Armut: Ursachen, Folgen und Bekämpfung

 

 

Gliederung:

 

1. Teil: Historische Einführung

     1. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Armut

     2. Ursachen der Verarmung im historischen Wandel

     3. Die wichtigsten Folgen der Armut

     4. Vom Wandel der Bewertung der Armut

     5. Die geschichtliche Entwicklung der Armutspolitik

 

2. Teil: Die Theorie der Verursachung von Armut

    1. Ein Modell zur Erklärung allgemeiner Armut

         1a. Zur Definition von Armut

         1b. Armut durch Naturereignisse ausgelöst

         1c. Armut durch Mängel der Arbeitskraft ausgelöst

         1d. Armut in Folge einer Mechanisierung der Produktion

         1e. Armut als Folge eines Technischen Fortschritts

         1f. Armut aufgrund einer Sättigung?

         1g. Armut und Wirtschaftssystem

 

    2. Ein Modell zur Erklärung von Armut inmitten von Reichtum

         2a. Einleitung

         2b. Der Vermögensstatus

         2c. Die Qualifizierung der Arbeitskraft

         2d. Zusätzlicher Bedarf aufgrund der Familiengröße

         2e. Das unterschiedliche Auftreten sozialer Risiken

   

3. Teil: Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut

    1. Vorbemerkung

    2. Kurieren am Symptom versus Ursachenbekämpfung

    3. Bekämpfung allgemeiner Armut versus Armut inmitten von Reichtum

 

 

 

1.Teil:  Historische Einführung

 

Es gibt nur sehr wenige Ereignisse in der menschlichen Geschichte, die wie die Armut das menschliche Leben begleitet haben. Armut gab es zu allen Zeiten, in den Zeiten vor Beginn der menschlichen Zivilisation, im klassischen Altertum, im Mittel-alter, zu Beginn der Industrialisierung sowie in der heutigen Zeit.

 

Wir wollen in einem ersten Teil die Armut in ihrem historischen Verlauf untersuchen. Wir werden erstens der Frage nachgehen, wie sich im Ablauf der Geschichte sehr unterschiedliche Formen der Ausbreitung von Armut entwickelt haben. Wir werden zweitens dann zu der Frage übergehen, welche Ursachen im Verlauf der Geschichte Armut ausgelöst haben. Drittens befassen wir uns dann mit der Frage, welche Folgen die historisch nachgewiesenen Armutsformen tatsächlich herbeigeführt haben. Viertens werden wir feststellen, dass sich im Verlauf der Geschichte die Einschätzung und Bewertung der Armut gewandelt hat. Zuletzt werden wir fünftens im Rahmen der historischen Analyse aufzeigen, dass sich auch in der Bekämpfung der Armut – also in der Wahl der Mittel der Armutspolitik – ein Wandel vollzogen hat.

 

In einem zweiten Teil werden wir dann in einer systematischen Analyse anhand zweier Modelle die Bestimmungsgründe der Armut genauer analysieren. Wir werden in einem ersten Modell nach den Ursachen für eine allgemein verbreitete Armut fragen, um dann in einem zweiten Modell zu klären, wie es zu individueller Armut auch in Gesellschaften kommen kann, welche als reich zu gelten haben.

 

Ein dritter Teil bringt eine systematische Erörterung einer Politik zur Bekämpfung der Armut. Hierbei  geht es weniger um die Frage, welche Maßnahmen tatsächlich im Einzelnen ergriffen wurden (diese Frage werden bereits im ersten Teil dieser Abhandlung angesprochen), es geht hier vielmehr darum, darzulegen, wie effizient die einzelnen Maßnahmen sind und mit welchen unerwünschten Nebenwirkungen gegebenenfalls zu rechnen ist.

 

 

1. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Armut

 

Es lassen sich im Verlauf der Geschichte sehr unterschiedliche Ausprägungen der Armut erkennen. Die Armut kann sich auf die gesamte Bevölkerung beziehen. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass restlos alle Menschen eines Volksstamms oder Landes zu den Armen zählen. Stets gab es auch unter sehr armen Völkern einige wenige Personen, welche Reichtum, sogar sehr großen Reichtum besaßen, ja man kann sogar feststellen, dass gerade in den Ländern und Zeiten, in denen die Armut besonders groß ist, auch der Unterschied in der Wohlfahrt der einzelnen Bevölkerungsgruppen besonders groß ausfällt. Dies gilt für das Altertum genauso wie für das Mittelalter, in dem die Familien, welche dem Hochadel oder anderen Führungseliten angehörten, einen enorm hohen Reichtum vor allem an Grundbesitz aufwiesen, während die Masse der Bevölkerung ‚am Hungertuch nagten‘; dies gilt gleichermaßen aber auch für die heutigen Entwicklungsländer, in denen trotz verheerender allgemeiner Armut einige wenige Stammeshäuptlinge ‚in Geld schwimmen‘.

 

Entscheidend ist hierbei, dass bei dieser ersten Ausprägung der Armut die Wohlfahrt pro Kopf der Bevölkerung so gering ist, dass auch bei einer egalitären Verteilung des Reichtums auf die gesamte Bevölkerung immer noch allgemeine Armut vorherrschen würde, dass sich also durch bloße Umverteilungsmaßnahmen allein die Armut nicht beseitigen ließe.

 

Im Gegensatz hierzu lässt sich in der Geschichte eine zweite Ausprägung der Armut feststellen, bei der zwar die Wohlfahrt pro Kopf der Bevölkerung hoch ist, trotzdem aber einzelne Personen oder auch ganze Bevölkerungsschichten von Armut betroffen sind. Auch diese zweite Ausprägung der Armut lässt sich in fast allen Zeiten feststellen. Im Verlaufe der Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Perioden, in denen auf der einen Seite das durchschnittliche Wohlfahrtsniveau anstieg und hoch war, trotzdem aber einzelne Bevölkerungsgruppen in Armut verharrten.

 

Dies gilt vor allem auch für die letzten Jahrzehnte, so hat z. B. der letzte Armutsbericht der Bundesregierung festgestellt, dass immerhin etwa 14% der Bevölkerung als arm eingestuft werden müssen, legt man die Einkommensgrenze, bei der Armut beginnt, entsprechend den Richtlinien der Europäischen Union auf etwa 750 € fest. Und dies gilt, obwohl die BRD zu den reichsten Volkswirtschaften dieser Welt zählt. Weltweit sind mehr als 1/3 der Menschheit von Armut betroffen, obwohl das Pro-Kopf-Einkommen in den hochentwickelten Staaten noch nie so hoch war wie heute.

