Gliederung:
0. Das Problem
1. Erscheinungsformen der Krise
a. Die Schuldenkrise
b. Die Flüchtlingskrise
2. Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten
a. Die europäische Werteordnung
b. Der Verzicht auf kriegerische Auseinandersetzungen
c. Die vier Grundfreiheiten
d. Der optimale Währungsraum
e. Der optimale Wirtschaftsraum
3. Lösungsmöglichkeiten
a. Überwindung der Schuldenkrise
b. Lösungsmöglichkeiten der Flüchtlingskrise
c. Freihandel versus Wirtschaftsunion
4. Schlussbemerkungen
1. Erscheinungsformen der Krise
b. Die Flüchtlingskrise Fortsetzung
Ein
großes Problem besteht im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise darin, dass
offensichtlich große Teile der Bevölkerung von der Befürchtung ausgehen, dass
ihre eigene Position ernsthaft bedroht sei. In der Bevölkerung bestehen oftmals
falsche Vorstellungen darüber, wie sich die Aufnahme der Flüchtlinge auf ihre
unmittelbare Wohlfahrt auswirkt. Aufgrund dieser teilweise falschen
Vorstellungen entwickelten sich in breiten Schichten der Bevölkerung Ängste,
welche sich dann in einer fehlenden Bereitschaft ausdrücken, den Flüchtlingen
menschenwürdig zu begegnen, wobei rechtsradikale Parteien diese Ängste ausnutzen,
um ausländerfeindliche Parolen zu verbreiten.
So
gilt es sich zunächst einmal klar zu machen, dass es sich bei diesen Ängsten um
ganz natürliche Veranlagungen handelt. Der Mensch ist ein soziales Wesen und
bedarf zu seiner Lebensbewältigung der Hilfe der Gemeinschaft der Anderen. Die
Lebensbewältigung gelingt, indem der Einzelne auf die Hilfe der Gemeinschaft
zählen kann.
Es
hilft dann auch schon, dass man sieht, dass die jeweils Anderen vor den gleichen
oder ähnlichen Problemen stehen und dass sie in der Lage sind, die hierbei
entstehenden Schwierigkeiten zu überwinden. Selbst dann, wenn sie feststellen
müssen, dass die Anderen bisweilen scheitern, so hilft es trotzdem, wenn sie beobachten
können, wie die Anderen auch diese Schwierigkeiten verkraften können.
Wenn
die Anderen das gleiche Aussehen wie sie selbst haben und sich genauso
verhalten wie sie selbst, stärkt dies die innere Zufriedenheit, während die Begegnung
mit anders aussehenden und sich anders verhaltenden Fremden Ängste und
Unsicherheit auslöst, die dann – wenn man sich nicht bewusst gegen diese
Regungen stellt – leicht in Aggression münden.
Auch
hier noch gilt, dass es sich hierbei um durchaus menschliche und ererbte
Verhaltensmuster handelt und dass erst der Versuch der rechtsradikalen Parteien,
auf der Grundlage dieser Befindlichkeiten Fremdenhass zu schüren, politisch
verwerflich wird.
Oft
reicht es aus, dass man sich dieser Regungen bewusst wird, um zu verhindern,
dass sie in Aggression ausarten. Vor allem gilt es in diesem Zusammenhang
darauf hinzuweisen, dass gerade deshalb, weil dieses Verhalten eine allgemein
menschliche Befindlichkeit darstellt, auch die Flüchtlinge vor dem gleichen
Problem stehen. Auch sie begegnen Anderen, deren Aussehen und Verhalten ihnen
fremd erscheint, auch bei ihnen entstehen Ängste und Unsicherheit.
Während
jedoch die Einheimischen lediglich einer geringen Gruppe Ungleicher begegnen,
also immer noch Unterstützung bei der Mehrzahl der Volksgenossen erfahren,
steht der Flüchtling vor der Tatsache, dass fast alle in seiner Umgebung als
Fremde angesehen werden.
Deshalb
ist bei den Flüchtlingen die hierdurch ausgelöste Frustration sehr viel größer
als bei den Einheimischen und gerade deshalb sind wir gehalten, diesen Fremden
entgegen zukommen und ihnen jede mögliche Hilfe anzubieten, um diese
Frustration zu überwinden. In diesen Zusammenhängen liegt es begründet, dass in
früheren Kulturen dem Gastrecht eine so entscheidende Bedeutung zugemessen
wurde und das Gastrecht als heilig und unantastbar gehalten wurde.
Eine
der Hauptsorgen vieler Einheimischer im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsstrom
besteht in der Furcht, dass jeder Fremde, welcher hier in Deutschland einen
Arbeitsplatz erhält, einem Deutschen den Arbeitsplatz wegnimmt. Die Annahme, welche hinter diesen
Befürchtungen steht, besteht darin, dass sich Einheimische und Flüchtlinge in
eine konstant bleibende Gesamtzahl von Arbeitsplätzen teilen müssen.
In
Wirklichkeit muss nicht damit gerechnet werden, dass automatisch dann, wenn ein
Fremder einen Arbeitsplatz erhält, für die Einheimischen weniger Arbeitsplätze
zur Verfügung stehen. Es kommen nämlich mit den Flüchtlingsstrom nicht nur
Arbeitnehmer, sondern auch Konsumenten ins Land. Deshalb steigt die Nachfrage
nach Gütern, die Produktion wird ausgeweitet und induziert auf diese Weise eine
Zunahme der Arbeitsplätze.
