Gliederung:
1. Einführung in die Problematik
2. Grundbegriffe einer Theorie des Arbeitskampfes
3. Streikausbruch, ein Rechenfehler ?
4. Lohnerwartungen und Streikausbruch
5. Streikausbruch und Mobilität
6. Die Bedeutung der Streikordnung
7. Innerorganisatorische Konflikte und Streikausbruch
1. Einführung in die Problematik
Eine Theorie des Arbeitskampfes geht der Frage nach, von welchen Bestimmungsgründen es abhängt, ob ein Arbeitskampf ausbricht und wie er im Einzelnen verläuft. Zu den wichtigsten Arbeitskampfmitteln zählt für die Arbeitnehmer der Streik, für die Arbeitgeber die Aussperrung. Unter einem Streik versteht man hierbei die zeitweise kollektive Arbeitsniederlegung, unter Aussperrung eine zeitweise, kollektive Außerkraftsetzung des Arbeitsvertrages von Seiten der Arbeitgeber; in beiden Fällen wird der Arbeitsvertrag als solcher nicht gekündigt, lediglich die Rechte und Pflichten aus diesem Vertrag ruhen während der Dauer des Arbeitskampfes.
Es gibt verschiedene Formen dieser Arbeitskampfmittel. Man kann erstens Streiks danach unterscheiden, gegen wen sie sich richten und welche Ziele verfolgt werden: Während sich normalerweise Streiks gegen die Arbeitgeber richten und das Ziel verfolgen, den Lohnsatz anzuheben bzw. die Arbeitsbedingungen zu verbessern, versuchen die Gewerkschaften bei einem politischen Streik die Regierungen und Parlamente zu beeinflussen, um auf diese Weise allgemeinpolitische Ziele durchzusetzen.
Wenn man zweitens nach der Rechtmäßigkeit eines Streiks fragt, unterscheidet man zwischen legitimen und ‚wilden’ Streiks. Ein legitimer Streik wird von der Gewerkschaftsführung unter Beachtung der Gewerkschaftssatzungen ausgerufen, wilde Streiks werden unmittelbar von Arbeitnehmern ohne Beachtung der in den Satzungen festgelegten Bestimmungen begonnen. Wilde Streiks sind illegitim, da Streikaktivitäten entsprechend dem Grundgesetz nur den Gewerkschaften erlaubt sind.
Schließlich kann man auch nach der Dauer des Streiks unterscheiden. Sogenannte Warnstreiks beschränken sich in der Regel auf wenige Stunden oder Tage, sie gelten normaler Weise nicht als eigentlicher Streik, sodass für sie auch nicht die allgemeinen Regeln wie z. B. Friedenspflicht und vorherige Urabstimmung eingehalten werden müssen.
Bei den Aussperrungen wird vor allem zwischen einer aggressiven und einer defensiven Aussperrung unterschieden. Während eine defensive Aussperrung (Abwehraussperrung) lediglich als Reaktion auf einen Streik ausgesprochen wird, ergreifen die Arbeitgeber bei einer aggressiven Aussperrung die Initiative und sperren ohne vorhergehenden Streikaufruf die Arbeitnehmer aus.
Empirisch lassen sich große Unterschiede in Art und Umfang der Arbeitskämpfe unterscheiden. Als erstes lässt sich feststellen, dass in früheren Zeiten vor allem in den Gründerjahren der Gewerkschaften sehr viel häufiger und auch länger gestreikt wurde als in jüngeren Jahren; allerdings lässt sich auch keine kontinuierliche Reduzierung im Streikumfang in der geschichtlichen Abfolge feststellen; es gab immer wiederum Phasen, in denen der Streikumfang anstieg.
Als zweites lässt sich feststellen, dass Streikhäufigkeit und -umfang in einzelnen Ländern unterschiedlich hoch ausfallen. Es gibt Länder wie z. B. Italien, Frankreich und Großbritannien, in denen vor allem in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg sehr häufig gestreikt wurde, während in anderen Ländern, wie vor allem in der Schweiz und mit wenigen Ausnahmen in Österreich gar nicht gestreikt wurde. Deutschland zählt zu den Ländern, in welchen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg relativ selten gestreikt wurde.
Unterschiede in der Streikbereitschaft finden sich drittens in den einzelnen Wirtschaftszweigen und Berufsgruppen. Streiks fanden in der Vergangenheit vorwiegend im Bergbau, in der Metallindustrie, sowie im Baugewerbe statt. Es gibt allerdings in der BRD eine großen Wirtschaftsbereich, in dem nicht gestreikt werden kann: Das Grundgesetz verbietet jedem Beamten, sich an einem Streik zu beteiligen. Weiterhin bildet die Bundesrepublik für den Bergbau eine Ausnahme. Oft wird diese Ausnahme damit begründet, dass die Alliierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Bergbau und bei der Stahlproduktion die Montanmitbestimmung eingeführt hatten.
Damit ist bereits ein vierter Unterschied benannt: Unternehmungen, welche einer qualifizierten Mitbestimmung unterliegen, sind in der Regel weniger von Arbeitskämpfen betroffen als Unternehmungen ohne institutionelle Mitbestimmung. Man kann den Grund für diese geringere Bereitschaft zum Arbeitskampf darin sehen, dass in den mitbestimmten Unternehmungen bereits eine gewisse Integration der Arbeitnehmer in den Betrieb erreicht wurde, dass deshalb aufkommende Unzufriedenheit seitens der Arbeitnehmer schneller auf einer innerbetrieblichen Ebene abgebaut werden können und dass auf diese Weise die Konfliktbereitbereitschaft der Arbeitnehmer sinkt. Allerdings traten in den mitbestimmten Unternehmungen auch häufiger wilde Streiks auf.
Man kann aber diese geringere Streikhäufigkeit auch damit erklären, dass die Arbeitnehmer durch die Einrichtungen der Mitbestimmung sehr viel mehr Informationen darüber besitzen, wo die äußersten Grenzen der Bereitschaft der Unternehmer zu Lohnzugeständnissen liegen und dass deshalb die Arbeitnehmer auch in geringerem Maße zu dem Mittel des Arbeitskampfes greifen müssen, um ihre Ziele zu erreichen. Wir werden weiter unten auf diesen Zusammenhang nochmals zu sprechen kommen.
Ein fünfter Unterschied in der Streikhäufigkeit bezieht sich auf die Betriebsgröße: In Großbetrieben lassen sich Arbeitskämpfe besser organisieren als in Kleinbetrieben. Im Zusammenhang mit einem Streik ergeben sich für eine Gewerkschaft bestimmte Kosten, welche anfallen, gleichgültig ob in Groß- oder Kleinbetrieben gestreikt wird. Dies bedeutet, dass in Wirtschaftszweigen, in welchen eine Vielzahl von Kleinbetrieben mit relativ wenig Beschäftigten über das Land verstreut sind, die Streikkosten wesentlich höher ausfallen als in Wirtschaftszweigen, welche auf wenige große Betriebe konzentriert sind.
Auch die weltanschauliche Ausrichtung der Gewerkschaften trägt sechstens zu der Streikhäufigkeit bei. In besonders hohem Maße waren die kommunistischen Gewerkschaften zum Ausrufen von Streiks bereit, da hier ein Arbeitskampf nicht nur als Mittel zur Erreichung höherer Löhne oder besserer Arbeitsbedingungen angesehen wurde, sondern gleichzeitig auch als ein Mittel, um auf diese Weise die vorherrschende (kapitalistische) Wirtschaftsordnung zu schwächen und den Übergang zum Kommunismus zu beschleunigen.
Christliche Gewerkschaften hingegen sehen im Arbeitskampf eine ultima ratio: Das übergeordnete Ziel an und für sich besteht in einem friedlichen Zusammenleben zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern; nur im äußersten Notfall, wenn friedliche Einigungsversuche scheitern, wird zum Mittel des Arbeitskampfes gegriffen.
Siebtens dürfte auch der Organisationsgrad der Gewerkschaften dazu beitragen, wie häufig die Gewerkschaften zum Mittel des Streiks greifen. Ist der Organisationsgrad sehr hoch, so wissen die Arbeitgeber, dass sie dann, wenn sie es zum Arbeitskampf kommen lassen, den gewerkschaftlichen Forderungen entgegenkommen müssen; sie werden deshalb versuchen, sich nach Möglichkeit friedlich mit den Gewerkschaften zu einigen. Die starke Streikmacht der Gewerkschaften reicht aus, um die Lohnforderungen durchzusetzen, es braucht in der Regel kein Streik ausgerufen zu werden, oftmals ist noch nicht einmal eine Streikdrohung notwendig. Die Organisationsstärke als solche reicht hier aus, um die Arbeitgeber zum Nachgeben zu veranlassen.