 

Armut tritt weiterhin in fast allen wirtschaftlichen und politischen Systemen auf. Obwohl wir davon ausgehen können, dass marktwirtschaftliche Systeme im allgemeinen eine effizientere Produktion als staatlich planwirtschaftliche Systeme gestatten und dass Marktwirtschaften vor allem in der Ausrichtung der Produktion an den Bedürfnissen der privaten Haushalte anderen Wirtschaftssystemen weit überlegen sind, trat trotzdem zu allen Zeiten Armut – sowohl in der allgemeinen Form wie vor allem auch in der Form der Armut bei allgemeiner Wohlfahrt – auf, sowohl in marktwirtschaftlichen wie in staatlich planwirtschaftlichen Systemen.

 

Vor allem zu Beginn der Industrialisierung in den europäischen Staaten im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert war die wirtschaftliche und soziale Lage der Industriearbeiter katastrophal schlecht, nicht nur einzelne Arbeitnehmer, sondern der Durchschnitt aller Industriearbeiter erreichte kaum das physische Existenzminimum und dies obwohl die Arbeitnehmer 14 und mehr Stunden pro Tag arbeiteten und obwohl auch schon die Kinder und Jugendlichen zur erwerbswirtschaftlichen Arbeit herangezogen wurden.

 

Vor allem das Auftreten der Armut einzelner Bevölkerungsgruppen inmitten allgemeiner Wohlfahrt ist in marktwirtschaftlichen Systemen ausgeprägt, während in den staatlich planwirtschaftlichen Systemen zumeist zwar das Pro-Kopf-Einkommen der Masse der Bevölkerung geringer ausfiel als in den marktwirtschaftlichen Systemen, aber gleichzeitig der Anteil derjenigen, welche das physische oder kulturelle Existenzminimum nicht erreichen konnten, geringer war.

 

Dies bedeutet allerdings nicht, dass in diesen staatlich planwirtschaftlichen Systemen auch in den Zeiten, in denen es dem Durchschnitt der Bevölkerung materiell relativ gut ging, keinerlei Gruppen unter die Armutsgrenze fielen, so wurde durchaus zugelassen, dass Bevölkerungsgruppen, welche zum Klassenfeind gezählt wurden, von größter Armut und Not betroffen waren.

 

Auch muss berücksichtigt werden, dass sozialistische Systeme zwar insoweit eine geringere Einkommensdifferenzierung als marktwirtschaftliche Systeme aufwiesen, als die nominellen Einkommen auch der Spitzenfunktionäre nach oben begrenzt waren, dass aber die Spitzenfunktionäre in ihrer politischen Eigenschaft sehr wohl Zugriff zu Luxusgütern hatten, welche sich in marktwirtschaftlichen Systemen nur einzelne Spitzenverdiener aufgrund extrem hoher Einkommen leisten konnten. Die faktische Wohlfahrtsnivellierung in den sozialistischen Staaten war in der Regel auch nicht sehr viel größer als in den marktwirtschaftlichen Systemen.

 

Zeitbedingt entwickelten sich sehr unterschiedliche Ausprägungen einer Armut, welche auf bestimmte Bevölkerungsgruppen begrenzt waren bzw. sind. Wir erwähnten bereits, dass zu Beginn der Industrialisierung in Europa vor allem die Industriearbeiter von einer erschreckend hohen Armut betroffen waren. In den letzten Jahrzehnten grassiert die Befürchtung, dass vor allem Alte, kinderreiche Familien, alleinstehende erwerbstätige Mütter sowie Angehörige von Minderheiten von Armut betroffen sind.

 

 

2. Ursachen der Verarmung im historischen Wandel

 

Sehr unterschiedliche Ursachen haben in der Vergangenheit Armut herbeigeführt. Wir werden noch ausführlich im Rahmen einer allgemeinen Theorie auf die einzelnen Bestimmungsgründe im zweiten Teil dieser Abhandlung eingehen. Hier an dieser Stelle genügt es aufzuzeigen, wie im Verlauf der historischen Menschheits-entwicklung immer wieder neue Bestimmungsgründe auftauchten, welche Armut größten Umfangs hervorriefen.

 

Im Verlauf der Frühgeschichte, in der sich die Menschen als Jäger und Sammler betätigten und sich auf natürliche Früchte und Tiere als Nahrung beschränkten, waren die Menschen auf das Angebot einer reichlich ausgestatteten Natur angewiesen. Da sich die Menschheit in dieser Phase noch nicht um die Nachhaltigkeit der natürlichen Früchte gekümmert hat, blieb es nicht aus, dass der natürliche Nahrungsvorrat immer wieder zu Ende ging, Armut aufkam und dass sich diese Völkerstämme deshalb gezwungen sahen, in andere Gebiete auszuwandern.

 

Neben dieser normalen Erschöpfung der natürlichen Vorräte kam es weiterhin immer wieder zu Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen und Wirbelstürmen, welche die vorhandenen, natürlichen Ressourcen auf einen Schlag vernichteten und zu Armut führten.

 

Die Bibel berichtet von der großen Sintflut, welche fast alle Teile der bewohnten Erde vernichtete und erzählt, dass es nur einer kleinen Schar von Auserwählten gelungen sei, sich auf ein Boot, auf eine Arche ins Meer zu retten. Nun liegt der eigentliche Sinn der Bibel sicherlich nicht in der exakten Aufzeichnung historischer Ereignisse. Trotzdem fällt auf, dass auch in anderen altertümlichen Kulturkreisen, vor allem im babylonischen Kulturkreis in der babylonischen Flutsage im Gilgamesch Epos   ebenfalls – sogar zeitlich noch früher – Erzählungen kursierten, die von einer plötzlichen Vernichtung großer Teile der Erde berichteten. Es gibt einige Forscher, welche die Vermutung äußern, dass diese Berichte auf Tatsachen beruhen und dass es z. B. aufgrund eines Einschlages eines Meteoriten auf der Erde zu solch verheerenden Verwüstungen gekommen ist, dass menschliches und tierisches Leben vorübergehend nahezu ganz ausgelöscht wurde. 