Entspräche
das Konsumverhalten der Flüchtlinge vollkommen dem der Einheimischen und entsprächen
darüber hinaus die Arbeitsqualifikationen der Flüchtlinge genau dem – durch die
Ausweitung der Produktion verursachten – Bedarf an bestimmten Qualifikationen,
könnte sogar davon ausgegangen werden, dass nahezu kein einheimischer
Arbeitnehmer durch das Vorhandensein der Flüchtlinge seinen Arbeitsplatz
verlieren müsste.
In
Wirklichkeit sind natürlich diese beiden Annahmen niemals voll erfüllt. Das
Konsumverhalten der Zugezogenen weicht vom Verhalten der Einheimischen ab und
zwar insofern, als Migranten einen beachtlichen Teil ihres Einkommens an ihre
Verwandten senden, welche noch in den Herkunftsländern verweilen.
Dies
bedeutet, dass in diesem Falle der zusätzlichen Nachfrage nach Arbeitsplätzen
keine gleichgroße Zunahme in der Konsumnachfrage entspricht und dass deshalb
auch insoweit keine ausreichende Anzahl neuer Arbeitsplätze angeboten wird.
Diese
Nachfrage ist jedoch für den inländischen Arbeitsmarkt noch nicht endgültig
verloren. Denn die Devisen, welche auf diesem Wege in die Herkunftsländer
überwiesen werden, werden dazu benutzt, um dort Güter aus dem Ausland zu
importieren. Aus der Sicht der Zuwanderungsländer schlagen sich diese Importe
in Exporterlösen nieder, welche wiederum zusätzliche Nachfrage in den Zuwanderungsländern
auslösen und dort zu einer Ausweitung der Arbeitsplätze führen werden.
Allerdings
kann nicht damit gerechnet werden, dass alle diese Devisen auf diese Weise
jeweils in die Länder zurückfließen, aus denen sie in die Herkunftsländer der Flüchtlinge
überwiesen wurden. Dies bedeutet, dass die hierdurch erzeugte Mehrnachfrage
kleiner, aber unter Umständen auch größer sein kann, als ursprünglich Devisen
ins Ausland überwiesen wurden.
Nun
zählt die Bundesrepublik schon seit jeher zu den Ländern, die fast in allen
Jahren Leistungsbilanzüberschüsse erzielt haben und dies ist gleichbedeutend
damit, dass vermutlich die Exportnachfrage stärker steigt als zunächst Devisen
ins Ausland überwiesen wurden. Die Gefahr, dass die Flüchtlinge den Einheimischen
aufgrund dieses Zusammenhanges Arbeitsplätze wegnehmen, ist also nicht sehr
groß.
Anderes
gilt für die Tatsache, dass unter Umständen die von den Flüchtlingen angebotene
Arbeitsqualifikation nicht mit den Arbeitsqualifikationen übereinstimmt, welche
im Zuge der Produktionsausweitung von den Unternehmungen zusätzlich nachgefragt
werden. Im Allgemeinen dürften die Flüchtlinge eher eine geringe
Arbeitsqualität aufweisen, sodass sie vor allem die Arbeitsplätze im Niederlohnsektor
nachfragen werden und auf diese Weise somit sicherlich in Konkurrenz zu einem
Teil der einheimischen Arbeitnehmern geraten.
Die
Gefahr, dass auch im gehobenen Facharbeitskreis Arbeitsplätze an Einheimische
wegfallen, ist demgegenüber nicht nur deshalb gering, weil nur wenige Flüchtlinge
diese gehobenen Qualifikationen mitbringen werden, sondern auch deshalb, weil
im Augenblick ohnehin nicht alle Arbeitsplätze dieser Kategorie besetzt werden
können und gerade deshalb auch schon vor Einsetzen dieses Flüchtlingsstromes
fremdländische Arbeitnehmer angeworben wurden.
Im
Zusammenhang mit der Beurteilung dieser so entstehenden Arbeitslosigkeit sollte
allerdings auch berücksichtigt werden, dass diese Gefahren ganz allgemein in
jeder Marktwirtschaft zu erwarten sind. Im Grunde genommen führt jede
Datenänderung zu einer Veränderung in den Knappheitsrelationen und im Zuge
dieser Anpassungen entstehen auf der einen Seite neue Arbeitsplätze, auf der anderen
Seite werden jedoch auch Arbeitsplätze vernichtet.
Also
muss in einer Marktwirtschaft eigentlich jeder Arbeitnehmer damit rechnen, dass
im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung immer wieder Arbeitsplätze vernichtet
werden und dass die Arbeitnehmer in diesem Falle entweder neue Arbeitsplätze
mit gleicher Qualifikation in anderen Wohngegenden suchen müssen oder aber
durch Umschulung oder Weiterbildung sich für andersartige Arbeitsplätze
qualifizieren müssen.
Dies
mag als bedauerlich erscheinen, es ist aber der Preis dafür, dass in einer
freien Marktwirtschaft die Konsumenten das Recht haben, selbst zu bestimmen,
für den Ankauf welcher Konsumgüter sie sich entscheiden und diese Entscheidung
auch jederzeit korrigieren können, dass weiterhin auch die Arbeitnehmer ihren
Beruf und Arbeitsplatz im Rahmen der Angebote selbst bestimmen können und dass
schließlich die Unternehmer jederzeit das Recht haben, neue produktivitätssteigernde
Techniken einzuführen, welche bisweilen auch zu einer Vernichtung bestehender
Arbeitsplätze führen. Insoweit also sind die mit dem Flüchtlingsstrom
verbundenen Gefahren auch nicht andere als diejenigen, welche in
marktwirtschaftlichen Systemen immer
wieder entstehen.
