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Mehr oder weniger Europa? Fortsetzung

 

 

Gliederung:

 

1. Das Problem

2. Gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik

3. Gemeinsame Umweltpolitik

4. Gemeinsame Monopolkontrolle

5. Unterschiede in der Geldpolitik

6. Unterschiede in der Finanzpolitik

7. Unterschiede in der Integration

8. Wege aus der Krise

 

 

 

6. Unterschiede in der Finanzpolitik

 

Einer der größten Streitpunkte in der Diskussion um die Reform der Europäischen Gemeinschaft ist die Frage, ob auch die gesamte Finanzpolitik gemeinsam beschlossen werden sollte.

 

Diese Frage ist vor allem deshalb umstritten, weil mit einer solchen Reform in eines der ältesten Rechte der Parlamente in den freiheitlichen Demokratien eingegriffen werden würde. Seit jeher liegt die wichtigste Kontrollmöglichkeit des Parlamentes gegenüber der Regierung in dem Recht, den staatlichen Haushalt festzulegen und zu kontrollieren.

 

Dass eine gemeinsame Geldpolitik nur dann erfolgreich sein kann, wenn in der Finanzpolitik einige grundlegende Prinzipien von allen Mitgliedsstaaten befolgt werden, haben wir im vorhergehenden Abschnitt bereits gesehen. Wenn die Mitgliedsländer nicht bereit sind, die Konvergenzkriterien anzuerkennen, ist das Ziel der Geldwertstabilität gefährdet, die Währungsunion wird zur Inflationsgemeinschaft.

 

Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die gesamte Finanzpolitik von den Mitgliedsstaaten auf die europäischen Gremien übertragen werden sollte. Fragen wir uns zunächst, welche anderen Entscheidungen im Rahmen der Finanzpolitik neben der Forderung, das Budgetdefizit zu begrenzen, zu fällen sind.

 

Hier geht es erstens um die Frage, welchen Umfang das gesamte Budget einnehmen soll. Diese Frage hat mit der Begrenzung des Budgetdefizites nichts zu tun. Auch ein ausgeglichener Haushalt kann ausgeweitet werden, selbst bei einer Kürzung des Haushaltsumfanges könnte ein höheres Defizit als bisher realisiert werden.

 

Der Umfang des Staatsbudgets entscheidet in erster Linie über den Anteil der Kollektivgüter am gesamten Inlandsprodukt, da Staatsausgaben in erster Linie dazu dienen, Infrastrukturen zu finanzieren. Wir folgen hierbei Knut Wicksell, welcher in der Steuer in erster Linie einen Preis für Kollektivgüter gesehen hat.

 

Allerdings werden mit dem Staatsbudget im Allgemeinen weitere Ziele verfolgt. Es geht einmal darum, die Einkommensverteilung gerechter zu verteilen. Diese Aufgabe wird jedoch in erster Linie im Rahmen der Steuerpolitik zu erreichen versucht. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, welchen Anteil bestimmte Steuern erlangen sollen. Eine Umverteilung wird vor allem über direkte Steuern (also Einkommen- oder Vermögensteuern) angestrebt, während indirekte Steuern eher der Steuerung der Allokation dienen.

 

Jeder Staat hat weiterhin die Möglichkeit, unterschiedliche allokative Ziele anzustreben, indem er die Staatsausgaben für unterschiedliche Ziele einsetzt. Er beeinflusst hiermit die Struktur der Staatsausgaben.

 

Im Zusammenhang mit der Keynes’schen Lehre wurde dem Staatsbudget die weitere Aufgabe übertragen, Vollbeschäftigung und ein optimales Wachstum zu erreichen. Diese Aufgabe wird jedoch weniger dadurch erreicht, dass der gesamte Umfang des Staatsbudgets oder die Struktur der Ausgaben oder Einnahmen des Staates verändert wird. Es ist vielmehr die Höhe des Defizits, welche beschäftigungs- und wachstumspolitische Ziele realisieren helfen soll.

 

Es ist zwar richtig, dass im Rahmen des Haavelmo-Theorems gezeigt werden konnte, dass auch von einem ausgeglichenen Budget allein durch Ausweitung des Budgetumfangs ein gewisser positiver Beschäftigungseffekt erreicht werden kann.