 

Die Natur blieb auch in den Zeiten, in denen die meisten Volksstämme sesshaft geworden waren und Ackerbau betrieben, eine der wichtigsten Ursachen für Armut. Die Erträge aus Ackerbau, dem Anpflanzen von Obstbäumen und aus Viehzucht hängen nun entscheidend von den klimatischen Bedingungen ab, Ernten können aufgrund einer vorhergehenden Dürre vernichtet werden, aber auch aufgrund zu großer Niederschläge, aufgrund von Frost, der noch einsetzt, wenn die Saat bereits aufgegangen ist, und schließlich aufgrund von Hagel, der die Ackerfrüchte vernichtet. So bleibt es nicht aus, dass es immer wiederum zu Hungersnöten kam, ausgelöst durch Missernten.

 

Hunger und Armut können aber auch durch andere natürliche Ereignisse ausgelöst werden, so grassierten im Altertum und Mittelalter immer wieder Epidemien, die sich schnell ausbreiteten und die Bevölkerung dezimierten.

 

Erst allmählich – mit zaghaften Versuchen im Mittelalter, aber erst mit durchschlagendem Erfolg in der Neuzeit – gelang es dem Menschen, diese Gefahren in Griff zu bekommen und Hungersnöte und damit weitverbreitete Armut im Zusammenhang mit natürlichen Katstrophen zu vermeiden oder zumindest einzudämmen. Zu diesem Erfolg hat erstens beigetragen, dass man lernte, die Naturprodukte zu lagern, wobei vor allem Entwicklungen und Erfindungen in der Konservierungstechnik dazu beigetragen haben, auch solchen Produkten, welche an und für sich sehr schnell verderben, Haltbarkeit zu verleihen.

 

Zweitens trug auch die Ausdehnung des Handels und des Verkehrs, vor allem des Fernhandels dazu bei, vorübergehende Krisen im Zusammenhang mit Missernten und anderen Naturkatstrophen zu überwinden. Im Allgemeinen kann man davon ausgehen, dass Missernten und Naturkatastrophen auf einige wenige Gebiete beschränkt bleiben. Durch Handel und Verkehr wird es nun möglich, dass auch die Gebiete, welche von Naturkatastrophen befallen wurden, mit Nahrungsmitteln versorgt werden können.

 

Handel und Verkehr bringen es mit sich, dass heutzutage nahezu alle Nahrungsmittel zu allen Zeiten und in allen Regionen der Erde angeboten werden können, obwohl manche Früchte nur in ganz bestimmten Gegenden (z. B. Südfrüchte in den tropischen Regionen), andere wiederum nur zu bestimmten Zeiten (im Sommer und Frühherbst) geerntet werden.

 

Drittens hat die Agrarwissenschaft und die Biologie durch Schädlingsbekämpfung auf der einen und durch künstliche Züchtung neuer Sorten auf der anderen Seite dazu beigetragen, dass man heute über Nahrungsmittel verfügt, die sehr viel widerstandsfähiger gegen zahlreiche natürliche Bedrohungen sind. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Abwehr von Schädlingen, sondern auch in dem Sinne, dass z. B. neu gezüchtetes Saatgut sehr viel besser als bisher in der Lage ist, Dürre und zu starken Niederschlag zu überstehen.

 

Man könnte aus diesen Darstellungen voreilig zu dem Schluss kommen, dass die Naturereignisse in der heutigen modernen Welt keine ernstzunehmende Gefahr mehr darstellen und als Bestimmungsgrund für größere Armut ausscheiden. Leider kann dieser Schluss nicht gezogen werden. Die Entwicklungen in der Natur gerade in den letzten Jahrzehnten hat gezeigt, dass sich gerade die klimatischen Bedingungen dieser Erde dramatisch verschlechtert haben und dass der Raubbau, der in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der industriellen Produktion getrieben wurde, wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat.

 

Bereits die Erwärmung der Erde im Zusammenhang mit dem Ausstoß an Kohlendioxid hat die Atmosphäre stark beschädigt und führt nicht nur dazu, dass aufgrund des Abschmelzens des Eises am Nord- und Südpol der Meeresspiegel steigt und zahlreiche bisher bewohnte Gegenden überschwemmt werden, sondern es besteht die begründete Vermutung, dass die Häufung von Erdbeben, Wirbelstürmen und Überschwemmungen eben durch die industriellen Produktionstechniken zumindest mit ausgelöst wurde.

 

Dass der Mensch mit der Entwicklung moderner Techniken eben zu diesen Kata-strophen beigetragen hat, kann auch etwas Tröstliches enthalten. Der Mensch kann durch sein Tun und Lassen Naturkatastrophen zwar auslösen, er hat aber prinzipiell auch die Möglichkeit, durch Änderung der Technik dazu beizutragen, dass diese Gefahren für die entferntere Zukunft wiederum reduziert werden.

 

In wirtschaftlicher Hinsicht hängen diese dargestellten Gefahren vor allem damit zusammen, dass gerade im Hinblick auf die natürlichen Ressourcen ein Teil der Kosten, welche einer Volkswirtschaft entstehen, externer Natur sind und deshalb in den Kostenkalkülen der Unternehmer wie der Haushalte nicht berücksichtigt werden. Gerade die neuere Umweltökonomie hat zahlreiche Möglichkeiten aufgezeigt, wie diese externen Kosten internalisiert werden können und wie auf diese Weise der bisher betriebene Raubbau mit den natürlichen Ressourcen verringert werden kann. Sowohl die von A. C. Pigou vorgeschlagene, nach ihm benannte Pigousteuer als vor allem die Einführung von Verschmutzungsrechten stellen solche Lösungsvorschläge dar. Sie können dazu beitragen, die durch natürliche Faktoren  ausgelösten Ursachen der Armut in Zukunft einzudämmen.

 

Die Entwicklung der Natur war in der Vergangenheit allerdings nicht der einzige Bestimmungsgrund für die Entstehung von Armut. Kriegerische Auseinandersetzungen haben immer wiederum dazu geführt, dass Armut größten Umfanges entstanden ist. Diese Armut wurde erstens dadurch ausgelöst, dass diejenigen Volks-stämme, welche wegen fehlender Nahrungsgrundlage weiter wanderten, auf diese Weise andere Volksstämme bekämpften, hierbei Verwüstungen auslösten und die Bevölkerung der bekämpften Gebiete vertrieben und diese in Armut stürzten.