Ist hingegen der gewerkschaftliche Organisationsgrad extrem gering, können es sich die Gewerkschaften nur sehr selten leisten, einen Streik auszurufen. Ein Streik wird nur erfolgreich sein, wenn sich der größte Teil der Belegschaft der bestreikten Betriebe am Streik beteiligt. Ist jedoch der Organisationsgrad gering, so müssen die Gewerkschaften befürchten, dass sich nicht ausreichend Arbeitnehmer bereitfinden, um sich am Arbeitskampf zu beteiligen. Nur dann, wenn die Arbeitgeber auch solche Forderungen der Gewerkschaften zurückweisen, die auch von den nicht in Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmern geteilt werden und wenn die Haltung der Arbeitgeber in der Öffentlichkeit als besonders provokativ empfunden wird, können die Gewerkschaften damit rechnen, dass sich auch bei geringem Organisationsgrad die Masse der Arbeitnehmer am Streik beteiligen wird und dass somit die Gewerkschaften einen Streik ausrufen können ohne die Gefahr des Gesichtsverlusts.
Gewerkschaften mit einem mittleren Organisationsgrad dürften die höchste Streikbereitschaft aufweisen. Sie sind noch zu klein, um ihre Ziele auch ohne Streikdrohung zu erreichen, sie sind aber groß genug, um sicherzustellen, dass ein von der Gewerkschaft ausgerufener Streik auch von der Mehrheit der Arbeitnehmer befolgt wird.
Achtens lässt sich empirisch auch eine Korrelation zwischen Streikhäufigkeit und Konjunktur feststellen. Ähnlich wie die wirtschaftliche Aktivität weist auch die Streikaktivität zyklische Schwankungen auf. Allerdings fallen die Streikzyklen nicht mit den allgemeinen Konjunkturzyklen zusammen. Sie verlaufen etwas zeitversetzt zu den allgemeinen Konjunkturzyklen. Gerade dieser Umstand (eines zeitversetzten Streikzyklus’) brachte es mit sich, dass einige Autoren von einem zyklischen, andere von einem antizyklischen Verhalten der Streikaktivität sprachen. Bei der Annahme einer zyklischen Streikaktivität geht man davon aus, dass mit der Zunahme der Produktion auch die Bereitschaft zum Streik ansteigt, allerdings mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung.
Spricht man hingegen von einem antizyklischen Streikverlauf, geht man davon aus, dass die Konfliktbereitschaft mit wachsender Produktion zurückgeht, was sich in einer Abnahme der Streikbereitschaft äußern müsste. Umgekehrt wird unterstellt, dass die verringerten Beschäftigungsmöglichkeiten im Konjunkturabschwung die Unzufriedenheit der Arbeitnehmer steigere, was wiederum einen Anstieg der Streikaktivität zur Folge habe.
2. Grundbegriffe einer Theorie des Arbeitskampfes
Ein Arbeitskampf ist ein Unterfall eines sozialen Konflikts. Wer jemand droht, stellt diesem einen Schaden in Aussicht. Er beabsichtigt mit seiner Drohung ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Drohende wünscht bestimmte Güter, die sich im Besitz des Bedrohten befinden oder er bedarf einer Dienstleistung, welche sowohl in einer positiven Handlung oder auch im Unterlassen bestimmter Tätigkeiten liegen kann. Wenn die Gewerkschaften mit Streik drohen, dann wollen sie auf diesem Wege eine Lohnerhöhung oder eine Verbesserung der sonstigen Arbeitsbedingungen erreichen oder sie wollen verhindern, dass Teile der Unternehmung ins Ausland verlagert werden und dass auf diese Weise einheimische Arbeitskräfte entlassen werden.
Eine Drohung hat somit folgende allgemeine Form: Ich wünsche von Dir ein bestimmtes Gut oder auch einen Dienst, wenn Du mir diesen Wunsch nicht erfüllst, werde ich dir einen Schaden zufügen. Bevor eine solche Drohung ausgesprochen wird, bedarf es zuvor überhaupt der Möglichkeit, diese Drohung im Ernstfall auszuführen. Zumindest muss der Bedrohte der Auffassung sein, dass der Drohende diese Drohung gegebenenfalls verwirklichen kann. Die Gewerkschaften müssen also z. B. das Recht besitzen, notfalls einen Streik auszurufen und sie müssen darüber hinaus über Streikvermögen verfügen, aus dem sie während des Streiks den streikenden Arbeitnehmern ein Streikgeld auszahlen können.
Anstrengungen zur Vermehrung dieser Streikmacht wollen wir als Mobilisierung bezeichnen. Die Gewerkschaften könnten z. B. den Versuch unternehmen, ihr Streikvermögen dadurch zu vergrößern, dass sie die Mitgliedsbeiträge erhöhen oder dass sie neue Mitglieder anwerben. Immer dann, wenn die Drohenden nicht mit genügender Streikmacht ausgerüstet sind, bedarf es einer solchen Mobilisierung.
Nicht immer bleibt es bei der Androhung eines Streikes. Reagieren die Arbeitgeber nicht in erwünschtem Maße, verweigern sie also z. B. die geforderte Lohnerhöhung, stehen die Gewerkschaften vor der Frage, ob sie die Drohung wahr machen sollen. Es kommt dann unter Umständen zum offenen Konflikt, der sich in Kampfhandlungen äußert. Zwei Möglichkeiten können hierbei unterschieden werden. Entweder sind die Machtpositionen so ungleich, dass ein Widerstand von Seiten des Bedrohten als sinnlos erscheint. In diesem Falle können wir von Unterwerfung oder Zwang sprechen. Eine solche Situation liegt z. B. vor, wenn der Staat für den Fall, dass einzelne Bürger bestimmte Gesetze nicht befolgen, Strafen androht. Der einzelne Bürger ist im Allgemeinen gegenüber der Staatsmacht ohnmächtig, es hat keinen Sinn, Widerstand zu leisten.
Eine ganz andere Situation liegt vor, wenn sich zwei annähernd gleich starke Gegner gegenüberstehen; hier wird der Bedrohte die Durchführung der Drohung nicht unwidersprochen hinnehmen, er wird sich wehren, es kommt hier zum offenen Konflikt. Im Allgemeinen können wir davon ausgehen, dass die Tarifpartner gleich starke Gegner darstellen. So verfügen die Arbeitgeber in der BRD über das Recht der Aussperrung und sie könnten die Ausrufung eines Streiks mit einer Aussperrung beantworten.
Die Drohung ist also stets in einem größeren sozialen Zusammenhang zu sehen, den wir als Konflikt umschreiben wollen. Dieser Konflikt kann sich auf drei verschiedenen Stufen entwickeln. Auf einer ersten Stufe findet die Mobilisierung statt; die Gegner rüsten sich, um einen möglichen Kampf durchstehen zu können. Wenn man will, kann man hier bereits von einer ‚versteckten’ Art der Drohung sprechen. Die Drohung wird zwar auf dieser Stufe noch nicht offen ausgesprochen, aber der Gegner versteht diese Maßnahme in der Regel als feindliche Handlung und er wird sich so verhalten, als wäre diese Drohung tatsächlich ausgesprochen worden.
Auf einer zweiten Stufe werden die Drohungen ausgesprochen, die Mobilisierung als solche hat nicht ihre Wirkung gezeigt, nun gibt man kund, dass man auch gewillt ist, diese Kampfmittel einzusetzen, falls der Gegner nicht bereit ist, auf die eigenen Forderungen einzugehen.
Hat auch diese offene Drohung keinen Erfolg, so kann eine dritte Stufe des Konflikts ausbrechen, der auf dem Arbeitsmarkt in einer Ausrufung des Streiks besteht. Die Gewerkschaften werden also z. B. eine Urabstimmung bei den Arbeitnehmern durchführen und dann, wenn sich die erforderliche Mehrheit der Abstimmenden für einen Streik ausgesprochen hat, mit dem Streik beginnen.
Im Allgemeinen wird man davon ausgehen können, dass es gar nicht der Ausführung eines Streiks bedarf, dass bei funktionierenden Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern die Androhung eines Streiks ausreicht, um die Arbeitgeber zum Einlenken zu bewegen. Dies ist deshalb der Fall, weil ein offener Arbeitskampf sowohl den Arbeitgebern als auch den Arbeitnehmern Schaden verursacht. Die Unternehmer müssen während eines Streiks die Produktion einschränken, den zumeist gleichbleibenden Kosten entsprechen nun
geringere Erträge, der Gewinn reduziert sich.
Aber auch für die Arbeitnehmerseite ist die Durchführung eines Streiks mit Kosten verbunden; die Arbeitnehmer erhalten während des Streiks nur ein Streikgeld, das lediglich einen Bruchteil des regulären Lohneinkommens ausmacht, die Gewerkschaft selbst verliert durch die Auszahlung von Streikgeldern Streikvermögen, sie kann deshalb in Zukunft in geringerem Maße mit Streiks glaubhaft drohen.