 

Der Multiplikator, welcher angibt, um welchen Betrag eine Zunahme der Staatsausgaben um eine Einheit das Gesamteinkommen und damit auch die Beschäftigung erhöht, erreicht jedoch bei einer Budgetverlängerung mit einem ausgeglichenen Budget lediglich den Wert eins, während die entsprechenden Multiplikatoren bei einer einseitigen Ausgaben- oder Einnahmensteigerung ein Vielfaches hiervon betragen.

 

Es besteht deshalb weitgehende Einigkeit, dass die Ausweitung des gesamten, ausgeglichenen Staatsbudgets kein geeignetes Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit darstellt. Beschäftigungspolitik wird dann, wenn man die Arbeitslosigkeit vorwiegend mit finanzpolitischen Instrumenten bekämpfen will, über ein Budgetdefizit erreicht.

 

Man kann nun feststellen, dass über diese drei weiteren Entscheidungen (Umfang des Budgets, Struktur der Steuereinnahmen sowie der Staatsausgaben) grundlegende Ziele eines demokratischen Staates angesprochen werden.

 

Im Grunde geht es hier um zwei sehr unterschiedliche Grundüberzeugungen, nennen wir sie Individualismus und Kollektivismus. Nach der individualistischen Auffassung ist vorrangiges Ziel, möglichst viele Entscheidungen dem einzelnen Individuum zu überlassen, die Ziele der einzelnen Individuen sind recht unterschiedlich ausgeprägt, deshalb kann bei individuellen Entscheidungen ein höheres Wohlfahrtsniveau erreicht werden. Zu dieser Zielsetzung zählt auch das Streben nach möglichst hohem Wachstum.

 

Die Realisierung dieser beiden Ziele (Selbstständigkeit und hohes wirtschaftliches Wachstum) hat jedoch notwendiger Weise zur Folge, dass auf der einen Seite eine hohe Differenzierung in den Einkommen entsteht, da nun einmal die Fähigkeiten und Neigungen der einzelnen Bürger recht unterschiedlich sind.

 

Auf der anderen Seite ist die Unsicherheit sehr hoch, eine Erhöhung des Wachstumsniveau ist nur aufgrund risikoreicher Entscheidungen möglich. Aus der Sicht des Einzelnen, kann der Einzelne zwar in dem Maße, in dem er riskante Investitionen wagt, ein sehr hohes Einkommen erzielen, es besteht aber immer auch die Gefahr, dass Investitionen zum Verlust führen.

 

Der kollektivistische Ansatz legt demgegenüber einen viel größeren Wert darauf, dass die Einkommen nicht zu stark differieren, die individuellen Leistungen seien nie so hoch, dass starke Unterschiede in den Einkommen gerechtfertigt seien. Auf der anderen Seite ist der Kollektivist besonders risikoscheu, er strebt Lösungen an, welche den einzelnen Bürgern nur geringe Risiken auflasten.

 

Die Folge einer solchen kollektivistischen Grundüberzeugung besteht darin, dass das wirtschaftliche Wachstum geringer ausfällt, da eben jede Innovation mit hohen Risiken verbunden ist. Gleichzeitig bringen es kollektive Entscheidungen mit sich, dass auf die Unterschiede zwischen den einzelnen Personen weniger Rücksicht genommen werden kann. Kollektivgüter kommen zwar allen zugute, aber jeder erhält auch nur im Grundsatz die gleiche Leistung, mag sich sein Bedarf noch so sehr vom Bedarf der Andern unterscheiden.

 

Entscheidend ist nun, dass es keine Möglichkeit gibt, auf wissenschaftlichem Wege den Vorteil einer dieser beiden Grundkonzepte nachzuweisen. Diese Grundkonzepte entstehen aufgrund von Bewertungen und bereits Jeremy Bentham hat aufgezeigt, dass bewertende Schlussfolgerungen ausnahmslos eine bewertende, nicht beweisbare Grundprämisse voraussetzen. Und Max Weber hat auf dieser Grundlage die Forderung nach Werturteilsfreiheit formuliert, wonach sich der Wissenschaftler bei seinen wissenschaftlichen Untersuchungen auf die Erforschung von Sachzusammenhänge beschränken solle.

 

Wir haben nun davon auszugehen, dass in den einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft diese grundsätzliche Entscheidung zugunsten eines mehr individualistischen oder kollektivistischen Ansatzes sehr unterschiedlich ausfällt, generell lässt sich beobachten, dass die nördlichen Staaten eher zu dem individualistischen und die Südstaaten eher zu dem kollektivistischen Ansatz neigen.