 

Andere Heerführer hatten zweitens auch ohne äußere Not Freude an Eroberungen gefunden und suchten ihr Herrschaftsgebiet auszuweiten und die jeweiligen Einheimischen zu unterjochen, zu versklaven und zu verschleppen. Die Geschichte ist voll von solchen Raubzügen und Unterwerfung von besiegten Völkern, von der Verschleppung der Juden in die babylonische Gefangenschaft, bis zu dem Versuch der Ausrottung ganzer Bevölkerungsgruppen z. B. bei den Nazis.

 

Drittens haben auch fehlende Rohstoffe wie z. B. Wasser oder ein fehlender Zugang zu den Meeren und damit zum Welthandel Nationen veranlasst, gegen Nachbarvölker Krieg zu führen und hierbei wiederum Not und Armut unter den angegriffenen Nationen verbreitet.

 

Schließlich war oftmals viertens auch eine innenpolitische Schwäche die Ursache dafür, dass Kriege nach außen vom Zaun gebrochen wurden. Im Rahmen der Konflikttheorie wird darauf hingewiesen, dass Aggressivität nach außen oftmals daher rührt, dass im inneren einer Nation – oder auch einer Bevölkerungsgruppe – Uneinigkeit herrscht, dass die Führungskräfte um ihre Vorherrschaft bangen und ihre Stellung dadurch zu stärken verursachen, dass sie mit Aggressionen nach außen von ihrer inneren Schwäche ablenken wollen und die aggressiven Haltungen der Bevölkerung auf äußere Feinde umzulenken versuchen. Schon immer galt es als Gebot der Stunde und als höchste Verpflichtung, bei Bedrohung durch ausländische Mächte im inneren auf jegliche Auseinandersetzungen zu verzichten, sich vielmehr zusammen zu schließen und sich gemeinsam gegen den äußeren Feind zur Wehr zu setzen.

 

Neben mangelnder Nahrungsgrundlage und kriegerischen Auseinandersetzungen hat im Verlaufe der menschlichen Geschichte drittens auch der Zusammenbruch gesellschaftlicher Ordnungen Armut größten Umfangs ausgelöst. Wir brachten weiter oben bereits das Beispiel der wirtschaftlichen und sozialen Verelendung der Arbeiterschaft zu Beginn der Industrialisierung Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Nur rein äußerlich schien es eine Revolution in der Technik gewesen zu sein, welche diese Armut ausgelöst hat.

 

Es lässt sich jedoch zeigen, dass die Übernahme der industriellen Technik zu einer Ausweitung der Produktion geführt hat und deshalb eher dazu beigetragen hat, dass die anfangs entstandene Armut auch wiederum überwunden werden konnte. Es war vielmehr primär der Zusammenbruch der mittelalterlichen und feudalen Ordnungen im Zusammenhang mit den Wanderungen in die Städte, welche eine rasante Zunahme in der Geburtenrate und damit in der Bevölkerung auslöste, die dann zu einem starken Abfall im Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung führte und damit notwendigerweise Armut hervorrief.

 

Ein Zusammenbruch von Ordnungen, vor allem durch den Ausbruch von Revolutionen, brachte fast immer für große Teile der Bevölkerung zumindest vorübergehende Not und Armut mit sich, das gilt gleichermaßen für die französische Revolution Ende des 18. Jahrhunderts, für die Oktober Revolution in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts wie für die Übernahme der Macht der Nazis in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Alle diese Revolutionen führten zu Säuberungen und zur Verfolgung derjenigen, die bisher an der Macht waren und es tobte zumindest vorübergehend wie in Frankreich eine Schreckensherrschaft, welche große Bevölkerungsgruppen in Armut und Elend stürzten.

 

Auch im Zuge des technischen Fortschritts trat im Verlaufe der Geschichte oftmals größere Armut auf. Wir hatten zwar oben darauf hingewiesen, dass die Industrialisierung im Europa des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht die eigentliche Ursache für Armut war und sicherlich trägt der technische Fortschritt im Allgemeinen eher dazu bei, die Wohlfahrt der Bevölkerung zu mehren als sie in Armut zu führen. Trotzdem kann ein fehlgeleiteter Fortschritt durchaus Armut auslösen.

 

Im zweiten Teil dieser Abhandlung werden wir zeigen, dass es verschiedene Arten des technischen Fortschritts gibt und dass der arbeitssparende Fortschritt eben darin besteht, dass Arbeitsplätze durch Kapital ersetzt werden. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass dieser technische Fortschritt Arbeitslosigkeit und damit Armut auslöst. Es ist ja durchaus denkbar, dass die Wohlfahrt einer Bevölkerung vermehrt werden könnte, dass mehr produziert werden kann, dass aber diese Mehrproduktion daran scheitert, dass es an Arbeitskräften mangelt. Hier führt ein arbeitssparender Fortschritt nicht nur in technischer, sondern auch in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu einer Wohlfahrtssteigerung, macht er es doch möglich, dass trotz Arbeitskräftemangels – und zwar über eine Ersetzung der Arbeit durch Kapital – die Produktion vergrößert werden kann.

 

Leider kam es jedoch im Verlaufe der Geschichte wiederholt zur Einführung von arbeitssparendem technischen Fortschritt, obwohl kein Mangel an Arbeitskräften bestand und deshalb der Wandel in der Produktionstechnik Arbeitslosigkeit und damit auch Armut ausgelöst hat. Für welchen technischen Fortschritt sich die Unternehmer entscheiden, hängt nämlich entscheidend vom Verhältnis der Löhne zu den Zinsen ab, ein Unternehmer wird sich stets für die Technik entscheiden, welche ihm eine größere Rentabilität verspricht. Wenn nun das Lohn-Zins-Verhältnis höher ausfällt als es die Knappheit der Produktionsfaktoren anzeigt, kommt es zu dieser sozial höchst unerwünschten Einführung arbeitssparender Techniken mit einem Verlust an Arbeitsplätzen.

 

Dieser hier aufgezeigte Zusammenhang war im Verlaufe der Geschichte nicht der einzige Bestimmungsgrund dafür, dass der technische Fortschritt Arbeitslosigkeit und damit Armut ausgelöst hat. Technischer Fortschritt erhöht nämlich fast immer die Qualifikationsanforderungen an die Arbeitnehmer. Diese Entwicklung bringt es zwar mit sich, dass die Facharbeitskräfte, welche die Qualifikationsanforderungen erfüllen, mit einer höheren Produktivität eingesetzt werden können und deshalb mehr als bisher verdienen; auch die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräfte steigt im Allgemeinen mit der Folge an, dass auch die Gefahr von Arbeitslosigkeit dieser Arbeitnehmergruppe zurückgeht.

