Gliederung:
1. Einführung
2. Das derzeitige Wahlrecht der Bundesrepublik
3. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: satte Mehrheiten
4. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: weniger Interessengruppen
5. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: geringe Gefahr der Radikalisierung
6. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: größere Sensibilität
7. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: keine Widersprüchlichkeiten
8. Vorteil des Verhältniswahlrecht: größere Entsprechung
des Wählerwillens?
9. Der Vorwurf Hayek‘s
1. Einführung
Seit einigen Jahren führen die allgemeinen Wahlen in der Bundesrepublik, aber auch in den meisten europäischen Staaten, zu keinem befriedigenden Ergebnis. Während nach Ablauf der ersten beiden Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg zumeist eine einzige große Partei, die CDU/CSU oder die SPD entweder die absolute Mehrheit erringen konnte oder zumindest soviel Stimmen erringen konnte, dass sie zusammen mit einer kleineren Partei eine stabile Koalitionsregierung bilden konnte, ist seit geraumer Zeit die Regierungsbildung äußerst erschwert.
Erstens reichen nun sehr oft die Stimmen zweier Parteien nicht mehr aus, eine mehrheitsfähige Regierung zu bilden. Es müssen dann drei oder vier kleinere Parteien eine Koalitionsregierung bilden. Und dies bedeutet, dass wir ähnliche Verhältnisse wie in der Weimarer Republik erhalten, als nahezu alle Parteien, welche auf dem Boden der Verfassung standen, jeweils an der Regierung beteiligt waren mit dem Ergebnis, dass die Opposition fast nur noch von den radikalen Parteien auf dem rechten und linken Spektrum gebildet wurde, von Kräften also, welche die Ordnung einer repräsentativen freiheitlichen Demokratie in Frage gestellt haben.
Je mehr Parteien jedoch einer Regierung angehören, um so größer sind die unterschiedlichen Positionen der einzelnen an der Koalition beteiligten Parteien, um so schwieriger wird die Verabschiedung eines gemeinsamen Aktionsprogrammes und um so geringer ist die Schnittfläche der gemeinsam zu verfolgenden Ziele.
Da aber gerade aus diesen Gründen einer grundsätzlich unterschiedlichen Zielsetzung der Parteien oftmals gar keine Regierung zustande kommt – die einzelnen Parteien befürchten, Maßnahmen durchführen zu müssen, welche konträr zu ihren eigenen politischen Zielsetzungen stehen –, misslingt bisweilen die Bildung einer mehrheitsfähigen Regierung. Die beiden verbleibenden Möglichkeiten bestehen dann darin, dass entweder eine Minderheitsregierung mit Duldung einiger Oppositionsparteien gebildet werden muss oder aber, falls dies nicht möglich erscheint, Neuwahlen angesetzt werden.
Es leuchtet ohne Weiteres ein, dass beide Auswege äußerst kritisch beurteilt werden müssen, da eine Minderheitsregierung bei einer großen Zahl von Gesetzesvorlagen stets Gefahr läuft, die Abstimmung im Parlament zu verlieren. Je mehr jedoch Neuwahlen angesetzt werden müssen, um so größer wird erstens die Wahlmüdigkeit vieler Wähler mit der Folge, dass sich an den Wahlen nur noch eine Minderheit der wahlberechtigten Bevölkerung beteiligt.
Zweitens zeichnen sich die Wahlergebnisse immer häufiger dadurch aus, dass der Wahlausgang mehrere Alternativen der Regierungsbildung möglich macht. Ein solcher Zustand könnte vielleicht noch hingenommen werden, wenn diese Alternativen so verstanden werden könnten, dass eine Alternative die erste Wahl, die anderen jedoch eine zweite oder dritte Wahl darstellen. Es ist nur natürlich, wenn die Wähler in ihrer Gesamtheit mehrere Lösungen in dem Sinne präferieren und zum Ausdruck bringen, dass es auf der einen Seite eine ideale Lösung gibt, dass aber auch Zweit- oder Drittbeste Lösungen benannt werden, die dann zum Zuge kommen sollten, wenn die erstbeste Lösung politisch nicht erreichbar erscheint.
Die in den letzten Wahlen möglichen Alternativen einer Regierungsbildung konnten jedoch mit dem besten Willen nicht als solche abgestuften Lösungen angesehen werden. Bei der letzten Bundestagswahl z. B. wäre neben der dann tatsächlich gewählten sogenannten großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD auch eine rot-rot-grüne Koalition rein rechnerisch möglich gewesen, wobei kein Zweifel bestehen kann, dass sich die Programme einer großen Koalition und einer rot-rot-grünen Regierung eindeutig widersprochen hätten.