Beide Seiten haben also ein Interesse daran, nur dann einen Arbeitskampf tatsächlich zu führen, wenn Hoffnung besteht, dass der Arbeitskampf auch zum Erfolg führt. Die Gewerkschaften werden sich Gedanken darüber machen müssen, bei welcher Lohnhöhe das Maximum an Zugeständnissen von Seiten der Arbeitgeber erreicht ist und es ist für die Arbeitnehmer nur solange sinnvoll, ihre Lohnforderungen mit Streikdrohungen zu verbinden, als diese Obergrenze für weitere Lohnsteigerungen noch nicht erreicht ist.
Man wird sogar noch einen Schritt weitergehen und davon ausgehen können, dass bei funktionierenden Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern auch ein Streik nicht ausdrücklich angedroht werden muss, dass die faktische Streikmöglichkeit ausreicht, um die Arbeitgeber zum Einlenken zu bewegen. Wenn die Arbeitgeber genau darüber informiert sind, über welche Streikmacht die Gewerkschaften verfügen und die Streikbereitschaft der Gewerkschaften realistisch einschätzen, liegt es im Interesse der Arbeitgeber, auf das Vorhandensein einer Streikmacht genauso zu reagieren, wie wenn die Androhung eines Streiks ex pressis verbis ausgesprochen würde.
Für die Gewerkschaften dürfte es unter normalen Bedingungen zweckmäßig sein, möglichst wenig Drohungen auszusprechen, da jede Streikdrohung das Verhandlungsklima vergiftet und gerade deshalb die Gefahr heraufbeschwört, dass sich die Haltung der Arbeitgeber versteift und dass es deshalb zu einem Ausbruch des Arbeitskampfes kommt.
Im Folgenden soll das Mittel der Drohung mit einem friedlichen Tausch verglichen werden, um auf diese Weise die spezifischen Eigenschaften einer Streikdrohung besser erkennen zu können. In beiden Fällen – beim Tausch wie bei der Drohung – liegt ein Mittel der Kommunikation vor. Sowohl beim Tausch wie bei der Drohung treten Personen oder Personengruppen in gegenseitige Beziehung zueinander. In beiden Fällen wünscht sich die eine Partei ein Gut oder eine Leistung von der jeweils anderen Partei. Wenn man will, kann man sogar in der Drohung eine Art ‚negatives’ Tauschgeschäft sehen.
Ein Tausch spielt sich bekanntlich nach folgendem Muster ab: Partner A erwartet von Partner B eine bestimmte Leistung und ist bereit, hierfür eine gleichwertige Gegenleistung zu erbringen. Bei einer Drohung wird zwar nicht getauscht; der Drohende fordert die erwünschte Leistung, ohne dass er zu einer Gegenleistung bereit ist. Um aber die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Tausch und Drohung schärfer herausarbeiten zu können, lässt sich die Drohung wie folgt umschreiben: Partner A (der Drohende) erwartet von Partner B (dem Bedrohten) eine Leistung. Für den Fall, dass Partner B die geforderte Leistung erbringt, verspricht Partner A Partner B in Ruhe zu lassen und die Drohung nicht wahr zu machen.
Die Gegenleistung liegt also in diesem Falle in dem Verzicht auf Ausführung der angedrohten Maßnahme. Der erste Unterschied zwischen Tausch und Drohung liegt also darin, dass die Gegenleistung beim Tausch in einer positiven Leistung, bei der Drohung hingegen in dem Verzicht auf Realisierung der Drohung, also in einem negativen Gut besteht.
Ein zweiter Unterschied zwischen Tausch und Drohung liegt darin, dass bei der Drohung die (negative) Gegenleistung gerade dann ausfällt, wenn die Drohung zum Erfolge führt. Unterwirft sich der Bedrohte, so ist die Durchführung der Drohung überflüssig geworden. Das Tauschgeschäft kommt im Gegensatz hierzu gerade dann erst zustande, wenn die (positive) Gegenleistung erbracht wird.
Wir haben oben von den drei Stufen des Konflikts gesprochen: von der Mobilisierung, von der Drohung und vom offenen Kampf. Auch im Bereich des Tausches lassen sich drei Verwirklichungsstufen unterscheiden. Der Mobilisierung entspricht beim Tausch die Produktion. In beiden Fällen (beim Tausch wie bei der Drohung) haben sich die Partner in einer ersten Stufe die Mittel zu besorgen, um das Droh- oder Tauschversprechen überhaupt einhalten zu können.
Die zweite Stufe der gemeinsamen Kommunikation besteht dann darin, dass bei der Drohung ein Schaden angedroht oder beim Tausch eine Leistung versprochen wird. Die dritte Stufe bestünde dann entweder in der Ausführung der Drohung bzw. in der Übereignung der zu tauschenden Güter.
Wir können diesen zweiten Unterschied zwischen beiden Mittel der Kommunikation auch so umschreiben, dass der Tauschvorgang normalerweise mit der dritten Stufe, der Konflikt hingegen bereits auf der zweiten Stufe sein Ende findet. Die Kommunikationsbeziehungen gelten als gestört, wenn der Tauschvorgang bereits auf der zweiten Stufe beendet wird, wenn also gar kein Tausch zustande kommt. Der Konflikt hingegen gilt gerade dann als gestört, wenn er auf die dritte Stufe ausgedehnt wird.
Aber gerade aus dieser Tatsache erwächst ein dritter Unterschied zwischen Tausch und Drohung. Gerade weil der Drohende bei Erfolg die Drohung gar nicht wahr machen muss, büßt er im Normalfalle gar keine Streikmacht ein, er kann also die gleich bleibende Streikmacht für erneute Drohungen in der Zukunft einsetzen. Das Tauschmittel wird hingegen beim Zustandekommen des Tausches ausgehändigt. Ein erneuter Tausch wird erst dadurch möglich, dass sich die Tauschpartner durch Produktion neue Tauschmittel besorgen. Von den Kampfmitteln geht somit im Gegensatz zu den Tauschmitteln eine permanente Wirkung aus.
Würden die Arbeitgeber im allgemeinen nicht auf Streikdrohungen reagieren und wären deshalb die Gewerkschaften gezwungen, ihre Streikdrohungen immer wahr zu machen, so wäre die Streikmacht der Gewerkschaften sehr bald erschöpft. Da die Gewerkschaften während des Streiks Streikgelder an die streikenden Arbeitnehmer auszahlten müssen, würde das Streikvermögen der Gewerkschaften sehr schnell dezimiert, mit der Folge, dass die Gewerkschaften ihre Verhandlungsposition in den zukünftigen Tarifverhandlungen einbüßen würden.
Diese Zusammenhänge konnten besonders gut während des Metallarbeiterstreiks in Schleswig-Holstein von 1957 beobachtet werden. Es handelte sich hierbei um einer der längsten Streiks in der Geschichte der BRD, der von einer DGB-Gewerkschaft geführt wurde. Die Streikkassen der IG-Metall waren nach Beendigung des Streiks fast leer und gerade deshalb mussten die Gewerkschaften in der Folgezeit auf Kampfnassnahmen verzichten.
Eine Drohung erfordert viertens eine größere Glaubwürdigkeit als der Tausch. Zwar gibt es auch bei Tauschbeziehungen die Möglichkeit, dass die Gegenleistung erst in Zukunft erbracht werden muss, dass also ein Kredit gewährt wird. Ein Kredit wird aber nur demjenigen eingeräumt, der glaubwürdig erscheint. Wenn wir trotzdem davon sprechen können, dass sich der Tausch in der Frage der Glaubwürdigkeit von der Drohung unterscheidet, so deshalb, weil beim Tausch die Gegenleistung in der Regel im gleichen Zeitpunkt erbracht wird wie die Leistung und weil auch dort, wo die Gegenleistung erst in der Zukunft erbracht wird, der Kredit im allgemeinen zurückgezahlt wird. Dass ein Kreditnehmer säumig wird, zählt zu den Ausnahmen.
Die Eigenart der Drohung besteht indessen gerade – wie gezeigt – darin, dass die Realisierung der Drohung im Normalfall unterbleiben kann, da die Arbeitgeber in der Regel auf die bloße Androhung mit einem Streik den Lohnforderungen der Gewerkschaften entgegenkommen. Aber gerade hieraus erwächst die Gefahr, dass die Glaubwürdigkeit der Streikdrohung zurückgeht, dass der Bedrohte immer weniger die Drohung ernst nimmt, je weiter die letzte Realisierung einer Streikdrohung in der Vergangenheit liegt.