 

Gleichzeitig verschlechtern sich jedoch die Arbeitsaussichten der ungelernten Arbeitnehmer, welche wegen mangelnder Ausbildung die Mindestvoraussetzungen für eine Anstellung nicht mehr erfüllen und deshalb als Langzeitarbeitslose in Armut versinken. An der ausreichenden Schulausbildung mangelt es vor allem vielen Einwanderern, die schon aus Sprachschwierigkeiten heraus keine ausreichende Ausbildung erfahren haben.

 

 

3. Die wichtigsten Folgen der Armut

 

Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Folgen die Verarmung im geschichtlichen Verlauf nach sich zog. Armut äußert sich zunächst einmal darin, dass die von Armut Betroffenen Hunger und Durst leiden, nicht genug für ausreichende Kleidung und eine akzeptable Behausung aufbringen können; die Anfälligkeit für Krankheiten steigt an, für eine ausreichende Behandlung der Krankheiten fehlen die Geldmittel.

 

Halten diese Mangelzustände längere Zeit an, so kann der einzelne verhungern, verdursten, an der Krankheit sterben oder zumindest gesundheitlich so stark betroffen sein, dass seine Lebenserwartung drastisch vermindert wird und dass ein beschwerdefreies Leben auch bei Beendigung der äußeren Armut nicht mehr möglich ist und der einzelne auch keiner geregelten Arbeit nachgehen kann. Langzeitarbeitslosigkeit ist die Folge. Auch die Kinder dieser Verarmten sind hiervon betroffen. Auch für sie fehlen dann die Mittel, um ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen, welche eine geregelte berufliche Aktivität möglich macht. Die Armut wird dann gewissermaßen weitervererbt.

 

Diese höchstpersönlichen Folgen wirken sich nun auch auf das nähere und weitere soziale Umfeld der Betroffenen aus. Die Frustrationen, welche die einzelnen erleiden, schlagen oftmals in Aggressivität um, die sich in Angriffen gegenüber Dritten, an und für sich Unbeteiligten, in blinder Zerstörungswut und in Vandalismus auswirken. Andere hinwiederum kapseln sich ab und sind nicht mehr in der Lage, ein normales soziales Leben zu führen, sie richten zwar dann gegenüber den Mitmenschen keinen Schaden an, bedürfen jedoch einer umfassenden Pflege und belasten auf diese Weise die Gesellschaft.

 

Auch die Ordnung der gesamten Gesellschaft kann Schaden nehmen, wenn sich die Verarmten verstärkt radikalen Parteien und Gruppierungen zuwenden und auf diese Weise die Stabilität der bestehenden Ordnung gefährden. Gerade die Vergangenheit in Deutschland hat gezeigt, dass sich die Betroffenen links-, aber auch rechtsradikalen Parteien zuwenden, wobei die soziale Herkunft in der Regel bestimmt, welcher Gruppierung die Verarmten zuneigen. Arbeitnehmer, vor allem ungelernte Arbeiter neigen eher dazu, sich linksradikalen Gruppierungen zuzuwenden, während Handwerker und Selbständige, dann wenn sie beruflich scheiterten,  in der Vergangenheit eher ihr Gehör rechtsgerichteten Parteien zugewendet haben.

 

Wir hatten weiter oben bereits gesehen, dass sich Verarmung größerer Bevölkerungsgruppen auch in Aggressivität gegenüber anderen Volksgemeinschaften auswirken kann. Vor allem im Altertum und Mittelalter führte die Verarmung zu Wanderungsbewegungen, die dann selbst wiederum in der Vertreibung oder Versklavung der Einheimischen endete. Wir haben auch gesehen, dass die durch Armut ausgelösten internen Konflikte sehr leicht in Aggressivität nach außen umschlagen.

 

Die Anführer dieser Staaten versuchen dadurch wiederum im Innern Gehör zu finden, in dem sie Konflikte mit dem Ausland bewusst anzetteln und schüren, um auf diese Weise oppositionelle Regungen im Inland zu unterbinden. Wenn eine Volksgemeinschaft von außen bedroht wird, so hat jeder innere Zwist zu schweigen. Wie soll bereits Kaiser Wilhelm II beim Ausbruch des ersten Weltkrieges sinngemäß ausgerufen haben? Er kenne keine Arbeiter und Selbständige mehr, er kenne nur noch Deutsche.

 

 

4. Vom Wandel der Bewertung der Armut

 

Auch die Einschätzung einer Verarmung hat sich im Verlauf der Geschichte wiederholt gewandelt. Das späte Altertum und vor allem das Mittelalter waren geprägt durch christliche Werte. Nach christlicher Überzeugung gehört es zu den Grundaufgaben jedes Christen, den Armen beizustehen und ihnen dadurch ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Diese Verpflichtung ergab sich unmittelbar aus dem Gebot der Nächstenliebe, das zu den wichtigsten christlichen Geboten überhaupt zählt. Von einem Pharisäer angesprochen, was er für das wichtigste Gebot schlechthin halte, antwortete Jesus, jeder solle seinen Gott von ganzem Herzen lieben, es gäbe aber noch ein zweites Gebot, das dem ersten gleich komme, nämlich den Nächsten zu lieben wie sich selbst, bzw.  nach dem Wortlaut der aramäischen Bibel den Mitmenschen zu achten, denn er sei wie Du, ein jeder sei ein Geschöpf Gottes.

 

Natürlich erschöpft sich Nächstenliebe nicht nur in einer Armenpflege. Aus dem Gebot der Nächstenliebe ergibt sich zunächst die Aufforderung, dem andern nicht zu schaden und ihm auch die Möglichkeit einzuräumen, sein Leben selbst zu bestimmen. Selbst die Verpflichtung, den andern dann zu helfen, wenn sie in Not geraten sind, erschöpft sich nicht in der Armenpflege. In Not kann auch durchaus ein Reicher gelangen, wenn er z. B. krank wird oder wenn er unberechtigter Weise von seinen Mitmenschen angegriffen wird. Die Hilfe für die Armen ist ein sehr wichtiger, aber keinesfalls der einzige Aspekt der Aufforderung zur Nächstenliebe.

