Gliederung:
1.
Das Problem
2.
Gemeinsame Vorstellungen beider Weltbilder
3.
Genauere Analyse dieser fünf Bibelstellen
4.
Der Dekalog als Magna Charta des Judentums
5.
Das Gleichnis vom anvertrauten Geld
6.
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg
7.
Schlussfolgerungen
1. Das
Problem
Wir wollen uns in diesem Artikel mit der Frage befassen, in welchem Verhältnis das Christentum zum Kommunismus steht, insbesondere wie Gerechtigkeit in beiden Weltanschauungen verstanden wird. Im Allgemeinen werden beide Weltbilder als miteinander unverträglich gehalten. So hatte bereits Papst Leo XIII. in seiner am 15. Mai 1891 veröffentlichten Enzyklika Rerum novarum den Kommunismus als unvereinbar mit der katholischen Religion verworfen.
Im ersten Teil wendet sich Papst Leo XIII. gegen die kommunistische Theorie zur Beseitigung der gesellschaftlichen Missstände zu Beginn der Industrialisierung. Die von den Sozialisten geforderte Beseitigung des Privateigentums sei rechtswidrig und widerspreche den natürlichen Gesetzen und schade darüber hinaus den Arbeitnehmern. Der Erwerb von Eigentums sei seit jeher der wichtigste Beweggrund von Arbeit.
Wenn das durch Arbeit erlangte Eigentum in Gemeineigentum umgewandelt werde, werde der Arbeiter seiner von Natur zukommenden Erträge beraubt. „Die Lehre des Sozialismus (…) widerspricht der naturrechtlich christlichen Eigentumslehre, bringt Verwirrung in den Aufgabenbereich des Staates und stört die Ruhe des Gemeinwesens“.
Auf der anderen Seite verstand sich jedoch der Kommunismus ebenfalls in unvereinbaren Gegensatz zum christlichen Glauben. Obwohl Karl Marx, welcher zusammen mit Friedrich Engels das Kommunistische Manifest veröffentlicht hatte, sowie Jossif Stalin christlich bzw. orthodox erzogen worden waren, verstanden sie sich jedoch im Allgemeinen als überzeugte Atheisten.
Zur Zeit der französischen Revolution entstand zwar eine kommunistische Bewegung, welche christlichen Ursprungs war. So hatte vor allem Pierre Joseph Proudhon in seiner Arbeit von 1846: Systèmes des contradictions économiques, ou philosophie de la misère die Abschaffung des Gemeineigentums gefordert. Für derartige Thesen hatte Karl Marx jedoch nur Spott übrig. Er verfasste unter dem Titel La misere de philosophie eine Streitschrift gegen diese christlich geprägten Thesen.
W. I. Lenin, welcher die kommunistische Revolution nach Russland Ende des ersten Weltkrieges gebracht hatte, widersprach ebenfalls in seiner 1905 veröffentlichten Arbeit über ‚Sozialismus und Religion‘ christlichem Gedankengut.
‚Die Religion ist eine von verschiedenen Arten geistigen Joches, das überall und allenthalben auf den durch ewige Arbeit für andere, durch Not und Vereinsamung niedergedrückten Volksmassen lastet. Die Religion ist das Opium des Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen. Das moderne Proletariat bekennt sich vielmehr zum Sozialismus, der die Wissenschaft in den Dienst des Kampfes gegen den religiösen Nebel stellt und die Arbeiter vom Glauben an ein jenseitiges Leben dadurch befreit, dass er sie zum diesseitigen Kampf für ein besseres irdisches Leben zusammenschließt.‘
Für die Geringeinschätzung Stalins der katholischen Kirche gegenüber spricht schließlich seine Frage auf der Konferenz zu Jalta, über wie viele Divisionen denn der Vatikan verfüge. Stalin sah im Vatikan ein ‚gefährliches Zentrum antikommunistischer Wühlarbeit‘. Nur dann, als sich die Sowjetunion anfangs in ihrer Existenz bedroht fühlte, war Stalin zu geringen Zugeständnissen an die orthodoxe Kirche bereit.