Da
die Flüchtlinge zur Zeit bis zur Anerkennung als Asylberechtigte auch keine
Arbeitserlaubnis erhalten, steigt die Anzahl der Arbeitsplätze, welche den Einheimischen
zur Verfügung stehen, zunächst vorübergehend sogar an. Auch dann, wenn die
Flüchtlinge noch nicht arbeiten dürfen, treten sie ja als Konsumenten auf,
deshalb steigt die Produktion und mit der Produktion auch die Nachfrage nach
Arbeitnehmern. Schon allein der Vorgang der Registrierung sowie die Notwendigkeit
der Ausbildung der Flüchtlinge führt dazu, dass der Staat weitere Arbeitskräfte
einstellen muss.
Allerdings
trägt dieser Umstand dazu bei, dass die Wohlfahrt pro Kopf zurückgeht, da ja
die Flüchtlinge ernährt werden müssen, obwohl sie gar nicht berechtigt sind,
zur Produktion dieser Güter beizutragen. Geht jedoch das reale
Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung zurück, so verringern sich auch die Steuereinnahmen
zumindest solange, als die Steuersätze nicht erhöht werden und dies bedeutet
wiederum, dass dem Staat weniger Mittel zur Unterbringung der Flüchtlinge zur
Verfügung stehen. Also erschwert dieses anfängliche Arbeitsverbot die Lösung
des Flüchtlingsproblems.
Die
eigentlichen wirtschaftlichen Gefahren, welche aufgrund des Flüchtlingsstrom
entstehen können, liegen auf dem Wohnungsmarkt. Besonders auf dem Markt für
Wohnungen mit relativ niedrigen Mieten, herrscht zur Zeit ein enormer
Nachfrageüberschuss. Da gerade auch die Flüchtlinge Wohnungen dieses
Marktsektors benötigen, ist dort mit einer spürbaren Zunahme dieser Knappheitssituation
zu rechnen.
Dies
bedeutet, dass einheimische Bewohner, welche auf diese Wohnungen angewiesen
sind, auf jeden Fall noch größere Schwierigkeiten als bisher bei der
Wohnungssuche bekommen werden. Zwar stehen in
der gesamten Bundesrepublik genügend Wohnungen leer, um den Flüchtlingen
eigentlich Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Diese Wohnungen liegen jedoch
vorwiegend in den Gegenden Ostdeutschlands, welche im Zuge des
Wiedervereinigungsprozesses durch Wanderungen nach Westen und in die Großstädte
entleert wurden.
Da
jedoch aus den gleichen Gründen in diesen Gemeinden auch keine größeren
Unternehmungen angesiedelt sind – es mangelt hier ja an jüngeren, qualifizierten
Arbeitskräften, welche weggezogen sind –, bringen diese leeren Wohnungen auch
keine Entlastung.
Dieser
enorme, bereits heute bestehende Nachfrageüberhang auf den Wohnungsmärkten
wurde neben anderen Gründen vor allem dadurch verursacht, dass der Staat aus
sozialen Gründen Begrenzungen für die Miethöhe einführte. Normalerweise wird auf freien Märkten ein
Nachfrageüberhang durch Preissteigerungen abgebaut. Steigt der Preis aufgrund
eines Überhanges der Nachfrage, steigt auf der einen Seite das Angebot, auf der
anderen Seite sinkt die Nachfrage. Beide Reaktionen bewirken einen Abbau des
Nachfrageüberhanges.
Werden
Preissteigerungen (Mietsteigerungen) verhindert, finden diese Gleichgewichtsprozesse
nicht statt, die Knappheit an Wohnraum wird verewigt. Steigt nun die Nachfrage
nach Wohnraum aufgrund des Flüchtlingsstromes zusätzlich, wird die Knappheit
noch verstärkt und dies bedeutet, dass die Wohnungssuchenden noch länger warten
müssen, bis sie eine geeignete Wohnung finden. Da für die Flüchtlinge vor allem
die weniger luxuriösen Wohnungen nachgefragt werden, trifft diese
Verschlechterung insbesondere die Einheimischen, welche sich nur Wohnungen mit
geringem Komfort leisten können.
Hätte
der Staat auf anderem Wege vermehrt den Versuch unternommen, die sozialen
Härten des Wohnungsmarktes zu mildern und hätte er deshalb Mietsteigerungen
insoweit zugelassen, als sie einem Abbau des Nachfrageüberhanges gelten und
also keinen Mietwucher darstellen, könnte der Bedarf an Wohnungen besser
befriedigt werden.
Die
unteren Einkommensschichten würden zwar trotzdem aufgrund der Zuwanderung von
Flüchtlingen beeinträchtigt, und zwar dadurch, dass für den gleichen Wohnraum
nun höhere Mieten gezahlt werden müssten. Allerdings lassen sich diese
Beeinträchtigungen dann vermeiden oder zumindest mildern, wenn der Staat
Empfänger niedriger Einkommen in ausreichendem Maße Subventionen zum Ausgleich
der Mietsteigerungen gewährt. Auch könnte der Staat vermehrt finanzielle
Anreize gewähren, um die Bauunternehmer zu einem vermehrten Angebot zu
veranlassen.