 

Und die Entscheidung zugunsten eines kollektivistischen Ansatzes bedeutet, dass der Anteil der Kollektivgüter und damit der Umfang des Staatsbudgets recht hoch ausfällt, dass weiterhin im Zusammenhang mit der Struktur der Steuereinnahmen vor allem auf direkte Steuern gesetzt wird, da hier progressive und damit umverteilende Steuern möglich erscheinen.

 

Schließlich ist im Zusammenhang mit einem kollektivistischen Ansatz der Anteil der vom Staat finanzierten Infrastrukturen besonders hoch.

 

Aufgrund dieser Unterschiede wird jedoch eine Übertragung aller finanzpolitischer Entscheidungen auf die europäischen Instanzen dem unterschiedlichen Bedürfnis der Bevölkerung in den einzelnen Mitgliedsstaaten nicht gerecht.

 

Wenn diese Entscheidungen bei den einzelnen Mitgliedsstaaten verbleiben, kann jeder Staat den Anteil der Kollektivgüter am Inlandsprodukt, weiterhin die Struktur der Steuereinnahmen sowie die Festlegung der erforderlichen Infrastrukturen entsprechend dem unterschiedlichen Bedürfnis der jeweiligen Bevölkerung festlegen.

 

Bei einer Verlagerung dieser Aufgaben auf die europäischen Instanzen müssen alle Länder Kompromisse eingehen, die Individualisten müssen genauso wie die Kollektivisten auf eine für sie optimale Lösung verzichten und dies bedeutet, dass bei einer europäischen Finanzpolitik die Gesamtwohlfahrt geringer ausfällt.

 

 

7. Unterschiede in der Integration

 

Wenden wir uns nun dem Integrationsgrad der Europäischen Gemeinschaft zu. In der Außenwirtschaftstheorie werden hierbei folgende Integrationsstufen unterschieden.

 

Die geringste Stufe einer wirtschaftlichen Integration einzelner Länder besteht in einer Freihandelszone. Die Mitglieder dieser Gemeinschaft verzichten auf jegliche Beschränkung des wechselseitigen Handels. Zölle, Kontingentierungen sowie nichttarifäre Handelshemmnisse werden abgebaut. Es herrscht also zwischen den Mitgliedern der Freihandelszone wie der Name schon sagt Freihandel.

 

Die Handelsbeziehungen der einzelnen Mitgliedsstaaten zu Drittstaaten bleiben Sache der einzelnen Länder. Jedes Mitgliedsland kann also getrennt von den andern mit Drittstaaten vereinbaren, wieweit Behinderungen des wechselseitigen Handels geduldet werden und inwieweit auch zwischen diesen Ländern Freihandel besteht.

 

Eine weitergehende Integrationsstufe bildet die Zollunion. Genauso wie bei einer Freihandelszone vereinbaren die Mitglieder einer Zollunion, auf jegliche Behinderungen des Außenhandels zwischen den Mitgliedsstaaten zu verzichten. Im Gegensatz zur Freihandelszone sind die Handelsbeziehungen zu Drittstaaten Sache der Zollunion, inwieweit also die Handelsbeziehungen zu Drittstaaten begrenzt werden oder auch hier Freihandel zugelassen wird, wird einheitlich für die gesamten Mitglieder geregelt.

 

Es leuchtet ohne Weiteres ein, dass die Machtposition der Europäischen Union gegenüber Drittländern in einer Zollunion sehr viel stärker ist als in einer Freihandelszone, da in einer Freihandelszone Drittländer die einzelnen Mitgliedsstaaten gegeneinander ausspielen können.

 

Der Name ‚Zollunion‘ ist allerdings nicht ganz korrekt, da in einer Zollunion nicht nur die Erhebung von Zöllen, sondern alle Begrenzungen des Außenhandels geregelt werden und da das Ziel einer Zollunion in einem völlig freien Handel zwischen den Mitgliedsstaaten besteht.

 

Beide Integrationsstufen, die Freihandelszone wie die Zollunion, beschränken den staatlichen Einfluss auf den Verkehr von Waren und Dienstleistungen. Eine dritte weitergehende Integrationsstufe besteht darin, dass auch Freizügigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten vereinbart wird. Dies bedeutet, dass jeder Bürger der einzelnen Mitgliedsstaaten sich in jedem dieser Länder unabhängig von seiner Nationalität auf Dauer niederlassen kann. Neben dem Austausch von Gütern wird hier somit auch die Bewegung eines Produktionsfaktor: der Arbeit den einzelnen Bürgern freigestellt.