Obwohl sich auch in der heutigen Zeit der Kommunismus im Allgemeinen als atheistisches Weltbild versteht, gibt es auch Ausnahmen von dieser Regel. So bezeichnet sich Bodo Ramelow, Ministerpräsident in Thüringen und erster kommunistischer Länderchef in der BRD, ausdrücklich als bekennender Christ. Im Gegensatz zu den meisten führenden Vertretern der Partei der Linken sieht Ramelow in seinem offenen Bekenntnis zur christlichen (protestantischen) Religion keine Gegensätze, vielmehr geht er davon aus, dass Kommunismus und Christentum sich gemeinsam den Ärmsten dieser Gesellschaft annehmen und die Sorge für die Armen als wichtigste Aufgabe ansehen.
Wir wollen in diesem Artikel überprüfen, inwieweit denn der Kommunismus sowie die christliche Religion miteinander vereinbar sind. In einem ersten Schritt wollen wir die Frage klären, in welchen Punkten denn beide Weltanschauungen von gemeinsamen Zielsetzungen ausgehen. Wir werden dann in weiteren Schritten zeigen, dass diese Gemeinsamkeiten nur oberflächlich bestehen, dass sich in Wirklichkeit die dem Christentum zugrundeliegende Idee der Gerechtigkeit in entscheidenden Punkten von den Gerechtigkeitsvorstellungen des Kommunismus unterscheidet.
2.
Gemeinsame Vorstellungen beider Weltbilder
Auf den ersten Blick gibt es zwischen christlicher Lehre und dem Kommunismus im Hinblick auf Verteilungsfragen in der Tat gewisse Übereinstimmungen. Sie gipfeln darin, dass sich beide Weltanschauungen insbesondere für das Wohl der Ärmsten und der Notleidenden einsetzen. Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über diese Übereinstimmungen.
Als erstes könnte in diesem Zusammenhang die Bergpredigt Jesu erwähnt werden. Auch hier wird deutlich, dass sich Jesus genauso wie die Kommunisten um das Wohl gerade der Ärmsten einer Bevölkerung kümmert. Im Evangelium nach Lukas Kapitel 6 z. B. heißt es unter anderem:
‚20 Er richtete seine Augen auf seine Jünger und sagte: Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.
21 Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet satt werden. Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.
22 Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und aus ihrer Gemeinschaft ausschließen, wenn sie euch beschimpfen und euch in Verruf bringen um des Menschensohnes willen.
23 Freut euch und jauchzt an jenem Tag; euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den Propheten gemacht….
24 Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten.
25 Weh euch, die ihr jetzt satt seid; denn ihr werdet hungern. Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen.‘
Als zweites sei auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter verwiesen. Der barmherzige Samariter hilft tatkräftig den Armen und steht somit den Bemühungen der Kommunisten für die ärmere Bevölkerung in Nichts nach. Bei Lukas, Kapitel 10 lesen wir:
‚29 Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster?
30 Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.
31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter.
32 Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter.
33 Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid,
34 ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn.
35 Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?
37 Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!‘
An dritter Stelle sei die Aussage Jesu aufgeführt, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe als ein Reicher ins Himmelreich. Diese Bibelstelle finden wir bei Matthäus, Kapitel 19:
‚20 Der junge Mann erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir jetzt noch?
21 Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen; so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.
22 Als der junge Mann das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen.
‚23 Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: Amen, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.
24 Nochmals sage ich euch: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.‘
Könnte Jesus deutlicher zum Ausdruck bringen, dass er das Streben der Reichen nach immer mehr Reichtum genauso verurteilt wie die Kommunisten?
Eine ähnliche Sichtweise begegnen wir viertens auch bei Matthäus in Kapitel 25, als Jesus vom Endgericht spricht:
‚31 Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen.
32 Und alle Völker werden vor ihm zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet.
33 Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke aber zur Linken….
41 Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!
42 Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben;
43 ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht.
44 Dann werden auch sie antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?
45 Darauf wird er ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.
46 Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben.‘
Könnte das Plädoyer gegen die Reichen schärfer ausfallen?
Schließlich können wir fünftens in diesem Zusammenhang auf das Verhalten der christlichen Urgemeinde hinweisen. In der Apostelgeschichte des Lukas in Kapitel 2 erfahren wir vom Leben der jungen Christengemeinde in den Jahren unmittelbar nach Jesu Himmelfahrt:
‚43 Alle wurden von Furcht ergriffen; denn durch die Apostel geschahen viele Wunder und Zeichen.