Neben
den Mietbegrenzungen hat in den letzten Jahren auch die Niedrigzinspolitik der
Notenbanken für einen Anstieg der Mietpreissteigerungen beigetragen. Da aufgrund
der geringen Leitzinsen der Notenbanken die Rendite bei den normalen
Kapitalanlagen stark gesunken ist, wird immer mehr Kapital in Immobilien
angelegt.
Hierdurch
steigen zunächst die Grundstückpreise, diese Preissteigerungen werden jedoch
von den Grundstücksbesitzern auf die Miete weitergewälzt. Zwar beziehen sich
diese Mietsteigerungen zunächst vorwiegend auf Immobilien im höheren
Mietbereich. Da aber die Nachfragenden nach qualifizierteren Wohnungen aufgrund
dieser Preissteigerungen auf Wohnobjekte mit einem etwas geringeren Komfort
ausweichen, pflanzen sich diese Mietsteigerungen letztlich auf alle Wohnobjekte
fort.
Oftmals
wird weiterhin die Meinung vertreten, die Flüchtlinge seien generell kriminell,
sie seien Diebe und überfielen friedliche Bürger. Demgegenüber muss darauf
hingewiesen werden, dass in jeder größeren Menschengruppe immer ein kleiner
Prozentsatz die Gesetze übertritt. Dies gilt gleichermaßen für Deutsche wie für
Flüchtlinge.
Weiterhin
gilt es zu bedenken, dass – wiederum in jeder größeren Menschengruppe – die
Anzahl der Straftaten in dem Maße ansteigt, wie den Gruppenmitglieder das
Existenzminimum verwehrt wird und die einzelnen den Versuch unternehmen, das
für das Leben Notwendigste notfalls mit Gewalt zu besorgen. Auch diese Feststellung
gilt gleichermaßen für Deutsche wie auch für Flüchtlinge.
Es
ist deshalb falsch, wenn man aus der Tatsache, dass sich auch unter den
Flüchtlingen genauso wie unter den Deutschen einige Straftäter befinden, davon
spricht, dass die Flüchtlinge generell und in besonderem Maße Straftäter seien.
Der
größte Teil der augenblicklich ankommenden Flüchtlinge ist friedlich, an einer
Arbeit interessiert und auch bereit, sich zu integrieren. Dies ist jedoch keinesfalls
selbstverständlich und es kann auch nicht damit gerechnet werden, dass ein
solches Verhalten in Zukunft beibehalten wird. Je mehr nämlich den Flüchtlingen
verwehrt wird, nach Europa einzuwandern und sie deshalb um das nackte Überleben
kämpfen müssen, um so größer ist die Gefahr, dass sie sich radikalisieren und
sich aggressiven Gruppen zuwenden.
Anlässe
zu Völkerwanderungen gab es im Verlaufe der europäischen Geschichte immer
wieder. Zumeist fielen diese Völkergruppen bewaffnet in Europa ein. Um diese
Gefahr für die nahe Zukunft zu unterbinden, ist es auch aus eigenem nationalen
Interesse geboten, für die Flüchtlinge eine Lösung zu finden und dadurch zu
verhindern, dass die Flüchtlinge den Versuch unternehmen, mit Gewalt nach Europa zu gelangen. Wer um
sein nacktes Leben kämpfen muss, ist auch in aller Regel zu aggressivem
Verhalten bereit. In diesem Falle wären kriminelle Handlungen der Flüchtlinge
nicht mehr wie heute die Ausnahme. Gerade die kriminellen Handlungen und
Hassparolen der Rechtsradikalen tragen dazu bei, dass die Gefahr aggressiver Verhaltensweisen
unter den Flüchtlingen ansteigt.
Oftmals
begegnet man in der Öffentlichkeit der Meinung, dass Christen nur gegenüber
anderen Christen und gegenüber Angehörigen des eigenen Volkes zur Nächstenliebe
verpflichtet seien und dass sie deshalb gegenüber den Flüchtlingen, welche
mehrheitlich dem Islam angehören, auch nicht zur Hilfe aufgerufen seien.
Der
Botschaft, welche Jesus selbst gelehrt hatte, entspricht diese Auffassung sicherlich
nicht. Von einem Pharisäer gefragt, welches denn das wichtigste Gebot sei,
antwortete Jesus, man solle Gott von ganzem Herzen sowie den Nächsten lieben,
das zweite Gebot sei dem ersten gleich. Nächstenliebe ist also keine Bagatelle,
sondern gehört neben der Liebe zu Gott zu den wichtigsten Geboten eines
Christen.
Wie
diese Gleichheit beider Gebote zu verstehen ist, zeigte Jesus auf, als er über
das Weltgericht sprach. Dort verdammte Gott die Menschen auf der linken Seite
(die Sünder), da diese ihn nicht gespeist haben als er hungrig war und auch
nicht gekleidet haben als er nackt war. Auf die Frage dieser Menschen, wann
denn Gott hungrig und nackt gewesen sei, antwortete Gott: immer dann, wenn ein
Mensch hungrig und nackt war, aber nicht von den Anderen gespeist und bekleidet
wurde. Deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, dass das wahre Opfer,
das wir Menschen Gott darbringen sollen, in der Nächstenliebe gegenüber den
Notleidenden besteht.
Auf
die Frage des Pharisäers, wer denn der Nächste sei, dem man helfen solle,
erzählte Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Danach wurde ein
Reisender überfallen und blieb stark verletzt liegen. Ein Priester und danach
ein Levite kamen vorbei und dachten nicht daran, dem Überfallenen zu helfen.