 

Diese Aufforderung wurde nun in erster Linie als ein Gebot aufgefasst, das sich an jeden einzelnen Christen richtet. Zunächst sah man es nicht als eine vorrangige Aufgabe des Staates und der Herrscher an, die Armen tatkräftig zu unterstützen oder durch eine gezielte Ursachenbekämpfung Vorsorge zu treffen, sodass es gar nicht zu einer weitverbreiteten Armut unter der Bevölkerung kommen kann.

 

Oftmals wurde auch die Überzeugung geäußert, dass der Mensch die Armut durch sein sündhaftes Leben selbst verursacht habe. Hierbei gilt es zwischen zwei Varianten dieser Auffassung zu unterscheiden. Diese Ansicht kann einmal in dem Sinne gedeutet werden, dass die Menschheit in ihrer Gesamtheit durch den Sündenfall der ersten Menschen aus dem Paradies vertrieben wurde und dass nun der Mensch gezwungen war, ‚im Schweiße seines Angesichts‘ zu arbeiten und dass er deshalb auch immer wieder in Armut fallen kann.

 

Hiervon getrennt fand und findet man vor allem bei christlich orientierten Sekten die Meinung, dass individuelle Armut unmittelbare Folge eines sündhaften Verhaltens des jeweils Betroffenen sei. Sicherlich lassen sich diese radikalen Meinungen nicht aus der christlichen Lehre der Bibel ableiten.

 

Eine weitere Variante christlicher Einschätzung der Armut besteht in der selbst gewählten Armut, wie sie z. B. in den Bettlerorden praktiziert wurde und wird. Hier wählen einzelne ganz bewusst und ohne äußeren Zwang ein Leben in Armut, um sich so konsequent auf das Leben nach dem Tod vorzubereiten. Wenn es sich auch  nach offizieller Meinung der Kirchen hierbei nicht um ein allgemeines Gebot handelt, das jeder Christ erfüllen sollte, so stützt sich dieses Verhalten doch immerhin auf die Bibel. Als ein Reicher Jesus fragte, was er denn noch zusätzlich zu seinen bisherigen guten Taten tun könne, um in das ewige Leben einzugehen, forderte Jesus ihn auf, seinen ganzen Besitz zu verkaufen, an die Armen zu verteilen und ihm nachzufolgen, also selbst arm zu werden.

 

Mit der Aufklärung kam es zu einem grundlegenden Wandel in der Bewertung der Armut. Armut wurde nun als ein Zustand angesehen, der in höchstem Maße unerwünscht sei. Es sei Aufgabe des Staates, auf der einen Seite den Menschen, die in Armut geraten seien, materiell zu helfen, vor allem dann, wenn sie nicht aufgrund eigenen Verschuldens arm geworden seien. Auf der anderen Seite habe der Staat die Verpflichtung, nach den eigentlichen Ursachen der Verarmung zu forschen und eine Ordnung zu schaffen, in der zumindest allgemeine Armut nicht mehr auftritt.

 

Diese Verpflichtung gilt zunächst einmal gegenüber den Bürgern eines Staates. Die Verfassungen der freiheitlich demokratischen Staaten sehen in den Grundrechten vor, dass die Menschenwürde unantastbar sei und zu dieser Menschenwürde zählt auch das Recht auf ein Mindesteinkommen in Höhe des Existenzminimums. Die Staaten sind also zunächst aufgefordert, darauf hinzuarbeiten, dass jeder Bürger auch über ein solches Mindesteinkommen verfügt.

 

Immer mehr setzt sich jedoch die Überzeugung durch, dass gerade auch die reicheren Staaten verpflichtet sind, mit zu helfen, die vor allem in Afrika, Asien und Südamerika verbreitete Armut durch großzügige materielle Unterstützungen zu bekämpfen. So gehört es zu den heutigen Grundzielen der UNO, die Armut in der Welt zu bekämpfen und Maßnahmen einzuleiten, diese Armut zumindest als Massenerscheinung zu beseitigen.

 

Es wird davon ausgegangen, dass die europäischen Staaten in ihrer Eigenschaft als Kolonialmächte vor allem dadurch zu der heutigen Armut in den Entwicklungsländern beigetragen haben, dass sie auf der einen Seite Rohstoffe zu stark verbilligten Preisen bezogen haben und auf der anderen Seite es verabsäumt haben, durch gezielte Infrastrukturinvestitionen die Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder herbeizuführen.

 

Aber auch dann, wenn diese Verschuldung nicht für jeden reichen Staat und vor allem in sehr unterschiedlichem Maße gilt, ist eine großzügige Hilfe schon allein deshalb geboten, da die drohenden Umweltkatastrophen nur dadurch bewältigt werden können, wenn alle Staaten darauf hinwirken, die Voraussetzungen für eine umweltgerechte Entwicklung herbeizuführen. Die Bereitschaft der heutigen Entwicklungsländer, an diesen Umweltaufgaben mitzuwirken, wird nur dadurch erreicht werden, dass die hochentwickelten Staaten ihrerseits bereit sind, sich an der Lösung der aktuellen Probleme der Entwicklungsländer zu beteiligen.

 

 

5. Die geschichtliche Entwicklung der Armutspolitik

 

Zum Abschluss dieses ersten Teils wollen wir noch ganz kurz auf die historische Entwicklung der politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut eingehen. Selbstverständlich kann hier keine ausführliche Darstellung der einzelnen im Verlauf der menschlichen Geschichte durchgeführten politischen Maßnahmen gebracht werden. Es sollen an dieser Stelle nur die wichtigsten Grundlinien in der Entwicklung einer Politik zur Bekämpfung der Armut umrissen werden.

 

Hilfe für Arme gab es wohl zu allen Zeiten, jedoch lag sowohl im Altertum wie auch im Mittelalter das Schwergewicht bei den individuellen Hilfen einzelner Personen und privater caritativer Einrichtungen sowie der Kirchen. Der Staat selbst hat sich im Allgemeinen nur in Ausnahmefällen um eine Hilfe zugunsten der Armen bemüht. So wurden z. B. auch im Altertum in Zeiten guter Ernte Getreidevorräte angelegt und diese Kornkammern wurden in Zeiten von Missernten und drohender Hungersnot für die Armen geöffnet.

 

Auch hatten z. B. einzelne Politiker, die sich im klassischen Rom für ein politisches Amt (als Tribun, Quästor oder Konsul) bewarben, die Massen der Römer nicht nur mit der Ausrichtung von Spielen, sondern eben auch mit der Verteilung von Getreide umworben. Es galt der Grundsatz: Panem et circensis. 