44 Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam.
45 Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.
46 Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens.‘
Dieser Bericht scheint zu zeigen, dass die ersten Christen, welche zum großen Teil Jesus Leben und Wirken noch miterlebt haben, offensichtlich das kommunistische Ideal des gemeinsamen Teilens aller irdischen Güter vorlebten und dass sie der Überzeugung waren, dass Jesus genau dieses Verhalten von ihnen erwartet hatte.
3.
Genauere Analyse dieser fünf Bibelstellen
Auf den ersten Blick hat es also den Anschein, als ob das Christentum und der Kommunismus im Hinblick auf die Frage der Gerechtigkeit gleiche oder zumindest verwandte Zielvorstellungen entwickelt haben. Eine eingehendere Analyse offenbart jedoch beachtliche Unterschiede.
Im Zusammenhang mit der Seligpreisung der Armen ist von Bedeutung, dass Matthäus in Kapitel 5 Vers 3 nicht einfach von den Armen, sondern von den im Geist Armen spricht. Hiermit ist sicherlich nicht angedeutet, dass Jesus über die geistig minderbemittelten Menschen sprechen wollte. Jesus meinte vielmehr die Menschen, welche wissen, dass sie im Vergleich zu Gott und vor Gott arm sind, dass also alles Gute von Gott kommt.
Eine solche Interpretation entspricht auch der allgemeinen Haltung von Jesus. Eine der wichtigsten Vorwürfe gegenüber den Pharisäern und Schriftgelehrten bestand ja darin, dass er ihnen vorwarf, zwar die Mosaischen Gesetze buchstabengetreu zu erfüllen, dass sie aber den Sinn dieser Bestimmungen vollkommen aus den Augen verloren hätten: ‚Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.‘ (Mt 5,20).
Auf die Seligpreisungen in der Bergpredigt folgen dann auch einige Präzisierungen der Mosaischen Gesetze, welche mit der Feststellung eingeleitet werden:
‚Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: …(es folgen die einzelnen Bestimmungen) Ich aber sage euch ‚(Mt 5,21-22).
Wäre Jesus wirklich in seinem Herzen ein Kommunist gewesen, dann hätte er in diesem Zusammenhang etwa gesagt: Ihr habt gehört, dass ihr von allen wirtschaftlichen Erträgen ein Zehntel den Priestern zur Verrichtung der gemeinschaftlichen Aufgaben und zur Speisung der Armen geben sollt. Ich aber sage euch, ein Zehntel reicht bei weitem nicht, jeder sollte für das Gemeinwohl mindestens ein Drittel hergeben, diejenigen hingegen, welche im Überfluss leben, sollten mindestens die Hälfte ihrer Einkünfte an den Staat abführen.
Von einer ganz anderen Vorstellung über die geschuldete Gerechtigkeit erfahren wir dann im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Als erstes kommen ein Priester sowie ein Levit an dem von Räubern überfallenen Mann vorbei. Wenn wir bedenken, dass die Kirchendiener zu der damaligen Zeit auch die politischen Aufgaben zu verrichten hatten und dass noch kein Staat in unserem heutigen Sinne bestanden hatte, dann wäre es ja nach kommunistischer Überzeugung gerade die Aufgabe der für die Gemeinschaft Tätigen gewesen, sich um das Los der Armen (z. B. der Überfallenen und Ausgeraubten) zu kümmern. Sie aber gehen achtlos an dem Überfallenen vorüber.
Die eigentliche Hilfe kommt dann von einem Mann aus Samaria. Um die Bedeutung dieses Hinweises verstehen zu können, müssen wir uns daran erinnern, dass Samaria zwar ursprünglich das Gebiet eines der zwölf Stämme Israels war, dass aber im Zusammenhang mit der assyrischen Gefangenschaft die ursprünglichen Einwohner nach Assyrien verschleppt wurden und im Gegenzug andere Völker auf dem Gebiet Samarias angesiedelt wurden.