Erst ein Samariter brachte dem Überfallenen Hilfe. Samaria gehörte zwar ursprünglich
zum Nordreich Israels. Als jedoch die Assyrer die Juden des Nordreiches in die
Gefangenschaft führten, siedelten sie gleichzeitig heidnische Stämme in Samaria
an.
Der
Samariter, der Bewohner Samarias, war also zur Zeit Jesu ein Heide, der
trotzdem dem überfallenen Juden Hilfe leistete. Der Nächste ist also in diesem
Gleichnis nicht etwa ein Angehöriger aus Juda, sondern jeder, der dem Notleidenden
begegnet, gleichgültig, welchem Volksstamm er angehört oder welcher Religion er
folgt. Das Gebot der christlichen Nächstenliebe gilt also in gleicher Weise
gegenüber Christen wie gegenüber Moslems oder Angehörigen anderer Religionen
oder Weltanschauungen. Jeder Mensch ist von Gott erschaffen und insofern
deshalb gleich.
Das
Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zeigt auch, welche Hilfe erwartet wird und
in welchem Umfang wir Christen zur Nächstenliebe aufgefordert sind. Der
Samariter ging zu dem Überfallenen hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und
verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge
und sorgte für ihn. Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem
Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es
dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Dieses
Gleichnis macht deutlich, dass Nächstenliebe keinesfalls eine Bagatelle ist und
nur darin besteht, aus dem Überfluss nur so wenig zu geben, dass für den
Spender keine spürbare Beeinträchtigung zu spüren ist, es wird vielmehr verlangt,
alles mögliche zu tun, um dem Notleidenden so zu helfen, dass dieser nach
Möglichkeit aus seiner Not auch errettet wird.
2. Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten
a. Die europäische Werteordnung
Bevor
wir den Versuch wagen, die Frage zu klären, wie denn eine Lösung der oben
aufgezeigten Probleme gefunden und für die Zukunft eine stabilere Ordnung der
Europäischen Gemeinschaft erreicht werden kann, wollen wir zunächst klären,
welche Merkmale und Maximen die Europäische Gemeinschaft kennzeichnet oder
zumindest kennzeichnen sollte.
Als
erstes lässt sich Europa als eine ganz bestimmte, historisch gewachsene Werteordnung
verstehen. Unsere modernen Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass der
gesellschaftliche Zusammenhalt nur durch sehr komplexe Einrichtungen erreicht
werden kann, sodass die Führung dieser Systeme ein großes Wissen und ganz
bestimmte Fähigkeiten verlangt.
Der
für das Mittelalter geprägte Satz: ‚Wem Gott ein Amt gegeben hat, dem hat er
auch den hierzu benötigten Verstand gegeben‘ und die hieraus gefolgerte Vorstellung,
dass Menschenverstand und guter Wille zur Leitung des Gemeinwesens ausreichen,
gilt somit für die modernen Systeme nicht mehr. Arnold Gehlen hat in diesem
Zusammenhang zwischen primären und sekundären Institutionen unterschieden,
wobei die primären Gemeinschaften nach wie vor in der Familie sowie in
Freundschaften gefunden werden und nach wie vor nur gesunden Menschenverstand
und guten Willen voraussetzen.
Für
die heutigen, übergeordneten Gesellschaftsformen gilt jedoch die Feststellung,
dass sie in hohem Maße komplex sind, aus einer Vielfalt von Institutionen und
deren Verflechtung bestehen und eben gerade aus diesen Gründen mehr als
gesunden Menschenverstand und die Bereitschaft zur Einhaltung der Grundwerte
benötigen.
Zur
Verdeutlichung wollen wir unterstellen, wir befänden uns in einem modernen
Düsenflugzeug und einer der Passagiere habe einen Herzinfarkt erlitten. Was
wird die Stewardess tun, dass diesem Menschen bestmöglich geholfen wird? Sie
wird fragen, ob sich unter den Fluggästen ein Arzt befindet. Sie wird sicherlich
nicht die Frage stellen, wer von den Fluggästen der größte Menschenfreund ist
und deshalb zur Hilfe am meisten bereit ist. Es ist für jeden einsichtig, dass
mit bloßem gesunden Menschenverstand und gutem Willen allein dem an einem
Herzinfarkt erkrankten Passagier nicht geholfen ist, dass eine wirksame Hilfe
nur von einer Person geleistet werden kann, die über Sachwissen verfügt.
Oder
unterstellen wir als zweites Beispiel, dass in dem gleichen Flugzeug der Pilot
sowie der Copilot ausgefallen seien, da – so wollen wir unterstellen – beide
ohne ihr Wissen eine vergiftete Mahlzeit zu sich genommen hatten. Wiederum wird
die Stewardess nicht danach fragen, welcher der Passagiere den ehrlichsten und
stärksten Willen habe, das Flugzeug sicher zur Landung zu bringen und deshalb
die Steuerung des Flugzeuges übernehmen könne, sie wird vielmehr auch hier die
Frage stellen, ob einer der Fluggäste einen Pilotenschein zur Führung von
modernen Düsenflugzeugen besitze. Auch hier gilt es als selbstverständlich,
dass Sachwissen für eine geeignete Lösung unbedingt erforderlich ist. Gleiches
gilt aber auch für die Führung der modernen Gesellschaftssysteme.