Eine Gewerkschaft kann auch einfach deshalb einen Streik ausrufen, wenn sie befürchten muss, dass die Streikdrohung nicht mehr greift, weil der letzte tatsächlich ausgerufene Streik schon lange zurückliegt. Darin liegt es auch begründet, dass das Streikniveau nicht kontinuierlich sinkt, dass nach Zeiten friedlicher Beziehungen immer wieder ein Streik aufflackert.
Ein fünfter und letzter Unterschied zwischen Tausch und Drohung liegt darin, dass die Drohung bedeutend mehr Reaktionen und Gegenreaktionen zulässt als der Tauschvorgang. Ein Tauschangebot wird in der Regel angenommen oder abgelehnt. Natürlich gibt es auch hier Unterschiede, so kennen wir die Verhaltensweise des Feilschens um den Preis in orientalischen Staaten. Streng genommen liegt auch hier eine Abfolge von Angeboten, Ablehnungen und erneutem Angebot vor. Unterstellen wir, Tauschpartner A biete eine Ware zum Preis von 10 € an, Partner B möchte nur 5 € zahlen. Dieses Gegenangebot ist gleichbedeutend mit der Ablehnung des ersten Angebotes, verbunden mit einem neuen Angebot. Aber dieses Feilschen ist in den hochentwickelten Volkswirtschaften nicht die Regel, schon gar nicht im Einzelhandel mit den Endkonsumenten.
Der Drohung gegenüber sind mindestens drei unterschiedliche Reaktionen möglich. Man kann sich erstens der Drohung unterwerfen und die Forderungen des Drohenden widerstandslos erfüllen. Man kann zweitens mit einer Gegendrohung reagieren. Man kann schließlich drittens die Drohungen ignorieren, ungeachtet der Konsequenzen, die von einem solchen Verhalten ausgehen.
Auch in den Gegenreaktionen des Drohenden auf diese unterschiedlichen Antworten der Bedrohten, lässt sich eine größere Variationsbreite im Verhalten des Drohenden feststellen. Unterwirft sich nämlich der Bedrohte nicht, so kann sich der Bedrohende erstens zurückziehen, auf den Partner eingehen und auf die anfänglichen Forderungen verzichten. Natürlich verliert er dadurch an Glaubwürdigkeit, aber vielleicht hat er nur geblufft und ist gar nicht in der Lage oder war nie ernsthaft willens, dem Partner den angedrohten Schaden zuzufügen.
Der Drohende kann sich zweitens darauf beschränken, die bereits ausgesprochene Drohung zu wiederholen und darauf hoffen, dass nach dem Motto ‚steter Tropfen höhlt den Stein’ der Bedrohte doch eines Tages die Bedrohung ernst nimmt. Drittens kann er dir Drohung verschärfen, um auf diese Weise von seinem Partner eine Rektion zu erzwingen. Viertens schließlich kann er die Drohungen realisieren und den offenen Kampf beginnen.
Kommen wir zu einer weiteren Eigenschaft der Drohung. Wie bereits angedeutet, kann in der Regel – wenn wir einmal vom Bluff absehen, der ohnehin auf Dauer keinen Erfolg versprechen kann – nur der drohen, der auch die Möglichkeit hat, diese Drohung im Ernstfall zu realisieren. Diese Feststellung muss allerdings in einem Punkt korrigiert werden. Es kommt weniger darauf an, ob der Drohende die Drohung realisieren kann, er muss auch bereit sein, die Konfliktmöglichkeiten auszunutzen; aber noch nicht einmal die Bereitschaft des Drohenden ist die entscheidende Größe, es genügt, dass der Bedrohte davon überzeugt ist, dass der Drohende in der Lage und willens ist, die Drohung allenfalls auszuführen. Wir sprechen hier von der konjekturalen Streitmacht des Drohenden, also von der vermuteten Streikmacht in den Augen der Bedrohten.
Die tatsächliche und die konjekturale Streikmacht können in ihrer Stärke durchaus auseinanderfallen, vor allem dann, wenn die Gewerkschaften nicht gezwungen sind, ihre Vermögensverhältnisse zu veröffentlichen. Natürlich hängt die konjekturale Streikmacht von den tatsächlichen Gegebenheiten ab, sie kann nur kurzfristig von der tatsächlichen Streikmacht abweichen, da das Verhalten der Gewerkschaften in der Vergangenheit zumeist Rückschlüsse auf die gegenwärtigen Möglichkeiten der Gewerkschaften zulassen.
3. Streikausbruch, ein Rechenfehler ?
Wir wollen uns nun im Folgenden den wichtigsten Theorien zur Erklärung eines Streikausbruches zuwenden. Wir beginnen mit der traditionellen, auf John R. Hicks zurückgehenden Theorie des Collective Bargaining. Da wir die von Hicks entwickelte Lohntheorie an anderer Stelle (in dem Artikel über die Theorie der Tarifverhandlungen) ausführlich dargestellt haben, genügt es an dieser Stelle nur diejenigen Teile dieser Theorie genauer zu untersuchen, welche sich auf das Streikverhalten der Arbeitnehmer beziehen.
Nach der Lohntheorie von Hicks kommt es nur in Ausnahmefällen zum Ausbruch eines Streiks. Die Streikwaffe wird als Instrument zur Erkämpfung höherer Löhne oder besserer Arbeitsbedingungen angesehen. Die Arbeitnehmer haben ein Interesse daran, so lange mit Streik zu drohen, als sie damit rechnen können, dass die Arbeitgeber aufgrund der Streikdrohungen zu Lohnzugeständnissen bereit sind.
Wenn die Gewerkschaften nicht mehr damit rechnen können, dass die Arbeitgeber bei Ausweitung des Streiks zu weiteren Lohnzugeständnissen bereit sind, wenn also die äußerste Verhandlungsgrenze der Arbeitgeber erreicht ist, haben die Gewerkschaften kein Interesse daran, weiter zu streiken. Jeder Streik ist für die Gewerkschaften mit Kosten verbunden; deshalb lohnt sich eine Streikdrohung nur solange, als die Gewerkschaften damit rechnen können, dass die Arbeitgeber aufgrund der Streikdrohung den gewerkschaftlichen Forderungen nachgeben.
Haben die Gewerkschaften nämlich mit Streik gedroht und sind die Arbeitgeber zu keinen weiteren Lohnzugeständnissen bereit, so sehen sich die Gewerkschaften gezwungen, die Verweigerung der Arbeitgeber mit der Ausrufung des Streiks zu beantworten, um nicht in den zukünftigen Tarifverhandlungen unglaubwürdig zu werden.
Bei rationalem Verhalten der Gewerkschaften und Arbeitgeber wird es deshalb nur dann zum offenen Arbeitskampf kommen, wenn sich einer der Tarifpartner verschätzt hat. Entweder waren die Gewerkschaften zu optimistisch und waren der Überzeugung, dass die Arbeitgeber bei Androhung eines Streiks noch weitere Lohnzugeständnisse machen werden, obwohl de facto die Arbeitgeber bereits ihre äußerste Verhandlungsgrenze erreicht haben; oder aber die Arbeitgeber haben die Streikwilligkeit der Arbeitnehmer unterschätzt, sie gingen also davon aus, dass die Streikdrohung der Gewerkschaften nicht ernst gemeint war, dass die Gewerkschaften nur geblufft hätten.
In dieser Situation kommt es zum Streik. In dem Vertrauen darauf, dass die Gewerkschaften ihre Drohungen nicht wahr machen, blieben die Arbeitgeber hart, da aber die Gewerkschaften tatsächlich noch nicht die Grenze ihrer Streikbereitschaft erreicht hatten, werden sie diese Haltung der Arbeitgeber mit der Ausrufung eines Streiks beantworten.
Bei unseren bisherigen Überlegungen haben wir mit Hicks stillschweigend unterstellt, dass die Arbeitgeber auf die Streikdrohungen der Gewerkschaften nur damit reagieren können, dass sie entweder den Lohnforderungen der Gewerkschaften entgegenkommen oder hart bleiben und damit einen Streikausbruch riskieren. De facto können die Arbeitgeber jedoch zumindest in der BRD die Streikdrohung mit einer Drohung einer Aussperrung, und die Ausrufung des Streiks mit einer Aussperrung beantworten. Versuchen wir die Frage zu klären, unter welchen Bedingungen es zu einer Aussperrung der Arbeitnehmer kommt.
Eine Aussperrung führt genauso wie ein Streik zu einer vorübergehenden Stilllegung der Produktion und damit in der Regel zu Verlusten der Unternehmungen. Es fragt sich deshalb, weshalb die Arbeitgeber überhaupt zu dem Arbeitskampfmittel ‚Aussperrung’ greifen, wenn fast jede Aussperrung mit zusätzlichen Kosten verbunden ist? Für die Arbeitnehmerseite ergibt sich übrigens ein ähnliches Problem. Die Ausrufung eines Streiks verursacht nicht nur den Arbeitgebern zusätzliche Kosten.