Ein Mann aus Samaria war also aus damaliger jüdischer Sicht kein Jude, sondern ein Heide. Und der Hinweis, dass nicht etwa ein Angehöriger des jüdischen Volkes, sondern ein Fremder, eben ein Mann aus Samaria, die geschuldete Hilfe leistet, dient dazu, festzustellen, dass die von Jesus als wichtigstes göttliches Gebot geforderte Nächstenliebe über die staatlichen Grenzen hinweg Geltung habe, es geht nicht darum, nur Genossen des eigenen Stammes zu Hilfe zu eilen, sondern allen Menschen zu helfen, denn alle Menschen sind insofern gleich, als sie alle letzten Endes von Gott erschaffen wurden.
Und ein zweites soll uns dieses Gleichnis lehren: Nächstenliebe ist nicht primär Sache des Staates, sondern in erster Linie ist jeder Einzelne angesprochen. Immer dann, wenn wir Menschen begegnen, welche der Hilfe bedürfen, sind wir mit diesem Gebot der Nächstenliebe aufgefordert, tatkräftig und in dem Umfang, wie es uns möglich ist, zu helfen.
Diese Betonung der individuellen Hilfe bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch dem Staat die Aufgabe übertragen wurde, den Armen und Notdürftigen zu helfen. Oftmals reicht eine noch so großzügige Nächstenhilfe der einzelnen Bürger nicht aus, um die Not zu lindern, hier kann nur eine von der Gemeinschaft ausgehende Hilfe eine befriedigende Lösung bringen. Jesus hat in einem etwas anderen Zusammenhang davon gesprochen, dass man das eine tun (die Nächstenliebe) und das andere (die Hilfe durch die Gemeinschaft) nicht lassen solle. Andererseits ist keine noch so perfekte staatliche Hilfe in der Lage, jede Not zu lindern. Stets wird es Fälle geben, wo die Voraussetzungen für eine staatliche Hilfe versagen. Und dies bedeutet, dass individuelle Hilfe unerlässlich ist.
Eine ganz andere Sicht der Gerechtigkeit finden wir bei Lenin. In seiner Schrift über Sozialismus und Religion spricht sich Lenin hingegen gerade gegen diese individuelle Nächstenliebe aus:
‚Diejenigen aber, die von fremder Arbeit leben, lehrt die Religion Wohltätigkeit hienieden, womit sie ihnen eine recht billige Rechtfertigung ihres ganzen Ausbeuterdaseins anbietet und Eintrittskarten für die himmlische Seligkeit zu erschwinglichen Preisen verkauft. Die Religion ist das Opium des Volks. Die Religion ist eine Art geistigen Fusels, in dem die Sklaven des Kapitals ihr Menschenantlitz und ihre Ansprüche auf ein halbwegs menschenwürdiges Leben ersäufen.‘
Aber hatte sich Jesus nicht zumindest genauso wie die Kommunisten gegen die Reichen ausgesprochen, als er davon sprach, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe als dass ein Reicher ins Himmelreich eingehe?
Über die Bedeutung dieses Gleichnisses ist eine eingehende Diskussion entstanden. Würde man diese Aussage wortwörtlich nehmen, hieße dies, dass kein einziger Reicher schließlich ins Himmelreich gelangen könne. Denn es ist ganz ausgeschlossen, dass ein Kamel und mag es noch das kleinste auf der Welt sein, je durch ein tatsächlich existierendes Nadelöhr schlüpfen kann, mag das Nadelöhr noch so groß sein.
Diese Feststellung widerspricht jedoch eindeutig einer anderen Bibelstelle über Zachäus, in der Jesus zu Zachäus sagte: ‚Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist.‘ Zachäus war zur Zeit Jesu der oberste Zollpächter in Judäa, welcher im Auftrag der Römer die Juden bis aufs Blut auspresste und zu den Reichsten Einwohnern Judäas zählte. Wenn Zachäus das Heil geschenkt wurde und wenn auch er als Sohn Abrahams bezeichnet wird, ist auch er – trotz seines Reichtums – ein Anwärter auf das jenseitige Reich Gottes.