Auf
der anderen Seite zeichnen sich die modernen Gesellschaftssysteme durch eine
strikte Arbeitsteilung auf. Wir können zwischen drei großen Gesellschaftssystemen
unterscheiden, dem kulturellen, dem politischen und dem wirtschaftlichen
Subsystem. Den kulturellen Systemen ist die Aufgabe übertragen, die Grundwerte
einer Gesellschaft zu wahren, sie auf die permanent eintretenden Veränderungen
so anzupassen, dass der Grundgedanke der Maximen erhalten bleibt, dass sie nur
eben an die von außen eintretenden Datenänderungen bestmöglich angepasst
werden. Und diese Wert können nur dadurch bewahrt werden, dass im Rahmen der
Erziehung vor allem der Kinder und Jugendlichen eine Verinnerlichung dieser
Werte erfolgt.
Aufgabe
der politischen Systeme ist hingegen, durch Setzung positiver wie negativer
Anreize sicherzustellen, dass entsprechend dieser Grundwerte gehandelt wird.
Die politischen Systeme, vor allem der Staat hat die Aufgabe, zur Wahrung
dieser Werte Gesetze und Verordnungen zu erlassen und zu überwachen, dass die
Bürger eines Landes diese Gesetze einhalten und gegebenenfalls bestraft werden,
wenn sie diese Gesetze übertreten. Positive Anreize können diese Ordnung
stabilisieren, in dem derjenige, welcher diese Werte fördert, durch Prämien und
Orden belohnt wird.
Das
wirtschaftliche Subsystem schließlich hat die alleinige Aufgabe, die Knappheit
materieller Güter zu bewältigen. Zur Realisierung der menschlichen Ziele
einschließlich seiner Bedürfnisse bedarf es materieller Ressourcen. Diese Ressourcen
sind in aller Regel nicht in dem Umfang vorhanden, dass alle diese Ziele und
Bedürfnisse voll befriedigt werden können. Wenn nicht alle Bedürfnisse in
ausreichendem Maße befriedigt werden können, bedarf es zunächst einer Rangordnung
dieser Ziele, damit die weniger wichtigen Bedürfnisse hintangestellt werden
können.
Hierbei
sagt der Umfang an materiellen Ressourcen, der für die einzelnen Ziele und
Bedürfnisse benötigt wird, nichts über den Wert dieser Ziele aus. Es ist nicht
so, dass ein Ziel allein deshalb minderwertig wird, weil für seine Realisierung
besonders viele materiellen Ressourcen benötigt werden. Es gibt auf der einen
Seite moralisch sehr hochwertige Ziele wie z. B. eine Spendensammlung für in
Not geratene Menschen, zu deren Realisierung ein großer Umfang an materiellen
Gütern benötigt wird, während es auf der anderen Seite ausgesprochen moralisch
verwerfliche Bedürfnisse wie z. B. das Mobbing gibt, zu dessen Befriedigung
überhaupt keine knappen Güter benötigt werden.
Auch
die Rangordnung der Ziele als solche erwächst keineswegs aus dem wirtschaftlichen
Subsystem, sondern ist das Ergebnis der kulturellen Systeme und ergibt sich aus
der Festlegung der zu verfolgenden Werte. Wohl aber können wir feststellen,
dass die einzelnen Ziele mit sehr unterschiedlichen materiellen Ressourcen
realisiert werden können und dass ein- und dieselbe Ressource für
unterschiedliche Ziele eingesetzt werden kann. Der Umfang an Zielrealisierung
hängt nun entscheidend davon ab, welche dieser möglichen Techniken ergriffen
wird und es ist die einzige und zentrale Aufgabe eben des wirtschaftlichen Subsystems,
Anreize zu setzen, um eben diese optimalen Produktionstechniken zu eruieren und
soweit wie möglich herbeizuführen.
Das
sogenannte wirtschaftliche Prinzip, das jede wirtschaftliche Tätigkeit steuern soll,
legt nun fest, für ein vorgegebenes Ziel den geringstmöglichen Aufwand zu
ermitteln und einzusetzen oder was das gleiche nur von einer anderen Seite aus
beleuchtet, aus einem vorgegebenen und knappen Vorrat an materiellen Ressourcen
ein Maximum an Zielbefriedigung zu erreichen.
Diese
drei gesellschaftlichen Subsysteme (das kulturelle, das politische sowie das
wirtschaftliche System) sind nun eng miteinander verbunden, das wirtschaftliche
System kann nur funktionieren, wenn das politische System die richtigen Anreize
setzt und welche Anreize notwendig sind, wird letzten Endes aufgrund der kulturellen
Systeme festgelegt. Auch muss damit gerechnet werden, dass ein Versagen des
einen Systems sehr oft auch unvollkommene Realisierungen in den jeweils anderen
Subsystemen hervorruft.
Wenn
z. B. das kulturelle System in dem Bemühen versagt, die Erhaltung der Werte wie
Gerechtigkeit und Menschenwürde für den größten Teil der Bürger eines Landes
anzuerziehen, werden die Bürger auch in Ausübung ihrer wirtschaftlichen
Aktivitäten amoralisch handeln und z. B. durch Unwahrheit, Raub und
Übervorteilung den Mitmenschen schaden. Es kommt dann zu einer gesellschaftlichen
Erscheinungsform, welche Götz Briefs die Grenzmoral der wirtschaftlichen
Handelnden genannt hat, wonach das moralische Niveau der wirtschaftenden
Personen nicht etwa von den moralischen Standards der moralisch gesehen jeweils
besten Menschen, noch nicht einmal vom moralischen Niveau des Durchschnitts der
Bürger, sondern von denjenigen Marktteilnehmern bestimmt wird, die das
moralisch schlechteste Verhalten aufweisen.