Auch für die Arbeitnehmer gilt, dass ein Streik zunächst Kosten verursacht, aus der Sicht des einzelnen Arbeitnehmers dadurch, dass während des Streiks kein regulärer Lohn gezahlt wird. Die organisierten Arbeitnehmer erhalten zwar ein Streikgeld, das jedoch nur einen Bruchteil des bisherigen Lohnes ausmacht. Auch haben die organisierten Arbeitnehmer die Streikkasse über ihre Gewerkschaftsbeiträge selbst finanziert. Aus der Sicht der Gewerkschaft führt jeder Streik zu einer Reduzierung des Streikvermögens und damit zu einer Verschlechterung der Verhandlungsposition in den zukünftigen Tarifverhandlungen.
Wenn die Gewerkschaften trotzdem mit Streik drohen, so deshalb, weil ein Streik den Arbeitnehmern nicht nur Kosten verursacht, sondern gleichzeitig Nutzensteigerungen bringt und zwar dadurch, dass die Arbeitgeber aufgrund der Streikdrohung und zur Vermeidung des Streikausbruches Lohnsteigerungen zugestehen. Die Gewerkschaften werden sich bei der Entscheidung, ob eine Ausweitung des Streiks erwünscht ist, für einen Anstieg des Streikumfangs solange entscheiden, solange die erwarteten Ertragszuwächse größer sind als die erwarteten Kostenzuwächse.
Für die Arbeitgeber gilt im Zusammenhang mit der Aussperrung analoges. Für sie bedeutet eine Ausweitung der Aussperrung nicht nur vermehrte Kosten aufgrund der vorübergehenden Produktionsstillegung, sondern gleichzeitig auch eine partielle Kostenreduzierung. Hierbei ist davon auszugehen, dass die Höhe der gesamten Kosten eines Arbeitskampfes (KA) von zwei Faktoren bestimmt wird: erstens von dem Streikumfang, der selbst wiederum von der Anzahl der streikenden oder ausgesperrten Arbeitnehmer (A) und der Dauer des Arbeitskampfes – in Tagen gerechnet – (TST) abhängt und zweitens von den Kosten, welche pro Streikumfang einer Unternehmung anfallen. Es gilt die Gleichung:
Unterschiedliche Faktoren tragen nun dazu bei, dass aufgrund einer Aussperrung bei den Arbeitgebern partielle Kostenreduzierungen eintreten. Als erstes nehmen wir den Fall, dass sich nur ein Teil der Beschäftigten am Streik beteiligt, dass also ein Teil der Arbeitnehmer auch während des Streiks zur Arbeit antritt, dass aber aufgrund des Streiks keine Produktion möglich ist. In diesem Falle hat der Unternehmer die arbeitswilligen Beschäftigten zu entlohnen, ohne dass jedoch diese Arbeitskräfte zur Produktion beitragen können. Wenn der Unternehmer nun seine Beschäftigten aussperrt, hat er nun auch den arbeitswilligen Beschäftigten keine Löhne auszuzahlen; dies bedeutet, dass der Unternehmer mit der Aussperrung seine Kosten pro Streikumfang reduzieren kann.
Allerdings gleicht die Aussperrung in diesem Falle einem zweischneidigen Schwert. Erhalten nämlich auch die nichtorganisierten und arbeitswilligen Arbeitnehmer während des Arbeitskampfes keinen Lohn, so erhöht sich der Anreiz dieser Beschäftigten, der Gewerkschaft beizutreten. Damit wird die Verhandlungsposition der Arbeitgeber in den zukünftigen Tarifverhandlungen geschwächt, den augenblicklichen Kosteneinsparungen stehen zukünftige Kostenerhöhungen gegenüber.
Eine Aussperrung lohnt sich im Allgemeinen für die Arbeitgeber nur dann, wenn die Gewerkschaften einen Schwerpunktstreik durchführen, also nur in einem Teil der Betriebe des vorliegenden Tarifbezirks den Streik durchführen. Mit Hilfe eines Schwerpunktstreikes können die Gewerkschaften die Streikdauer ausweiten, da sie ja nur für einen Teil der betroffenen Mitglieder ein Streikgeld auszahlen müssen.
Werden nun auch die Arbeitnehmer der nicht bestreikten Betriebe ausgesperrt, so sehen sich die Gewerkschaften gezwungen, auch den ausgesperrten Gewerkschaftsmitgliedern ein Streikgeld auszuzahlen. Der Versuch, über Schwerpunktstreiks das Streikvermögen sozusagen zu strecken, ist gescheitert, die Gewerkschaft muss nun ihre Streikdauer reduzieren. Die mit dem Arbeitskampf anfallenden Streikkosten der Arbeitgeber werden somit über eine Reduzierung der Streikdauer verringert.
Haben die Arbeitgeber mit Schwerpunktstreiks zu rechnen, können jedoch die anfallenden Streikosten der Unternehmer auch dadurch verringert werden, dass die pro Streikumfang anfallenden Streikkosten reduziert werden. Mit der Aussperrung eines Teils der Arbeitnehmer können die Arbeitgeber nämlich selbst bestimmen, in welchen Betrieben ein Arbeitskampf stattfindet. Wir haben davon auszugehen, dass die Streikkosten in den einzelnen Betrieben einen recht unterschiedlichen Umfang annehmen können.
So ist die Höhe der anfallenden Fixkosten (also der Kosten, die auch dann anfallen, wenn nicht produziert werden kann) von Unternehmung zu Unternehmung unterschiedlich hoch. Weiterhin gilt es zu berücksichtigen, dass sich die einzelnen vom Arbeitskampf betroffenen Unternehmungen darin unterscheiden, ob und in welchem Umfang dann, wenn aufgrund des Arbeitskampfes Lieferschwierigkeiten auftreten, Säumniszahlungen fällig werden. In dem sich die Arbeitgeber dafür entscheiden, nur in solchen Betrieben Arbeitnehmer auszusperren, in denen die Streikkosten die geringsten sind, können sie den Umfang der Streikkosten nachhaltig verringern.
Gleichzeitig unterschieden sich die einzelnen Betriebe aber auch darin, mit welchen Kosten und Schwierigkeiten die Gewerkschaften einen Streik durchführen können. Ein Streik in einem Großbetrieb kostet eine Gewerkschaft sehr viel weniger, als wenn eine gleiche Anzahl von Arbeitnehmern über viele Kleinbetriebe, welche darüber hinaus noch in verschiedenen Räumen angesiedelt sind, verstreut ist. Bei einem Streik in Kleinbetrieben müssen z. B. sehr viel mehr Streikposten pro streikendem Arbeitnehmer vorgesehen werden als in Großbetrieben. Auch ist der Organisationsgrad der Gewerkschaften in Großbetrieben im allgemeinen größer als in Kleinbetrieben mit der Folge, dass die Gewerkschaften bei Streiks in Großbetrieben ein sehr viel geringeres Risiko in der Frage eingehen, wie viel Arbeitnehmer sich am Streik beteiligen werden.
Die Gewerkschaften haben also auch ein Interesse daran, den Arbeitskampf auf die Betriebe zu konzentrieren, in denen ihre Streikkosten am geringsten sind. In dem nun die Arbeitgeber in genau solchen Betrieben ihre Beschäftigten aussperren, in denen die Arbeitskampfkosten der Gewerkschaften besonders hoch sind, üben sie Einfluss auf die Streikdauer aus und können damit auch auf diese Weise ihre Streikkosten reduzieren.
Die Arbeitskampfkosten der Arbeitgeber können jedoch im Zusammenhang mit einer Aussperrung noch aufgrund eines weiteren Zusammenhanges beeinflusst werden. Die bei einem Arbeitskampf anfallenden Kosten unterscheiden sich nämlich je nach Konjunkturlage. In Zeiten der Rezession und Depression können ohnehin nicht alle Arbeitskräfte und Produktionsanlagen beschäftigt werden, es besteht hier die Gefahr, dass eine Unternehmung Arbeitskräfte weiter zu beschäftigen hat, obwohl nicht alle Arbeitnehmer zur laufenden Produktion benötigt werden.
Diese nicht benötigten Arbeitskräfte werden jedoch nicht entlassen, entweder weil diese Beschäftigten wegen des Kündigungsschutzes gar nicht kurzfristig entlassen werden können, oder aber auch deshalb, weil – vor allem bei Fachkräften – eine Weiterbeschäftigung auch während des Konjunkturrückganges immer noch billiger ist, als diese Arbeitskräfte zu entlassen und dann in Zeiten der Hochkonjunktur neue Arbeitskräfte zu suchen und neu anzulernen. Diese Such- und Anlernkosten können im Einzelfall sehr viel höher liegen als die Kosten einer Weiterbeschäftigung.