Aber die Feststellung, dass kein einziger Reicher in das Himmelreich gelangen kann, steht auch bereits in Widerspruch zu dem Einleitungssatz dieses Gleichnisses: ‚Amen, das sage ich euch: Ein Reicher wird nur schwer in das Himmelreich kommen.‘ Wenn etwas schwer ist, dann ist es nicht unmöglich, dann bedarf es zwar einiger Anstrengungen eines Reichen, aber wenn er sich Mühe gibt, kann er es sehr wohl erreichen, ins Reich des Himmels einzugehen.
Vor allem aber stünde eine solche Feststellung, kein einziger Reicher gelange ins Himmelreich, in eindeutigem Widerspruch zu der Antwort, welche Jesus seinen Jüngern gab, als diese über dieses Gleichnis vom Kamel, das durch kein Nadelöhr geht, entsetzt waren: ‚Jesus sah sie an und sagte zu ihnen: Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich.‘ Danach kann sehr wohl auch ein Reicher mit Gottes Hilfe ins Himmelreich eingehen.
Aber auch die Art und Weise, wie Jesus das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr einleitet, verbietet eigentlich diese Feststellung, kein Reicher gelange ins Himmelreich. Jesus hatte in einem ersten Satz davon gesprochen, dass es ein Reicher schwer habe, ins Himmelreich einzugehen. Jesus fährt dann fort: ‚Nochmals sage ich euch‘, um dann das Bild vom Kamel anzuschließen.
Wollte Jesus mit dem Vergleich mit dem Kamel aussagen, dass kein einziger Reicher das Himmelreich erreiche, hätte er vielleicht fortfahren können: ‚nein es ist nicht nur schwierig, sondern sogar unmöglich, für einen Reichen ins Himmelreich einzugehen, die Unmöglichkeit würde dann in mehreren sich steigernden Schritten aufgezeigt. In Wirklichkeit sagt Jesus jedoch, nochmals sage ich euch, er bringt damit zum Ausdruck, dass er den Inhalt der ersten Aussage (es ist schwierig) wegen der Wichtigkeit der Aussage wiederholen möchte, indem er ein Bild benutzt, das jeder Zuhörer sofort erkennen kann.
Wir dürfen also mit anderen Worten den Ausspruch über den Reichen und das Kamel nicht wortwörtlich verstehen. Es wurden nun Versuche unternommen, diese Bibelstelle umzuinterpretieren. So wurde die Meinung geäußert, das Nadelöhr sei ein volkstümlicher Name für eine besonders enge Mauerpforte in der Stadtmauer Jerusalems. Durch diese Mauerpforte könne zwar ein Kamel zur Not durchgedrängt werden, aber eben nur mit großen Anstrengungen. Leider ist es vollkommen unklar, ob diese Mauerpforte zur Zeit Jesu schon existiert hatte.
Andere wie z. B. auch die jüdische Religionswissenschaftlerin Ruth Lapide haben darauf hingewiesen, dass hier ein Lesefehler vorliege, das Wort ‚κάμιλος‘ heiße Seil und sei mit dem Wort ‚κάμηλος‘ (was Kamel bedeutet) verwechselt worden. Das in diesem Gleichnis verwendete Bild weise also darauf hin, dass das Anbringen der Seile an die Fischernetze äußerst schwierig sei.
Mir scheint auch diese Interpretation nicht überzeugend. Es ist allenfalls denkbar, dass eine solche Verwechslung vorgenommen wurde, es ist aber keinesfalls bewiesen, dass im Urtext oder sogar bei Jesus selbst von einem Seil und nicht doch von einem Kamel gesprochen wurde.
Vor allem wird bei einer solchen Interpretation unverständlich, weshalb Jesus im Zusammenhang mit diesem Bild noch davon spricht, dass es ein Reicher schwer, ja sogar sehr schwer hat, ins Himmelreich zu gelangen. Es mag zwar für jemand, der nicht im Fischereibereich beschäftigt ist, äußerst schwierig sein, das Seil an ein Fischernetz anzubringen. Für einen gelernten Fischer dürfte diese Aufgabe jedoch kein unlösbares Problem darstellen, das Anbringen der Seile an das Fischernetz gehörte sicherlich zu den täglichen Aufgaben eines Fischers. Und wenn wir diese Feststellung unserer Interpretation dieses Gleichnisses zugrunde legen, heißt dies doch, dass jeder Reiche (Fischer), der sein Handwerk ordnungsgemäß erlernt hat, durchaus die Voraussetzungen mitbringt, um schließlich ins Himmelreich einzugehen.