Diese
Erscheinungsform der Grenzmoral ist aber keinesfalls eine Form, welche sich aus
dem wirtschaftlichen, schon gar nicht aus dem marktwirtschaftlichen System
automatisch und zwingend ergibt, sondern eine Form, welche erst durch ein
Versagen der kulturellen Systeme entsteht. Würde es den kulturellen Systemen
gelingen, dass der überaus größte Teil der Bürger die sittlichen Normen
einhält, wäre auch das wirtschaftliche Verhalten moralisch einwandfrei.
Welches
sind nun die Werte, welche die Europäische Gemeinschaft prägen? Bei der
Beantwortung dieser Frage muss als erstes festgestellt werden, dass die
europäische Werteordnung aus einer langwierigen geschichtlichen Entwicklung des
Abendlandes hervorgegangen ist.
Am
Anfang steht die Entscheidung des römischen Kaisers Konstantin, welcher sich
seit der Schlacht an der Milvischen Brücke offen zum Gott der Christen bekannte
und die christliche Religion als gleichberechtigt mit der römischen antiken Religion
anerkannte. In seinem Bemühen um die kirchliche Einheit berief er 325 zur
Schlichtung des arianischen Streites das Konzil von Nicäa ein, dessen
Entscheidungen er wesentlich mitbestimmte.
Vor
allem durch Karl den Großen wurde das neu entstehende deutsche Reich römischer
Nation zu einem christlichen Staat, es wurde nur eine Religion als
Staatsreligion anerkannt, die Heiden wurden zum Glauben gezwungen, der Papst
wurde als Nachfolger Christi und als oberstes religiöses Oberhaupt angesehen
und die christlichen Werte, welche auf dem Dekalog und insbesondere auf dem
Gebot der gegenseitigen Nächstenliebe fußten, wurden als oberste Maximen
anerkannt und durchdrangen Sitten und Gebräuche in fast allen Lebenslagen.
Dies
bedeutete nicht, dass sich auch die Machthaber in Politik und Religion an die
Lehren Jesu gehalten haben. Im Mittelpunkt der christlichen Lehre stand die
Überzeugung, dass der Mensch ein freies Wesen ist, dass Gott will, dass sich
die Menschen frei zu dem wahren Glauben bekennen und seinen Geboten entsprechend
handeln. Dass Karl der Große die Sachsen mit Waffengewalt zum Christentum
bekehrte und jeden töten ließ, der hierzu nicht bereit war, war das Gegenteil
von dem, was Jesus gelehrt hatte, auch die Machtbesessenheit der politischen
Führer und die Ausbeutung der Untergebenen stand in klaren Kontrast zu der
Aufforderung Jesu:
„Da
rief Jesus sie (die Jünger) zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die Herrscher
ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen
missbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein
will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer
Sklave sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu
lassen, sondern um zu dienen..“ (Mt 20,25-28).
Obwohl
sich die europäischen Staaten als christliche Staaten verstanden, galt das
vordringliche Bestreben der europäischen Machthaber der Machterhaltung und
Machterweiterung.
Eine
erste Wende brachte dann die Kritik Martin Luthers am Ablasshandel der Kirche,
eine Kritik, die dann schließlich zur Abspaltung der Protestanten gegenüber der
katholischen Kirche führte. Anstatt dass sich aber die beiden Kirchen auf die
eigentlichen christlichen Lehren besannen, bekriegten sich nun die protestantischen
und katholischen Staaten im dreißigjährigen Krieg.
Die
Aufklärung, welche Ende des 17. Jahrhunderts in England begann und sich im 18.
Jahrhundert auf ganz Europa und Nordamerika ausbreitete, brachte eine
intellektuelle Ablösung von der geistigen Vorherrschaft der Kirche. Sie war in
ihrem ersten Schritt durchaus religiös, behielt den Glauben an Christus und an
einen Gott durchaus bei, ging allerdings im Deismus von der Überzeugung aus,
dass Gott, der in grauen Urzeiten die Welt erschaffen hatte, sich zurückgezogen
und die Erde den Menschen überlassen hatte. Später dann gab ein großer Teil der
Aufklärer die religiöse Basis auf und vermeinte, als Atheisten auf jede Art von
religiösem Bezug verzichten zu können.
Ihren
Höhepunkt erreichte diese Strömung dann in der französischen Revolution, deren
Ideale in dem Wahlspruch: Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit gipfelte
und die zunächst in Frankreich, später in ganz Europa zu dem Zusammenbruch der
mittelalterlichen Gesellschaft führte.
In
der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg verdichtete sich die Haltung zur Religion
vor allem in der Betonung auf Glaubensfreiheit eines jeden Bürgers. In
positivem Sinne bedeutet Glaubensfreiheit, dass jeder einzelne Bürger das unantastbare
Recht besitzt, seinen Glauben selbst zu bestimmen, dass niemand, vor allem auch
nicht der Staat das Recht besäße, dem Einzelnen vorzuschreiben, was er glauben
sollte. Im Grunde hatte schon sehr früh diese Haltung mit Friedrich dem Großen
im preußischen Staat begonnen, als Friedrich bestimmte, dass in seinem Staat
jeder nach seiner Facon leben durfte. Zu der damaligen Zeit jedoch galt eher
der Grundsatz, dass die Bürger eines Staates die Religion des jeweiligen
Herrschers zu übernehmen haben.