 

Eng damit zusammen kann im Rahmen der Integration auch Reisefreiheit für alle Bürger der Gemeinschaft vereinbart werden.

 

Eine weitergehende Integration findet schließlich dort statt, wo die nationale Grenzen überschreitende Beziehung auf alle Produktionsfaktoren, das heißt auch auf den zwischennationalen Verkehr des Kapitals, ausgedehnt wird.

 

Wenn wir uns auf die gegenwärtige Europäische Union beziehen, ist in ihren Verträgen als eine Art Magna Charta die Verwirklichung aller vier Freiheiten verankert: Freihandel, Freizügigkeit, Freiheit des zwischenstaatlichen Kapitalverkehrs sowie Reisefreiheit.

 

Dem Ziel, möglichst alle vier Freiheiten zu garantieren, liegt die Annahme zugrunde, dass ein optimaler Einsatz aller Prosuktionsfaktoren und damit eine optimale Ausrichtung der Produktion am Bedarf der privaten Haushalte nur dann garantiert werden kann, wenn die Preisverhältnisse den Knappheitsrelationen entsprechen. Jede unterschiedliche Regelung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen verhindert, dass diese Gleichheit von Preis- und Knappheitsrelationen erreicht wird und vermindert somit die allgemeine wirtschaftliche Wohlfahrt.

 

Es ist zwar richtig, dass ein Teil dieser Verwerfungen dadurch vermieden werden könnte, dass bei gleichhohen Zollsätzen die Relationen in den Güterpreisen durch die Erhebung von Zöllen nicht beeinflusst werden. Es bleibt aber in jedem Falle eine Verzerrung der Güter-Faktorpreisverhältnisse bestehen und auch das absolute Handelsvolumen geht bei Zollerhebungen auf jeden Fall zurück.

 

Mit anderen Worten: Eine Garantierung aller vier Freiheiten bringt auf jeden Fall ein Optimum an gemeinsamer Wohlfahrt. Was gilt jedoch, wenn einzelne Staaten lediglich einen freien Güterhandel, nicht jedoch auch eine Freizügigkeit präferieren? Auch hier gilt natürlich, dass bei Einschränkung der Freizügigkeit die wirtschaftliche Wohlfahrt aller beteiligten Länder eingeschränkt wird.

 

Hieraus ergibt sich jedoch nicht die Schlussfolgerung, dass in diesem Falle eine Lösung präferiert werden müsste, in welcher auf alle Freiheiten verzichtet werden wird. Der Verzicht auf alle Freiheiten bedeutet auf jeden Fall einen größeren Wohlfahrtsverlust als dann, wenn man nur einzelne Freiheiten, wie etwa den Freihandel, zulässt.

 

Warum wehrt sich jedoch die Europäische Gemeinschaft bei den Verhandlungen um den Austritt Großbritanniens so sehr gegen eine Lösung, bei der lediglich auf Freizügigkeit verzichtet wird?

 

Zwei Gründe sind für diese Haltung verantwortlich. Kommt die Europäische Union nämlich Großbritannien in der Frage der Freizügigkeit entgegen, kommt die Gemeinschaft in Schwierigkeit mit all den Ländern außerhalb der Union, mit denen sie Wirtschaftsverträge abgeschlossen hat, in denen auch eine gewisse Freizügigkeit vereinbart wurde. Diese Länder würden vermutlich sofort eine Korrektur der gemeinsamen Verträge fordern.

 

Aber warum eigentlich sollte die Union nicht auf dieses Begehren eingehen? Im 19. und 20. Jahrhundert enthielten die meisten Handelsverträge die sogenannte Meistbegünstigungsklausel, welche garantierte, dass dem Vertragspartner alle Vergünstigungen, welche in Folge Drittländern eingeräumt werden, auch für den Vertragspartner gelten. Wenn es im Hinblick auf Großbritannien erwünscht ist, eine eingeschränkte Freizügigkeit zu dulden, warum sollte eine solche Regelung bei Bedarf nicht auch anderen Ländern gewährt werden?

 

Ein zweites Bedenken gegen eine Sonderregelung mit Großbritannien ist von größerer Bedeutung und beruht auf der Befürchtung, dass auf diese Weise die Bestrebungen anderer Mitgliedsstaaten, ebenfalls die Europäische Gemeinschaft zu verlassen, neuen Auftrieb erfahren.