Vor allem steht der Versuch, anstelle des Kamels von einem Seil zu sprechen, in eklatantem Widerspruch zu der Reaktion, den die Jünger auf dieses Gleichnis zeigten, in dem sie Jesus entsetzt frugen, wer denn dann überhaupt noch ins Himmelreich gelangen könne. Denn wenn diese Interpretation richtig wäre, könnte jeder Reiche, sofern er sich nur etwas mühe gäbe, sehr wohl ins Himmelreich gelangen. Und Jesus hätte dann auch nicht daraufhin weisen müssen, dass für Gott auch das möglich sei, was dem Menschen unmöglich erscheine. Schließlich war ein großer Teil der Jünger Jesu von Beruf Fischer und für ein Fischer ist das Anbringen des Seils an die Fischernetze eben nicht unmöglich.
Wie haben wir also das Bild vom Kamel und dem Nadelöhr zu interpretieren? Wir erinnern uns daran, dass Jesus ganz allgemein sich einer Ausdrucksweise bedient, welche im ganzen orientalischen Raum üblich ist: Nämlich eine Lebensweisheit pointiert, das heißt zugespitzt zu formulieren, um auf diese Weise das Augenmerk des Zuhörers in besonderem Maße zu erreichen. Auf die Frage, wie oft man seinen Mitbrüdern verzeihen solle, wird dann nicht schlichtweg geantwortet, dass Gläubige immer wieder verzeihen sollen, wie oft sie auch geschädigte wurden, sondern es wird die etwas blumig wirkende, plastische Ausdrucksweise gewählt: ‚Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.‘ (Matthäus Kapitel 18,21-22)
Und in gleicher Weise meint dann das Bild vom Kamel, das durch kein Nadelöhr passt, dass es einfach schwer, sehr schwer sogar ist, als Reicher ins Himmelreich zu gelangen.
Zum Verständnis dieses Gleichnisses hilft es auch, wenn man andere Gleichnisse heranzieht, die ebenfalls von den Reichen und ihren Gefahren handelt. Im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Lukas 16,19-31) wird uns von einem Reichen berichtet, welcher in Saus und Braus lebte und nach seinem Tode in der Unterwelt qualvolle Schmerzen litt. Wir erfahren auch, weshalb er diese Strafe empfing: Er hatte zugesehen, wie ein Armer vor der Tür des Reichen übersät von Geschwüren gelegen hatte, ohne dass der Reiche bereit gewesen wäre, diesem Armen zu helfen und ihm sogar die Brosamen, die von seinem Tische fielen, verwehrte.
Er hat also das Gebot der Nächstenliebe gravierend verletzt, obwohl dem Reichen das Elend des Lazarus vor Augen war (Lazarus lag ja für ihn sichtbar vor seiner Haustür). Und obwohl er ohne große materielle Einschränkungen diesem Armen hätte helfen können, nahm er von Lazarus keinerlei Notiz und ließ ihn buchstäblich verrecken.
Wir erfahren also in diesem Gleichnis, dass der Reiche nicht einfach deshalb nach seinem Tode bestraft wurde, weil er reich war, sondern weil er das Gebot der Nächstenliebe sträflich missachtet hatte.
Aufschluss darüber, wann denn ein Reicher das Himmelreich verfehlt, bringt auch das Gleichnis vom reichen Toren bei Lukas Kapitel 12,16-21:
16 ‚Und er erzählte ihnen folgendes Beispiel: Auf den Feldern eines reichen Mannes stand eine gute Ernte.
17 Da überlegte er hin und her: Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll.
18 Schließlich sagte er: So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen.
19 Dann kann ich zu mir selber sagen: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens!
20 Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?
21 So geht es jedem, der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber vor Gott nicht reich ist.‘
Dieser Reiche wird von Gott als Narr beschimpft, wiederum nicht einfach deshalb, weil er reich ist, sondern weil sein ganzes Tun und Lassen einzig und allein darauf gerichtet ist, noch reicher zu werden und weil er dann diesen Reichtum allein dafür zu verwenden beabsichtigt, um sich sagen zu können: Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freu dich des Lebens!‘.
