizuführen, welche diese unbefriedigenden Verteilungsergebnisse herbeiführt.

 

Natürlich ist es weiterhin richtig, dass Sozialisten im Allgemeinen dem Gerechtigkeitsziel den Vorrang vor dem Freiheitsziel einräumen, zur Bekämpfung von Ungerechtigkeiten kann auch einmal eine Einschränkung der persönlichen Freiheit als erwünscht angesehen werden. Und es ist genauso richtig, dass ein Liberaler in aller Regel der Verwirklichung des Freiheitszieles die größere Bedeutung zumisst und zur Garantierung dieser Freiheitsrechte durchaus auch gewisse Verletzungen des Ideals der Gerechtigkeit in Kauf nimmt.

 

Die größten Unterschiede zwischen Liberalismus und Sozialismus dürften jedoch in der Frage bestehen, auf welchem Wege denn die beiden Grundziele der Freiheit und Gerechtigkeit realisiert werden sollen. Ein Sozialist fordert im Allgemeinen, dass die verschiedenen Ziele per Gesetz (also durch unmittelbaren Eingriff in den Marktprozess) verordnet werden sollen. Man verlangt z. B. dass per Gesetz ein einheitlicher Mindestlohn für alle Branchen vorgeschrieben wird oder dass wiederum per Gesetz entschieden wird, dass bei der Besetzung von Führungspositionen ein gleicher Anteil der Frauen berücksichtigt wird. Die Frage, ob auf diesem Wege überhaupt die eigentlichen Ursachen der bisherigen Ungleichheit beseitigt werden, wird genau sowenig gestellt als die Frage nach den möglichen unerwünschten Nebenwirkungen auf andere Ziele der Gesellschaftspolitik.

 

Ein Anhänger des Neoliberalismus fordert hingegen, dass der Staat seine Ziele nur mit marktkonformen Mitteln angehen sollte. Als marktkonform gelten alle Maßnahmen des Staates, welche ihre Ziele nur dadurch zu erreichen suchen, dass die Daten, welche den unternehmerischen Entscheidungen zugrunde liegen, verändert werden. Der eigentliche Entscheidungsprozess bleibt jedoch bei den einzelnen Individuen.

 

Der Staat kann z. B. durch Einführung einer Steuer für Umweltschäden die Kosten für Produkte mit hoher Umweltverschmutzung erhöhen und damit bewirken, dass die Produktion auf weniger umweltverschmutzende Produkte verlagert wird. Die Entscheidung, ob eine Produktion durchgeführt werden soll, obliegt jedoch trotzdem nach wie vor den Marktteilnehmern. Der Unternehmer kann nach wie vor frei entscheiden, ob sich die Produktion dieses Gutes überhaupt noch lohnt und der Konsument kann ebenfalls selbst entscheiden, ob er gerade beim Kauf dieses Gutes überhaupt noch eine Nutzensteigerung erfährt, die dem geforderten Preis entspricht. Es werden hier also nicht etwa bestimmte Ziele des Staates abgelehnt, es wird lediglich die Forderung erhoben, dass der Staat sich auf marktkonforme Mittel beschränkt, welche den Allokationsmechanismus des Marktes nicht außer Kraft setzen.

 

 

7. Schlussbemerkungen

 

Unsere Ausführungen haben gezeigt, dass der Liberalismus, der Sozialismus sowie der christliche Glaube die Ziele der Freiheit sowie der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt ihrer Lehren stellen. Insofern ist es eine nicht korrekte Vereinfachung, wenn man dem Liberalismus unterstellt, dass er nur für die Erhaltung der persönlichen Freiheit eintritt und Fragen der Gerechtigkeit nicht beachtet genauso wie es eine nicht korrekte Verkürzung darstellt, wenn man dem Sozialismus unterstellt, es ginge ihm nur um Gleichheit und er würde diese stets auf Kosten der Freiheit der einzelnen Bürger zu verwirklichen suchen.

 

Diese Zerrbilder gelten nur für extreme Ausgestaltungen dieser Weltbilder und sind nur für den realen Kommunismus, wie er in der Sowjetunion und in seinen Satellitenstaaten verwirklicht wurde, wahr und gelten auch nur für das vom Manchesterliberalismus propagierte Wirtschaftssystem. Vor allem der sogenannte freiheitliche Sozialismus tritt auch für die Erhaltung persönlicher Freiheitsrechte ein, genauso wie der Neoliberalismus, so wie er z. B. von Walter Eucken vertreten wurde, sehr wohl die Lösung der sozialen Frage zu einem wesentlichen Kernpunkt seiner Lehre gemacht hat.

 

Vor allem aber ging es mir in diesem Artikel darum, aufzuzeigen, dass man den Sozialismus nicht einfach als eine Bewegung verstehen kann, welche die in der Bibel geforderte Fürsorge für die Armen zu realisieren versucht, dass vielmehr der in der Bibel aufgezeigte Weg einer praktizierten Nächstenliebe einen ganz anderen Weg geht als der Sozialismus vorschlägt.

 

Aber es ging mir auch darum, aufzuzeigen, dass sich die heute oft gehörte Meinung, dass sich Christentum und liberale Marktordnung widersprechen, nicht aufrechterhalten lässt. Es gab zwar Frühliberale, welche mit dem Utilitarismus sicherlich Ideen entwickelten, welche sich mit dem christlichen Glauben nicht vereinbaren lassen, aber bereits Adam Smith, der Begründer der Lehre von der liberalen Marktwirtschaft übernahm diese extremen Positionen keineswegs und die Vertreter des Neoliberalismus wie vor allem Walter Eucken und Alfred Müller-Armack entwickelten ihre Grundpositionen in Einklang mit christlichen Überzeugungen.

 

Auch muss darauf hingewiesen werden, dass ein großer Teil der gegen eine Marktwirtschaft vorgeworfenen Mängel nicht deshalb auftritt, weil diese eine notwendige Konsequenz eines freien Marktsystems darstellen, sondern weil die Politik gerade nicht die Voraussetzungen geschaffen hat, welche für ein Gedeihen jeder Marktwirtschaft unerlässlich sind. Diese Unzulänglichkeiten treten hier auf, nicht weil es zu viel, sondern weil es zu wenig Markt gibt.