 

Einen gewissen Durchbruch in der Bekämpfung von Armut brachte dann die gesetzliche Einführung einer Fürsorge und Sozialversicherung in der Neuzeit, z. B. im Preußischen Armenpflegegesetz von 1842 sowie in Deutschland durch Einführung einer Sozialgesetzgebung unter Bismarck. Interessanter Weise waren es nicht Arbeiterparteien, sondern zumeist konservative Regierungen, die sich zu dieser Politik durchgerungen hatten.

 

Es ging bei diesen anfänglichen Maßnahmen oftmals auch gar nicht in erster Linie darum, die Not der Armen zu lindern, sondern es waren vor allem staatspolitische Motive, die z. B. in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Maßnahmen zum Arbeitsschutz und zum Verbot von Kinderarbeit eingeleitet haben. So hatte z. B. die preußische Regierung die Befürchtung, aufgrund von gesundheitlichen Mangelerscheinungen bei den Kindern nicht genügend Rekruten ausheben zu können; so kam es dann zu einem Verbot von Kinderarbeit.

 

Auch die Motive Bismarcks zur Einführung der Sozialgesetzgebung Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts bestanden keineswegs in erster Linie in sozialpolitischen Belangen, es ging Bismarck vielmehr primär darum, den Zulauf der Arbeiter zu den sozialistischen Parteien zu stoppen. Er versuchte dieses Ziel einmal dadurch zu erreichen, dass er im Sozialistengesetz (Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie von 1878) die Arbeit der Gewerkschaften und der sozialistischen Parteien erheblich erschwerte.

 

Zum andern jedoch versuchte er durch Einführung einer gesetzlichen Kranken-, Unfall- und Altersversicherung die Industriearbeiter an Kaiser und Regierung zu binden. Nichtsdestotrotz trug die Sozialgesetzgebung Bismarcks entscheidend dazu bei, die Gefahr, dass Arbeitnehmer aufgrund von Krankheiten und Unfällen in die Armut absinken, zu verringern.

 

Ein weiterer Fortschritt in der politischen Bekämpfung von Armut wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeleitet. Es kam unter Führung sozialdemokratischer Parteien vor allem in Großbritannien und in Schweden zum Ausbau eines Wohlfahrtsstaates, der im Grunde genommen allen denjenigen, welche aus welchen Gründen auch immer in materielle Not gerieten, von Seiten des Staates eine materielle Hilfe in Aussicht stellte. Noch ging es hierbei allerdings in erster nur darum, den einzelnen Bürgern, welche bereits in Not geraten waren, eine materielle Hilfe zu geben.

 

Erst nach dem Ende des zweiten Weltkrieges erfuhr die Politik zur Bekämpfung der Armut in mehrerer Hinsicht eine Ausweitung und Vertiefung. Die bisherigen Fürsorgemaßnahmen hatten vielfach den Charakter von Almosen, der einzelne in Not geratene Bürger war auf die Gnade der Politiker angewiesen, er hatte kein Rechtsanspruch auf die Hilfe, in teilweise sehr beschämenden Verfahren musste der einzelne Antragsteller seine Verhältnisse offen legen.

 

Hier wollte man dadurch Abhilfe schaffen, dass der einzelne dann, wenn er in Not geriet, auch einen Rechtsanspruch auf staatliche Hilfe hatte und dass auch der Umfang und die Art der Hilfe gesetzlich geregelt waren, sodass der einzelne Hilfesuchende nicht mehr der Willkür der Beamten ausgesetzt war. Äußerlich sprach man nun nicht mehr von Fürsorgeeinrichtungen, sondern von der Sozialhilfe.

 

Ein ähnliches Anliegen lag im Jahre 1957 bei der Einführung der dynamischen Rente vor. Wilfried Schreiber, auf den im Wesentlichen die Grundgedanken der dynamischen Rente zurückgingen, wollte sicherstellen, dass die Anpassungen der Renten an Inflation und Wachstum nicht mehr willkürlich von den Politikern beschlossen werden, dann etwa, wenn gerade Wahlen anstehen und die Politiker um die Stimmen der Rentner werben. Die Rentenerhöhungen sollten vielmehr automatisch und im Umfang der durchschnittlichen Lohnerhöhungen stattfinden.

 

Die damaligen Politiker konnten sich zwar nicht dazu durchringen, dieses Konzept in vollem Umfang einzuführen. Nur die sogenannten Zugangsrenten (die Renten im ersten Jahr nach der Verrentung) sollten nach einer objektiven Rentenformel berechnet werden und automatisch erfolgen, während sich die Regierung bei den sogenannten Bestandsrenten (den Renten ab dem 2. Jahr nach der Verrentung) das Recht vorbehielt, zu entscheiden, ob und in welchem Umfang eine Rentenanpassung wie bei den Zugangsrenten erfolgen soll.

 

Ein zweiter grundlegender Wandel trat mit dem Versuch ein, die Armut nicht nur erst dann zu bekämpfen, wenn der einzelne Betroffene bereits verarmt ist, sondern die eigentlichen Ursachen zu bekämpfen, welche zur Armut führen und damit gar keine (oder in wesentlich geringerem Maße) Armut entstehen zu lassen.

 

Nun hatten wir in dem Abschnitt, in dem wir auf die wichtigsten Bestimmungsgründe der Armut eingegangen sind, bereits gesehen, dass recht unterschiedliche Ursachen für die Entstehung von Armut verantwortlich waren. Ein wichtiger Grund für eine Verarmung war die Entstehung der Massenarbeitslosigkeit vor allem Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Wenn man also Armut beseitigen oder zumindest stark vermindern will, gilt es eine Politik zu betreiben, die dazu führt, dass es gar nicht zu Arbeitslosigkeit größeren Umfangs kommt, bzw. die eine entstandene Arbeitslosigkeit schnell wieder abbaut.

 

Der Versuch einer aktiven Beschäftigungspolitik war somit auch zur gleichen Zeit eine Politik um zu verhindern, dass es überhaupt in großem Umfang zu Armut kommt. Vor allem unter dem Einfluss von John Maynard Keynes gingen die Politiker zumeist von der Annahme aus, dass das Auftreten von Arbeitslosigkeit in der Rezession und Depression darauf zurückzuführen sei, dass die Unternehmer zu wenig investierten, sodass auf den Kapitalmärkten Angebotsüberhänge entstünden. Aufgabe des Staates sei es nun, durch defizitär finanzierte Ausgabensteigerungen die Nachfragelücke zu schließen und somit die Gesamtnachfrage an das verfügbare Angebot an Produktionsfaktoren anzupassen.