Hätte er seinen Reichtum dazu benutzt, zumindest einen Teil seines Reichtums entsprechend dem Gebot der Nächstenliebe zu verwenden und wenn die Suche nach Reichtum nicht die einzige oder wichtigste Sorge seines Lebens geblieben wäre, dann hätte Jesus ihn vermutlich nicht als Narr bezeichnet, der nun einen Anspruch auf das ewige Leben gerade durch sein Tun verwirkt hatte.
Also kommen wir auch hier zu dem Ergebnis, dass das Reichsein als solches nicht in Widerspruch zum christlichen Glauben steht, dass erst dann, wenn ein Reicher über seine wirtschaftlichen Tätigkeiten das eigentliche und sehr viel wichtigere Ziel, nämlich schließlich ins Himmelreich einzugehen, vernachlässigt, also sich nur noch darum kümmert, immer noch reicher zu werden, das ewige Leben verwirkt hat. Dann in der Tat steht dieses Reichsein und dieses Tun in krassem Gegensatz zum christlichen Glauben.
Einen ähnlichen Unterschied zwischen christlicher und kommunistischer Gerechtigkeit finden wir bei der Schilderung über das Endgericht. Es sind hier nicht die politischen Führer, welche eine kommunistische Ordnung errichtet haben, die hierfür mit dem Himmelreich belohnt werden und es sind auch nicht die Machthaber, welche nichts gegen die Ausbeutung der Ärmsten getan haben, welche bestraft werden. Zur Rechten stehen vielmehr diejenigen, welche als Individuen ihren Nächsten geholfen haben und zur Linken werden diejenigen Individuen gestellt, welche es unterlassen haben, all denjenigen Armen, welche sie als Nächste begegnet sind, die notwendige Hilfe zu gewähren.
Kommen wir schließlich zu der Stelle der Apostelgeschichte, welche davon berichtet, dass die ersten Christen all ihr Vermögen mit den anderen Mitgliedern der Christengemeinde geteilt haben. Um dieses Verhalten, das man in der Tat durchaus als kommunistisch bezeichnen kann, richtig zu interpretieren, müssen wir uns darüber klar sein, dass die ersten Christen von der Überzeugung ausgingen, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe. Im Matthäusevangelium Kapitel 24, 32-36 spricht Jesus zu seinen Jüngern:
‚32 Lernt etwas aus dem Vergleich mit dem Feigenbaum! Sobald seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, wisst ihr, dass der Sommer nahe ist.
33 Genauso sollt ihr erkennen, wenn ihr das alles seht, dass das Ende vor der Tür steht.
34 Amen, ich sage euch: Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles eintrifft.
35 Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.
36 Doch jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater.‘
Obwohl also Jesus festgestellt hatte, dass niemand außer Gott Vater, noch nicht einmal sein Sohn, also noch nicht einmal er selbst, den genauen Termin für das Ende dieser Welt kenne, deutete er dennoch an, dass das Ende nahe sei, dass seine Lebensgefährten noch dieses Ende erleben würden.
Es ist deshalb nur zu verständlich, dass die ersten Christen unmittelbar nach der Himmelfahrt Jesu fest davon überzeugt waren, dass das Ende dieser Welt unmittelbar bevorstehe. Angesichts dieser Überzeugungen muss natürlich auch erwartet werden, dass sich diese Christen nicht mehr mit den irdischen Problemen befassten als unmittelbar notwendig und sich stattdessen ganz auf das Ende ihres Lebens vorbereiteten. Das Vermögen der Einzelnen, das in normalen Zeiten dazu dient, die notwendigen Investitionen für die Zukunft zu tätigen, verliert hier diese Aufgabe.
Es kann deshalb aus diesem Verhalten auch nicht geschlossen werden, dass die ersten Christen eine kommunistische Haltung gegenüber dem Vermögen auch für normale Zeiten, in denen das Ende der Welt noch nicht in Sicht ist, für erwünscht und notwendig gehalten haben.
Fortsetzung
folgt!