Wird nun in Zeiten des Konjunkturabschwungs gestreikt, sind die den Arbeitgebern anfallenden Streikkosten nicht nur geringer als in Zeiten des Konjunkturaufschwungs; bisweilen führt ein Streik in diesen Zeiten sogar zu einem partiellen Rückgang der Kosten, da ja während des Arbeitskampfes die streikenden und ausgesperrten Arbeitnehmer nicht bezahlt werden müssen. Die Arbeitgeber sind also daran interessiert, dass Streiks, mit denen ohnehin zu rechnen ist, möglichst in Zeiten des Konjunkturrückganges stattfinden, sie können hierdurch ihre Streikkosten reduzieren.
Umgekehrt haben die Gewerkschaften ein Interesse daran, nicht in Zeiten des Abschwungs, sondern der Hochkonjunktur zu streiken. Der Erfolg eines Streiks hängt davon ab, wie groß der Schaden ist, den ein Streik den Arbeitgebern zufügt. Ist in Zeiten des Abschwungs der Umfang der Streikkosten der Unternehmungen gering, so kann auch pro Einheit des Streikvermögens nur ein geringerer Erfolg erwartet werden. Wird hingegen in Zeiten des Aufschwunges gestreikt, steigt der den Arbeitgebern mit einem Streik zugefügte Schaden und mit ihm auch die Bereitschaft der Unternehmer, es nicht um Streik kommen zu lassen.
Über das Mittel der Aussperrung können die Arbeitgeber somit dafür Sorge tragen, dass Arbeitskämpfe vorwiegend in Zeiten ausgetragen werden, in denen die Arbeitskampfkosten relativ gering sind. Arbeitskämpfe führen zwar immer zu Streikkosten; wenn aber schon damit gerechnet werden muss, dass die Gewerkschaften über ein hohes Streikpotential verfügen, ist es für die Arbeitgeber besser, dass in solchen Zeiten gestreikt wird, in denen die Streikkosten pro Streiktag relativ gering sind.
Nun sind die Arbeitgeber in der BRD nur zu Abwehraussperrungen berechtigt. Dies bedeutet, dass sie die Aussperrungswaffe nur dann einsetzen können, wenn zuvor die Gewerkschaften einen Streik ausgerufen haben. Es liegt also an den Gewerkschaften, ob es in Zeiten des Abschwungs zu einem Arbeitskampf kommt. Die Arbeitgeber können natürlich dadurch, dass sie besonders hart verhandeln und damit das Verhandlungsklima verschlechtern unter Umständen dazu beitragen, dass sich die Gewerkschaften auch dann zu Streiks provoziert sehen, wenn es wegen der Konjunkturlage eigentlich unerwünscht wäre, zu dieser Zeit einen Arbeitskampf zu beginnen.
Mit Hilfe dieser auf Hicks zurückgehenden Streiktheorie lassen sich einige empirisch festgestellte Gesetzmäßigkeiten erklären. Wir hatten eingangs festgestellt, dass in den Gründerjahren der Gewerkschaften häufiger gestreikt wurde als in den letzten Jahrzehnten. Dieser Tatbestand kann damit erklärt werden, dass sich die Tarifpartner in den Anfangsjahren noch nicht ausreichend kannten und dass deshalb Streiks oftmals auch aus Unkenntnis über die Reaktionen des Gegners ausbrachen.
Dass diese Reduzierung im Streikumfang jedoch nicht kontinuierlich weiterging, dass vielmehr immer wieder Zeiten beobachtet wurden, in denen der Streikumfang wiederum anstieg, kann mit Hilfe dieser Theorie damit erklärt werden, dass die Streikdrohung immer unglaubwürdiger wird, je länger der zuletzt ausgeführte Streik zeitlich zurückliegt. Die Streikwaffe wird immer stumpfer, wenn sie niemals mehr eingesetzt wird. So ist es zu erklären, dass sich die Gewerkschaften nach langen Friedensperioden veranlasst sahen, durch Ausrufung eines Streiks die Glaubwürdigkeit der Streikdrohung unter Beweis zu stellen.
Schließlich können wir nun auch erklären, wieso das Mittel der Aussperrung keinesfalls in allen Ländern Anwendung findet, auch nicht in den Ländern, in denen die Aussperrung als solche rechtlich gesehen durchaus erlaubt wäre. Wir haben gesehen, dass eine Aussperrung für die Arbeitgeber nur dann eindeutig auch langfristig Vorteile bringt, wenn die Gewerkschaften Schwerpunktstreiks durchführen.
4. Lohnerwartungen und Streikausbruch
Um aber auch die anderen empirisch festgestellten Gesetzmäßigkeiten ausreichend erklären zu können, bedarf es weiterer theoretischer Ansätze. So haben O. Ashenfelter und G. E. Johnson den Versuch unternommen, den Arbeitskampf als Sonderfall allgemein sozialer Konflikte zu verstehen. J. C. Davies hat in empirischen Untersuchungen nachgewiesen, dass der Ausbruch sozialer Revolutionen damit erklärt werden kann, dass bestimmte Erwartungen nicht mehr erfüllt wurden. Angewandt auf die Arbeitskämpfe kann man davon ausgehen, dass die Arbeitnehmer aufgrund der in Vergangenheit realisierten Lohnerhöhungen die Erwartung gebildet haben, dass auch in Zukunft mit permanenten Lohnsteigerungen zu rechnen sei.
Fallen nun aufgrund eines Rückgangs in den Wachstumsraten die jährlichen Lohnsteigerungen spürbar niedriger aus und werden deshalb die Erwartungen der Arbeitnehmer enttäuscht, entsteht aufgrund der eingetretenen Frustrationen ein Konfliktpotential und die Wahrscheinlichkeit eines Streikausbruches steigt an.
Kommt es allerdings zum Streikausbruch, so passen sich die Lohnerwartungen der Arbeitnehmer den tatsächlichen Gegebenheiten wiederum an, das Konfliktpotential geht zurück und die Wahrscheinlichkeit eines Streikausbruches sinkt. Somit bildet ein bisweilen realisierter Streik die Voraussetzung dafür, dass in Zukunft wiederum eine friedliche Partnerschaft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern möglich wird.
Legt man diese Streiktheorie zugrunde, so lässt sich erklären, warum die Streikaktivität einen antizyklischen Verlauf aufweist, da mit dem Konjunkturabschwung gleichzeitig auch das Wachstum der Lohnsteigerungen reduziert wird und damit die in der Hochkonjunktur gebildeten Lohnerwartungen enttäuscht werden. Schließlich lässt sich mit dieser Theorie auch erklären, dass der Versuch einiger Regierungen, die Lohnforderungen der Gewerkschaften durch Lohnleitlinien zu begrenzen, dazu geführt hat, dass die Konfliktbereitschaft der Gewerkschaften in diesen Zeiten wiederum angestiegen ist. In dem Maße, in dem die Lohnleitlinien greifen, entstand eine Kluft zwischen den Lohnerwartungen der Arbeitnehmer und der tatsächlich erreichten Lohnsteigerungen.
5. Streikausbruch und Mobilität
Auch die Streiktheorie von Cl. Kerr hebt auf Zusammenhänge der sozialen Konflikttheorie ab. Es wird davon ausgegangen, dass die Arbeitnehmer während ihres Berufslebens zahlreichen Enttäuschungen ausgesetzt sind. Es wird nun zwischen zwei Möglichkeiten unterschieden, auf diese Frustrationen zu reagieren. Der einzelne Arbeitnehmer kann seinen Arbeitsplatz wechseln und damit die Ursachen seiner Unzufriedenheit abbauen. Oder aber er kann darum kämpfen, die Bedingungen an seinem Arbeitsplatz zu verbessern. Der Arbeitsplatzwechsel, die Mobilität stellt hierbei eine typisch individuelle Strategie dar, die von jedem Arbeitnehmer allein ergriffen werden muss, während der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen am bestehenden Arbeitsplatz in erster Linie über den kollektiven Zusammenschluss der Arbeitnehmer in Gewerkschaften und über kollektive Kampfmaßnahmen wie z. B. den Streik erfolgt.
Nun unterscheiden sich die einzelnen Arbeitnehmer darin, wie groß ihre Mobilität ist, wie schnell also Verschlechterungen im Lohnsatz oder in den sonstigen Arbeitsbedingungen dazu führen, dass der Arbeitnehmer zu anderen Arbeitsplätzen überwechselt. Unterschiede ergeben sich erstens nach Volksgemeinschaften, in den USA ist z. B. die Bereitschaft zur Mobilität sehr viel größer als z. B. in der BRD.