 

Nun erhob sich in der Zwischenzeit Kritik gegen diese keynesianisch orientierte Beschäftigungspolitik, es wurden Zweifel erhoben, ob diese Politik tatsächlich in der Lage sei, Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden, vor allem aber wurde befürchtet, dass von einer solchen Politik unerwünschte Nebenwirkungen – wie z. B. Inflationserscheinungen oder eine Belastung der zukünftigen Generationen – ausgingen.

 

Welche Beschäftigungspolitik effizient ist und somit tatsächlich in der Lage ist, Arbeitslosigkeit und damit auch Armut zu vermeiden, ist in unserm Zusammenhang nicht die entscheidende Frage. Wichtig ist vielmehr in unserem Zusammenhang allein, dass man den Versuch unternommen hat, Armenpolitik nicht mehr nur als eine Art Feuerwehr gegen die Not zu verstehen, die erst dann eingreift, wenn die Armut bereits eingetreten ist, sondern dass man nun gewillt war, Maßnahmen zu ergreifen, um durch Bekämpfung der eigentlichen Ursachen Armut gar nicht erst entstehen zu lassen.

 

Wir hatten im Abschnitt über die historischen Bestimmungsgründe für Armut weiterhin gesehen, dass vor allem in den letzten Jahrzehnten Armut vor allem dadurch entstanden ist, dass ein Teil der Arbeitnehmer nicht über die Mindestausbildung verfügt, welche für die Einstellung eines Arbeitnehmers unerlässlich ist. Dieses Problem ist in der letzten Zeit einmal deshalb entstanden, weil der technische Fortschritt die Qualifikationserfordernisse für Arbeitnehmer erhöht hat. Technischer Fortschritt gab es zwar schon immer, aber in früheren Zeiten führte der technische Fortschritt fast nur bei den hochqualifizierten Arbeitskräften zu einer Anhebung des erforderlichen Qualifikationsniveaus, stets wurden auch zahlreiche ungelernte Arbeitnehmer für die Produktion benötigt. Die neueren technischen Entwicklungen haben jedoch dazu geführt, dass der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften stark geschrumpft ist, eine gewisse Mindestausbildung, z. B. Kenntnisse zur Bedienung von Computern werden heutzutage fast von allen Arbeitskräften verlangt.

 

Ein zweiter Grund dafür, dass gerade Bildungsmängel eine wichtige Ursache für Arbeitslosigkeit und damit auch Armut sind, liegt in der Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer, welche oftmals nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen. Nun könnte man natürlich vermuten, dass zumindest die Kinder dieser eingewanderten Arbeitnehmer in der Schule die deutsche Sprache erlernen, sodass spätestens in der nächsten Generation damit gerechnet werden kann, dass diese Mangelerscheinungen weitgehend von selbst verschwinden. Wir werden weiter unten sehen, dass diese Hoffnungen nicht immer erfüllt werden, dass gerade der Umstand, dass die Eltern oftmals die deutsche Sprache nicht beherrschen, auch dazu beiträgt, dass ihre Kinder Schwierigkeiten haben, die deutsche Sprache zu erlernen.

 

Eine letzte Entwicklung in der politischen Bekämpfung von Armut liegt in der Internationalisierung. Wir hatten bereits in dem Abschnitt über den Wandel in der Bewertung von Armut darauf hingewiesen, dass das Recht auf Freiheit von materieller Bedrohung zwar schon immer als ein Menschenrecht und damit als ein Recht angesehen wurde, das für alle Menschen zu gelten hat. Die Verfassungen der freiheitlich demokratischen Staaten verpflichten jedoch Regierung und Parlament nur dazu, den Bürgern dieses Staates diesen Schutz zu garantieren. Es bedurfte eines weiteren Schrittes, dass aus dem allgemeinen für alle Menschen gültigen Recht auf ein Existenzminimum schließlich auch eine internationale Verpflichtung zu einer Hilfe über die Staatsgrenzen hinweg wurde.

 

Hierbei gab wiederum nicht unbedingt die moralische Verpflichtung den Ausschlag für die internationalen Hilfen an ärmere Länder. Es ist vielmehr oftmals die Einsicht, dass die hochentwickelten Staaten in gewisser Weise genauso des Wohlwollens der Entwicklungsländer und deren Bereitschaft zur Mitarbeit an internationale Problemlösungen bedürfen, wie umgekehrt die Entwicklungsländer auf die Hilfe von Seiten der hochentwickelten Staaten angewiesen sind. Wichtige Probleme vor allem des Umweltschutzes bedürfen der aktiven Mitarbeit der Entwicklungsländer.

 

Es liegt deshalb nahe, Tauschgeschäfte zu initiieren, indem eine Mitarbeit der Entwicklungsländer bei der Lösung der weltweiten Umweltprobleme dadurch honoriert wird, dass die hochentwickelten Staaten die heutigen Entwicklungsländer ihrerseits materiell unterstützen. So wurde schon sehr früh das Konzept des ‚Debt for Nature‘ entwickelt, indem die  entwickelten Industriestaaten einen vollständigen oder teilweisen Schuldenerlass dann gewähren, wenn die Entwicklungsländer ihrerseits - z. B. durch Reduzierung der geplanten Abholzungen von Regenwald – ihren Beitrag zur Lösung der globalen Umweltprobleme leisten.

 

Diese Entwicklung zur Internationalisierung äußerte sich zunächst darin, dass heutzutage die meisten Industriestaaten dann spontan materielle Hilfe leisten, wenn einzelne Länder aufgrund von Naturkatastrophen wie Erdbeben, Wirbelstürmen und Überschwemmungen in Bedrängnis geraten. Aber es besteht auch ein Bedarf daran, diese Hilfen der einzelnen Länder zu koordinieren und vorbeugende Infrastrukturinvestitionen (z. B. die Entwicklung eines Frühwarnsystems) zu unterstützen, sodass auf diesem Gebiete vielfältige Initiativen von Seiten der UNO und anderer internationaler Organisationen wie z. B. der Europäischen Union notwendig werden.

 

Fortsetzung folgt!