 

In der Tat gibt es fast in allen Ländern vor allem rechtsgerichtete Parteien, welche einen Austritt ihres Landes aus der Europaunion fordern. Es besteht also in der Tat die Gefahr, dass bei einem Nachgeben gegenüber den Forderungen Großbritanniens weitere Länder die Europäische Union verlassen werden. Damit wäre jedoch die Existenz Europas gefährdet. Wir haben aber oben gezeigt, dass das Zusammenhalten der europäischen Staaten aus mehreren Gründen essentieller Natur ist.

 

 

8. Wege aus der Krise

 

Festzustellen, welche Änderungen an der Struktur der Europäischen Gemeinschaft notwendig oder auch nur erwünscht sind, ist die eine Sache, eine ganz andere Sache ist die Beantwortung der Frage, auf welchem Wege denn die erwünschte Reform der Europäischen Union möglich ist.

 

Die Schwierigkeit besteht darin, dass auf der einen Seite die Meinungen der einzelnen Mitgliedstaaten, aber auch der einzelnen Fraktionen im Europaparlament weit auseinandergehen. Die einen streben eine Verringerung der Aufgaben der europäischen Institutionen und damit eine Rückverlagerung auf die einzelnen Mitgliedsstaaten an, die anderen sind davon überzeugt, dass die Befugnisse der Europäischen Gemeinschaft erweitert werden müssten und dass vor allem Europa zu einem Einheitsstaat mit echter Kontrolle der Parlamente weiter entwickelt werden müsse.

 

Auch in den einzelnen Mitgliedsstaaten bestehen derartige Unterschiede in den Zielsetzungen der einzelnen Parteien. Da aber dort bei fast allen Fragen das Mehrheitsprinzip gilt, sind Lösungen dort trotzdem möglich, indem die einzelnen Parteien Kompromisse eingehen.

 

Genau diese Möglichkeit besteht jedoch auf europäischer Ebene nicht, da gerade im Hinblick auf die Möglichkeit von Änderungen in den europäischen Verträgen nach wie vor Einstimmigkeit erforderlich ist. Es hat den Anschein, als ob Europa dazu verdammt sei, in der einmal gewählten Form weiterzubestehen, selbst dann, wenn Europa auf diese Weise auf der Weltbühne zu einem Schattendasein verurteilt ist.

 

Ein Ausweg aus dieser Sackgasse könnte darin liegen, dass man den Weg der unterschiedlichen Geschwindigkeiten geht. Als gemeinsame Politik sollten danach nur noch die Aufgaben angesehen werden, welche für den Weiterbestand der Europäischen Gemeinschaft unerlässlich sind.

 

Legen wir die Überlegungen des ersten Teils dieser Abhandlung zugrunde, so handelt es sich hierbei vor allem um folgende vier Problemkreise:

 

Erstens stellt die Europäische Gemeinschaft eine Friedensgemeinschaft dar. Die einzelnen Mitgliedsstaaten verpflichten sich, alle Streitigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten auf friedliche Weise, also durch Diskussion und Bereitschaft zum wechselseitigen Kompromiss, zu lösen und somit in jedem Einzelfall – mögen die Meinungsverschiedenheiten noch so groß sein – auf den Einsatz kriegerischer Handlungen zu verzichten.

 

Zweitens: Europa tritt gegenüber Drittstaaten stets als Einheit auf und dies bedeutet, dass sowohl die Außenpolitik wie auch die Verteidigungspolitik ausschließlich den europäischen Gremien vorbehalten ist. Unsere Überlegungen im ersten Teil dieser Abhandlung haben gezeigt, dass nur auf diese Weise Europa bei den weltpolitischen Fragen wiederum mitreden kann und wir haben auch gesehen, dass auf der Weltbühne Fragen entschieden werden, welche die Existenz der europäischen Staaten berühren.

 

Denken wir nur an den Syrienkonflikt. Auf der einen Seite hatten europäische Staaten keinerlei Einfluss auf die internationalen Bemühungen zur Beilegung dieses Konfliktherdes, auf der anderen Seite stellte die im Zusammenhang mit diesem Konflikt entstehende Flüchtlingsproblematik die Europäische Gemeinschaft vor eine ernste Zerreißprobe.

 

Drittens: Wir haben weiterhin gesehen, es ist in hohem Maße wünschenswert, dass Fragen der Umweltverschmutzung auf der übergeordneten europäische Ebene entschieden werden und zwar einfach deshalb, weil die umweltpolitisch schädlichen Stoffe vor den nationalen Grenzen keinen Halt machen.