Unterschiede lassen sich zweitens nach Wirtschaftszweigen und Berufen feststellen. In den traditionellen Berufen der Landwirtschaft und des Bergbaus war die Mobilität stets wesentlich geringer als in den industriellen Bereichen und in den typischen Berufen des Dienstleistungssektors (allerdings mit Ausnahme des öffentlichen Dienstes). Historisch gesehen führten in diesen Sektoren vor allem nur Bedrohungen der physischen Existenz zu Wanderungen größeren Umfangs, und zwar einmal vom ländlichen Gebieten in die Städte, zum andern nach Übersee, also vor allem nach Amerika oder Australien.
Auch gibt es Berufe, bei denen sich das spezielle im Arbeitsleben erworbene Wissen vorwiegend auf den einzelnen Betrieb bezieht, bei denen deshalb ein Arbeitsplatzwechsel zu einem Verlust des angesammelten ‚human capital’ führen müsste und bei denen deshalb eine geringe Mobilität vorliegt.
In der Vergangenheit dürfte auch die Frage, ob ein Arbeitnehmer über Wohnungseigentum verfügte, für die Bereitschaft zur Wanderung maßgebend sein. Natürlich ergeben sich in dieser Frage große Unterschiede zwischen den einzelnen Volksgemeinschaften. In der BRD galt lange Zeit die Vermutung, dass ein Arbeitnehmer, welcher ein Eigenheim erworben hatte und sich in dieser eigenen Wohnung eingerichtet hatte, nicht mehr bereit war, in andere Wirtschaftsräume überzuwechseln. Für die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika gilt jedoch, dass Wohnungseigentum keine Mobilitätsbarriere darstellt, schon der Umstand, dass ein Großteil der Einwohner bzw. ihre Vorfahren aus anderen Kontinenten eingewandert sind, trägt vermutlich zu einer größeren Mobilität bei.
Weiterhin dürfte auch der Bildungsgrad die Arbeitsmobilität vergrößert haben. Schon von den Berufsaussichten her sehen sich Akademiker im Allgemeinen gezwungen, ihren Arbeitsplatz nicht nur in ihrer Heimatgemeinde, sondern in der ganzen Volkswirtschaft oder sogar Weltwirtschaft zu suchen.
Schließlich dürfte sich die Arbeitsmobilität auch im Verlaufe eines Konjunkturzyklus verändern. Während einer Rezession oder Depression dürfte die Bereitschaft zum Arbeitsplatzwechsel einfach deshalb zurückgehen, weil mit dem Absatz auch die Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze zurückgeht. Kündigt ein Arbeitnehmer in einer Abschwungsphase oder wird ihm in dieser Zeit gekündigt, so sind die Chancen, einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden, geringer als in Aufschwungsphasen und die Zeit, die verstreicht, bis eine neue Beschäftigung gefunden wurde, steigt an.
Je geringer nun die Arbeitsmobilität ist, umso mehr sind die Arbeitnehmer auf die zweitgenannte Strategie angewiesen und umso häufiger ist mit dem Ausbruch von Arbeitskämpfen zu rechnen. Legen wir diese Theorie zugrunde, so können wir einen Großteil der oben festgestellten Gesetzmäßigkeiten erklären, so insbesondere der antizyklische Verlauf der Streikaktivitäten, die Unterschiede von Land zu Land, von Wirtschaftszweig zu Wirtschaftszweig und auch im Bildungsgrad der Arbeitnehmergruppen.
6. Die Bedeutung der Streikordnung
Wenn wir somit mit Hilfe der vorgestellten Streiktheorien auch einen großen Teil der empirischen Zusammenhänge befriedigend erklären können, so bleiben trotzdem einige festzustellende Unterschiede unerklärt. So finden sich Unterschiede in Streikumfang und in der Art der Arbeitskämpfe in den einzelnen Ländern, welche einfach auf die jeweilige institutionelle Ordnung zurückgehen.
Die bisher behandelten Theorien haben eine Antwort auf die Frage gesucht, von welchen Bestimmungsgründen die Bereitschaft zum Streik abhängt. Ob es aber zum Ausbruch eines Streiks kommt, hängt nicht nur von den Motiven der Tarifpartner, sondern auch davon ab, welche Formen eines Arbeitskampfes vom Gesetzgeber erlaubt sind und welche Streikaktivitäten rechtlich begünstigt werden. Gerade in der Frage der Streikordnung unterscheiden sich die einzelnen Länder in starkem Maße.
So bestehen in den einzelnen Ländern vor allem Unterschiede in der Frage, in wieweit eine Aussperrung der Arbeitnehmer überhaupt erlaubt ist. Es gibt Länder, welche jede Art von Aussperrung verbieten. In der BRD ist Aussperrung zwar grundsätzlich erlaubt, in einzelnen Bundesländern (wie z. B. Hessen) verbietet die Landesverfassung allerdings eine Aussperrung. Unabhängig davon, ob Bundesrecht Landesrecht bricht, haben die obersten Arbeitsgerichte der BRD festgestellt, dass nur Abwehraussperrungen rechtens sind, dass also nur in Antwort auf einen bereits ausgerufenen Streik mit Aussperrung geantwortet werden darf.
In der Frage nach der Berechtigung eines Streiks ist das Recht zum Streiken in den meisten hochentwickelten Volkswirtschaften in der Regel sogar in der Verfassung verankert. Trotzdem ergeben sich in dieser Frage beachtliche Unterschiede von Land zu Land. In vielen Ländern – wie z. B. auch in den USA und in einem Teil der skandinavischen Staaten – hat der Staat unter gewissen Voraussetzungen das Recht, einen Arbeitskampf zu beenden. Auch regeln Gesetze, was im Rahmen eines Arbeitskampfes erlaubt ist oder auch nicht. Die BRD kennt zu dem grundgesetzlich geschützten Recht keinerlei ausführenden Gesetze zum Arbeitskampf. Die obersten Arbeitsgerichte haben jedoch eine Reihe von Prinzipien entwickelt, anhand derer entschieden wird, welche konkreten Aktivitäten während eines Arbeitskampfes rechtens sind.
Die Arbeitsgerichte ließen sich insbesondere von
folgenden Prinzipien leiten:
- vom Prinzip der Kampfparität zwischen den Tarifparteien,
- vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Kampfmittel,
- vom Prinzip der Neutralität des Staates und
- vom Prinzip der Friedenspflicht
Vom Prinzip der Kampfparität zwischen den Tarifparteien:
So bemühten sich die obersten Arbeitsgerichte vor allem
um eine Ausgewogenheit in der Machtausübung beider Tarifpartner. Ohne die
ausdrückliche Anerkennung der Gewerkschaften (Koalitionsfreiheit und
Streikrecht) müsste befürchtet werden, dass die Arbeitgeber auf den
Arbeitsmärkten über ein Nachfragemonopol verfügten, und zwar in der
Anfangsphase der Industrialisierung vor allem deshalb, weil die Arbeitnehmer
eine geringe regionale Mobilität besaßen und deshalb oftmals auf ein einzelnes
Unternehmen in der Gemeinde angewiesen waren; gleichzeitig waren die
Arbeitnehmer vom Unternehmer abhängig, da die Arbeitskraft deren einzige Einkommensquelle
darstellte.
Heute wären die Arbeitnehmer ohne gewerkschaftlichen und gesetzlichen Schutz den Unternehmungen eher deshalb unterlegen, weil vor allem die Großunternehmungen im Hinblick auf die Ausgestaltung der Arbeitsverträge über ein Informationsmonopol verfügen. Würde die Tarifordnung andererseits nur den Arbeitnehmern ein Kampfrecht zuerkennen, bestünde die Gefahr, dass das Pendel der Machtverteilung umschlüge und dass deshalb die Gewerkschaften ein einseitiges Angebotsmonopol erlangen könnten.
Deshalb wird den Arbeitgebern in der BRD ein Aussperrungsrecht zuerkannt, wobei der Umfang der Aussperrungsmöglichkeit selbst wiederum zur Wahrung der Kampfparität in Abhängigkeit des Streikumfanges der Gewerkschaften begrenzt wird. Im Allgemeinen sind die Arbeitgeber allerdings nur zu sogenannten Abwehraussperrungen berechtigt, die dazu dienen, zuvor eingeleitete Streiks zu begrenzen. In der Begründung wird ausgeführt, dass Angriffsaussperrungen nur dann als zulässig gelten könnten, wenn die Arbeitgeber das Ziel verfolgen würden, die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. In der Regel werden jedoch geltende Tarifverträge nur von Seiten der Gewerkschaften gekündigt mit dem Ziel, die Lohnsätze zu erhöhen oder die sonstigen Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Da in der Bundesrepublik bisher keine Angriffsaussperrungen durchgeführt wurden, haben sich die Gerichte auch noch nicht eigens mit diesem Kampfmittel befasst und sind deshalb nur am Rande auf dieses Kampfmittel eingegangen; hieraus erklärt sich, dass die Berechtigung von Angriffsaussperrungen in der Literatur kontrovers diskutiert wird.
Vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Kampfmittel.
Die Gerichte achten darauf, dass die Maßnahmen im
Hinblick auf die Ziele der Tarifpartner verhältnismäßig sind. So darf keine Tarifpartei
Maßnahmen ergreifen, die geeignet sind, den jeweiligen Tarifpartner vernichtend
zu schlagen. Auch muss darauf geachtet werden, dass allgemeine Gemeinwohlziele
von den Kampfmaßnahmen nicht zu stark beeinträchtigt werden. So sind Streiks im
Gesundheitswesen nur in begrenztem Maße erlaubt. Auch sind politische Streiks,
die sich gegen die demokratischen Entscheidungen der Parlamente und Regierungen
wenden, untersagt. Schließlich dürfen die Kampfmaßnahmen nicht in erster Linie
unbeteiligte Dritte treffen.
Vom Prinzip der Neutralität des Staates.
Tarifautonomie bedeutet, dass der Lohnbildungsprozess den Tarifpartnern vorbehalten bleibt, dass der Staat keine einseitige Partei zugunsten der einen Seite ergreifen darf. Trotzdem übt der Staat vielfältigen Einfluss auf das Tarifgeschehen aus, wobei diese Einflussnahme vor allem damit gerechtfertigt werden kann, dass über die Festlegung der Löhne und der sonstigen Arbeitsbedingungen gesamtwirtschaftliche Ziele, deren Verfolgung dem Staate obliegen, beeinträchtigt werden können. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Ziel der Geldwertstabilität und Vollbeschäftigung.
Vom Prinzip der Friedenspflicht.
Die Gerichte sind weiterhin bemüht, Arbeitskonflikte soweit wie möglich zu vermeiden. Diesem Ziel dient insbesondere der Grundsatz, dass während der Dauer der Tarifverhandlungen keine Arbeitskampfmaßnahmen eingeleitet werden dürfen. Strittig ist allerdings die Frage, inwieweit Warnstreiks, die nur für eine kurze Zeit eine Arbeitsunterbrechung vorsehen und die von vornherein zeitlich auf wenige Stunden oder Tage begrenzt sind, die Friedenspflicht verletzen.
Weiterhin gelten sogenannte wilde Streiks, die ohne formale Urabstimmung und ohne Leitung der Gewerkschaftsspitze von einzelnen Mitgliedern ausgerufen werden, als illegitim. Zwar sind die formalen Voraussetzungen für einen offiziellen Streik in den Gewerkschaftssatzungen niedergelegt und betreffen deshalb zunächst lediglich das Innenverhältnis zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Gewerkschaftsführung. Die Tarifautonomie sieht jedoch für die Aktivitäten der Tarifpartner einen weit größeren gesetzlichen Schutz vor als dies für Aktivitäten sonstiger privater Organisationen gilt, und dieser besondere Schutz entfällt, wenn z.B. im Rahmen wilder Streiks die Interessensphäre der Arbeitgeber verletzt wird.
Das jeweils geltende Arbeitskampfrecht ist nicht die einzige institutionelle Regelung, die auf das Streikverhalten Einfluss ausübt. Wir erwähnten bereits den Einfluss einer institutionellen Mitbestimmung in den Unternehmungen auf den Konfliktverlauf zwischen den Tarifpartnern. Ob es tatsächlich zu einem Streikausbruch kommt, hängt entscheidend davon ab, ob die Gewerkschaften von der Annahme ausgehen, dass die Arbeitgeber durch Androhung eines Streiks weitere Lohnzugeständnisse einräumen. Es liegt nicht im Interesse der Arbeitnehmer, auch dann noch mit Streik zu drohen und gegebenenfalls einen Streik auszurufen, wenn die Arbeitgeber bereits die äußerste Verhandlungsgrenze erreicht haben.
Ob die Gewerkschaften mit Streik drohen, hängt also unter anderem auch davon ab, welche Informationen die Gewerkschaften über das Verhalten der Arbeitgeber besitzen. Und in diesem Zusammenhang kommt die Mitbestimmung ins Spiel. Da bei einer institutionellen Mitbestimmung Arbeitnehmervertreter im Vorstand und in den Aufsichtsräten einer Unternehmung mitwirken, sind diese natürlich sehr viel besser über die Verhandlungsgrenzen der Arbeitgeber unterrichtet als dies ohne Mitwirkung der Arbeitnehmerseite der Fall wäre. Dieser Zusammenhang dürfte im Prinzip auch dann gelten, wenn nicht die Gewerkschaften als solche, sondern hiervon in formaler Hinsicht unabhängige Arbeitnehmervertreter im Vorstand und in den Aufsichtsräten einer Unternehmung sitzen und die Mitglieder dieser Gremien an und für sich zur Geheimhaltung verpflichtet sind.
Verfügt aber die Arbeitnehmerseite über solche Informationen zur Verhandlungsgrenze der Arbeitgeber, so sind die Gewerkschaften auch besser in der Lage, in den Tarifverhandlungen ihren Spielraum besser auszureizen. Sie können solange mit Streik drohen, als die Verhandlungsgrenze der Arbeitgeber noch nicht erreicht ist, ohne befürchten zu müssen, dass sie notfalls zu einem Streik bereit sein müssen. Sie erreichen auf diese Weise im Durchschnitt bessere Verhandlungsergebnisse und müssen in geringerem Maße zum Streikmittel greifen. In den Wirtschaftszweigen und Ländern, in welchen eine institutionalisierte Mitbestimmung der Arbeitnehmer gilt, ist somit eine geringere Streikaktivität zu erwarten.
7. Innerorganisatorische Konflikte und Streikausbruch
Die bisher behandelten Streiktheorien gingen alle von dem Repräsentationstheorem aus, wonach nicht zwischen den Interessen der Funktionäre und der Mitglieder unterschieden wird, es wird immer davon ausgegangen, dass sich die Führungskräfte der Gewerkschaften die Ziele der Mitglieder (Steigerung der Lohnsätze, Verbesserung der Arbeitsbedingungen etc.) zu eigen machen und keine eigenen Interessen verfolgen.
Arthur M. Ross u. a. haben darauf aufmerksam gemacht, dass in großen Organisationen, welche einen eigenen Verwaltungsapparat benötigen und in denen die Führung des Verbandes nicht mehr ehrenamtlich vollzogen, sondern zum eigenen Beruf wird, eigene Organisationsziele entstehen, dass die Führungskräfte vor allem ihre Handlungen so ausrichten, dass der Verband überleben kann und wächst und dass auf diese Weise Funktionärsinteressen und Mitgliederinteressen im Einzelfall durchaus auseinanderfallen können. Vor allem müsse damit gerechnet werden, dass sich mit dem Wachstum einer Organisation auch unterschiedliche Interessen unter den Mitgliedern entwickeln und dass deshalb die Meinung der Mitglieder erst in einem aufwendigen Willensbildungsprozess festgestellt werden muss.
Dies bedeutet nicht, dass die Interessen zwischen Verbandsapparat und Mitgliedern immer auseinanderfallen müssen, sondern lediglich, dass die Aktivitäten von Großorganisationen besser erklärt und verstanden werden, wenn man von den Verbandszielen ausgeht und wen man nach einer Verbandsordnung Ausschau hält, welche die Anreize, denen die Führungskräfte ausgesetzt sind, so setzt, dass die zunächst unterschiedlichen Interessen zusammengeführt werden.
Vor allem Seymour Martin Lipset hat gezeigt, dass die gewerkschaftlichen Ordnungen nicht immer eine Kanalisation der Interessen sicherstellen. So könne nur dann eine Kanalisation der Interessen erwartet werden, wenn bei den Vorstandswahlen ein Wettbewerb der Kandidaten stattfindet; bei Gewerkschaften würde jedoch oftmals bei den Wahlen von Einheitslisten ausgegangen, welche den Mitgliedern keine echte Wahl erlauben.
Berücksichtigen wir diese Zusammenhänge, so muss damit gerechnet werden, dass ein Streik auch unter Umständen aus innerorganisatorischen Gründen entstehen kann. So hat die allgemeine Konflikttheorie darauf aufmerksam gemacht, dass der Ausbruch eines Konfliktes nach außen auch dadurch ausgelöst werden kann, dass innerhalb des Verbandes unterschiedliche Interessen vertreten werden. Die Führungskräfte versuchen dann dadurch die Mitglieder an die Verbandsinteressen zu binden, dass sie einen Konflikt nach außen beginnen. Steht eine Gruppe in einem offenen Konflikt mit der Außenwelt, stellen die Gruppenmitglieder erfahrungsgemäß ihre eigenen Interessen in den Hintergrund und sind bereit, sich dem übergeordneten Ziel der Organisation unterzuordnen.