Negativ
formuliert bedeutet aber Religionsfreiheit auch, dass sich die einzelnen
Religionen tolerieren und Toleranz zeigen, sie dürfen sehr wohl überzeugt sein,
der wahren Religion zu huldigen, müssen jedoch akzeptieren, dass die Richtigkeit
des Glaubens niemals wissenschaftlich eindeutig geklärt werden kann und dass
deshalb auch kein Andersgläubiger wegen seiner Religion verfolgt werden darf.
Dieser Anspruch besteht auch für die Atheisten, welche anerkennen müssen, dass
auch ihre Überzeugung letztendlich nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden
kann.
Im
Grunde genommen wurde dieser Gedanke bereits von Lessing in der Ringparabel des
Nathan des Weisen formuliert, wonach die drei monotheistischen Religionen
(Judentum, Christentum und Islam) den drei Ringen entsprachen und keiner der
Söhne mit absoluter Sicherheit sagen konnte, welcher der Ringe der einzig
richtige sei.
Negativ
betrachtet findet die Religionsfreiheit seine Begrenzung somit darin, dass die
allgemeinen Werte der europäischen Staaten, vor allem die Freiheitsrechte der
Einzelnen einzuhalten sind, dass also keine Religion das Recht hat, diese
Grundwerte – auch nicht für ihre Gläubigen – einzuschränken. Es folgt daraus
auch, dass jede Religion es zu vermeiden hat, Hass gegenüber Andersgläubigen zu
verbreiten.
Aber
auch dann, wenn die europäischen Staaten seit der Aufklärung im Grundsatz
laizistisch sind und auf der Trennung von Staat und Kirche basieren, hat nach
wie vor ein Großteil der Sitten und Gebräuche einen christlichen Ursprung. Und
in diesem Sinne sind die abendländischen Werte trotz des laizistischen Charakters
der Staaten nach wie vor christlich geprägt und eine Verneinung dieser Werte
würde deshalb vor allem in der älteren Bevölkerung, welche nicht in der Lage
ist, sich immer wieder an neue Kulturwerte
anzupassen, Unsicherheit auslösen.
Im
Zusammenhang mit der Lösung der Flüchtlingskrise wird oftmals auch die
Verwirklichung eines Multikulturellen Systems propagiert. Man solle eben anerkennen,
dass nun auf europäischen und auch deutschen Boden Menschen leben, die einem
nichtchristlichen Kultursystem entstammen und dies sei sogar ein Gewinn, weil
auf dieser Weise unterschiedliche Wertvorstellungen um die beste Lösung
miteinander ringen könnten.
Ich
halte diese Begründung für nicht überzeugend. Im Grunde ist schon der Begriff
des Multikulturellen Systems widersprüchlich, zumindest, wenn man diesen
Begriff auf das innerhalb Europas und der Bundesrepublik geltende Kultursystem
bezieht.
Wir
haben oben gesehen, dass eine der Grundwerte unseres europäischen Kultursystems
die Religionsfreiheit ist. Es ist jedem Bürger Europas freigestellt, wie er es
mit seiner religiösen Überzeugung hält. Er kann den christlichen, den jüdischen
oder islamischen Glauben annehmen oder auch als Atheist jede religiöse Bindung
ablehnen. Aus dieser Tatsache ergibt sich unweigerlich, dass auch auf
europäischem Boden unterschiedliche Glaubensgemeinschaften nebeneinander
bestehen. Die Existenz mehrerer Religionsgemeinschaften in Deutschland oder
Europa ist somit auch nicht bereits ein Nachweis, dass in Europa verschiedene
Kultursysteme nebeneinander bestehen, es ist vielmehr die Eigenart eben des geschichtlich
gewachsenen, abendländischen Kultursystems, dass mehrere Religionen
nebeneinander bestehen dürfen und deshalb auch bestehen.
Ein
Kultursystem besteht aber in aller Regel auch nicht nur aus einem einzigen
Grundwert. Neben der Garantie der Religionsfreiheit enthalten die europäischen
Verfassungen unter anderem auch ein striktes Diskriminierungsverbot, die
Gleichheit vor dem Gesetz sowie die Wahrung der Menschenwürde.
Gerade
weil also unser Kultursystem nicht nur einen einzigen, sondern mehrere
Grundwerte postuliert, muss auch damit gerechnet werden, dass in konkreten
Einzelfällen diese Werte selbst in einem Konflikt zueinanderstehen und gerade
deshalb ist es existenzieller Bestandteil jedes Kultursystems, eine Regel zu bestimmen,
wie entschieden werden muss, wenn mehrere Grundwerte dieses Kultursystems in
Widerspruch zueinander geraten, also sich nicht gleichzeitig verwirklichen
lassen. Diese Regel muss eindeutig sein,
vor allem darf es keine Vielzahl sich widersprechender Regeln geben, die von
einzelnen Bürgern oder Religionsgemeinschaften unterschiedlich befolgt werden.
So
legt z. B. das Grundgesetz der BRD fest, dass die Wahrung der Menschenwürde
unantastbar ist, will heißen, dass im Falle eines Konfliktes (Verletzung der
Menschenwürde und Verletzung anderer geschützter Grundwerte) im Ernstfall der
Wahrung der Menschenwürde der Vorrang gebührt. In diesem Sinne würde ein multikulturelles
Land verschiedene, sich widersprechende Parallelgesellschaften umfassen, was
sicherlich nicht als erwünschenswert angesehen wird.
Fortsetzung folgt!