 

Viertens schließlich bedarf es ebenfalls einer gemeinsamen Wettbewerbspolitik. Gerade die Öffnung der Grenzen und der Verzicht auf politische Einflussnahme bei handelspolitischen Fragen, brachten es mit sich, dass eine auf die nationalen Staaten begrenzte Monopolaufsicht den Wettbewerb nicht mehr alleine sichern kann, wenn nicht in gleichem Umfang auch die anderen Mitgliedsstaaten Wettbewerbsbegrenzungen wirksam bekämpfen.

 

In allen anderen Fragen, welche bisher innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gemeinsam entschieden wurden, obwohl einige Staaten nur zähneknirschend diesen Entscheidungen zugestimmt hatten, sollte es in Zukunft jedem Mitgliedsstaat freigestellt werden, in diesen Fragen wiederum für das eigene Land selbst zu entscheiden.

 

Um aber nun zu verhindern, dass nur deshalb, weil vorübergehend in einzelnen Mitgliedsstaaten Parteien an der Regierung beteiligt wurden, welche im Grunde genommen einen Ausstieg aus der Europäischen Gemeinschaft wünschen, aber keinesfalls die Meinung der Mehrheit widerspiegeln, immer mehr Fragenkomplexe der europäischen Kontrolle entzogen werden, sollte diese Abkehr von einer europäischen Regelung in diesen Ländern davon abhängig gemacht werden, dass eine qualifizierte Mehrheit diese Rückverlagerung wünscht.

 

Die Verfassungen der europäischen Mitgliedsstaaten sehen ja ebenfalls vor, dass Verfassungsänderungen nur mit einer qualifizierten Mehrheit beschlossen werden können. Die Europäischen Verträge entsprechen jedoch einer europäischen Verfassung.

 

In diesem Falle werden diese Regelungen nur noch von den Ländern gemeinsam durchgeführt, welche nicht eine Rücküberführung dieser Aufgaben beschlossen haben. Von einer Lösung der unterschiedlichen Gangarten, wie dieser Weg in der öffentlichen Diskussion oftmals bezeichnet wird, kann trotzdem nicht gesprochen werden.

 

Diese Ausdrucksweise legt nahe, dass im Prinzip und auf lange Sicht alle Mitgliedstaaten diesen Weg wählen, dass eben nur einzelne Länder für diesen Schritt länger benötigen als andere, welche als Vorreiter agieren. Wir müssen hier durchaus mit der Möglichkeit rechnen, dass einzelne Staaten überhaupt nicht das Ziel verfolgen, diese Problembereiche jemals an einen europäischen Zentralstaat abzugeben.

 

Und wir haben weiter oben gesehen, dass zwischen einigen wirtschaftlichen Grundfragen tiefergreifende Unterschiede in der Bevölkerung festzustellen sind, einige Völker bevorzugen einen individualistischen Ansatz mit hohem Wachstum und Selbstbestimmung, aber auch höherem Risiko und Einkommensunterschieden während andere Bevölkerungen stärker zu einem kollektivistischen Ansatz neigen, welcher weniger Risiko und auch eine größere Einkommensgleichheit garantiert, aber eben auch aus diesen Gründen mit einem geringeren Wachstum und mit einem weitgehenden Verzicht auf individuelle Selbstbestimmung verbunden ist.

 

Unterschiedliche Wege sind aber bei einem solchen Lösungsvorschlag nicht nur dadurch möglich, dass bestimmte bisher gemeinsam geregelte Bereiche von einzelnen Ländern abgewählt werden können. Es besteht weiterhin die Möglichkeit, dass einzelne Mitgliedsstaaten vereinbaren, Bereiche, welche bisher den Mitgliedsstaaten vorbehalten waren, in Zukunft gemeinsam zu entscheiden, wobei es allen anderen Mitgliedsstaaten frei steht, bei dieser Integration mitzuwirken – in diesem Falle  haben sie Mitgestaltungsmöglichkeiten – oder später diesem Zusatzabkommen beizutreten, wobei sie dann die einmal geschlossenen Verträge zu übernehmen haben.

 

In jedem Falle sollte bei Abschluss dieser Zusatzverträge das Prinzip der Einstimmigkeit aufgegeben werden. Bei den normalen anstehenden Entscheidungen auf dem Boden dieser Zusatzverträge sollte eine einfache Mehrheit ausreichen, während für Veränderungen der Zusatzverträge selbst eine qualifizierte Mehrheit verlangt werden sollte, wie dies ja auch für die Verfassungen der Mitgliedsstaaten gilt.