Dies bedeutet aber, dass der Wahlausgang zu widersprüchlichen Aussagen über den Wählerwillen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung geführt hatte. Man kann aber sicherlich nicht von einem befriedigenden Wahlausgang sprechen, wenn der Wille der Mehrheit widersprüchlich ist, in Wahrheit ist es hier eben nicht gelungen, den wahren Willen der Bevölkerung (ausgedrückt im Willen der Bevölkerungsmehrheit) zu eruieren.
Schon vor langer Zeit hatte Kenneth Arrow das nach ihm benannte Paradox formuliert, wonach es möglich ist, dass ein demokratischer Abstimmungsprozess zu widersprüchlichen Ergebnissen führen kann. Arrow wies nach, dass auch dann, wenn sich alle Beteiligten bei einer Abstimmung widerspruchsfrei verhalten, das Ergebnis dennoch widersprüchlich sein kann, wenn mehrere Alternativen zur Diskussion stehen und wenn zusätzlich die Reihenfolge der Abstimmungen unterschiedlich verläuft.
Die hier bei demokratischen Wahlen erfolgten Widersprüchlichkeiten hängen nun nicht mit der Reihenfolge der Abstimmungen zusammen, sie ergeben sich vielmehr aus der Art und Weise, wie die abgegebenen Stimmen ausgezählt werden.
2. Das derzeitige Wahlrecht der Bundesrepublik
Bevor wir uns mit der Frage befassen, wie denn diese oben aufgezeigten Unzulänglichkeiten der allgemeinen Wahlen zu erklären sind und auf welchem Wege diese Unzulänglichkeiten vermieden oder zumindest abgeschwächt werden können, wollen wir kurz unser augenblickliches Wahlsystem darstellen.
Wie bereits erwähnt wuzrde, hängt das Ergebnis einer Wahl unter anderem davon ab, wie die abgegebenen Stimmen ausgezählt werden. Man unterscheidet hier vor allem zwischen einem Mehrheits- und einem Verhältniswahlrecht. Beim Mehrheitswahlrecht wird für jeden Wahlbezirk ermittelt, welcher Kandidat die Mehrheit der Stimmen erlangen konnte, dieser Kandidat zieht ins Parlament, die für die übrigen Kandidaten abgegebenen Stimmen finden keine Berücksichtigung.
Beim Verhältniswahlrecht entspricht die Verteilung der Sitze im Parlament dem prozentualen Anteil, den eine Partei bei der Wahl insgesamt in allen Wahlbezirken erzielen konnte. Konnte eine Partei S bei der Wahl 35 % der Wähler erzielen, so erhält diese Partei auch 35 % der Parlamentssitze.
Bisweilen finden sich jedoch wie z. B. in der BRD Deutschland auch Mischsysteme vor. In der BRD hat jeder Wähler bei den Wahlen zum Bundestag zwei Stimmen. Im Hinblick auf die Erststimme gelangt für jeden Wahlbezirk wie beim Mehrheitssystem derjenige Kandidat ins Parlament, der dort die meisten Stimmen für sich erringen konnte. Die Zweitstimme dient hingegen wie beim Verhältniswahlrecht dazu, jeder Partei soviel Sitze zuzuteilen, dass die prozentuale Zusammensetzung der Parteien im Parlament dem Anteil entspricht, den die Parteien in der Bevölkerung erzielen konnten.
Probleme ergeben sich beim Mischsystem immer dann, wenn es einer Partei gelingt, mehr Direktkandidaten ins Parlament zu entsenden als ihr entsprechend dem Anteil der Wählerstimmen prozentual entsprechen. In der BRD wird dieses Problem dadurch gelöst, dass in diesem Falle Überhangmandate gebildet werden, dass also diese Partei zusätzliche Parlamentssitze besetzen kann, damit auch jeder Kandidat, der bei der Direktwahl die Mehrheit erlangt hatte, ins Parlament einziehen kann.
Es leuchtet ohne weiteres ein, dass sich auch bei gleicher Stimmenverteilung in der Bevölkerung die Zusammensetzung der Parlamente bei Mehrheitswahlrecht von der bei Verhältniswahlrecht unterscheidet und dies bedeutet gleichzeitig, dass die Verteilung der Parlamentssitze auf die einzelnen Parteien bei einem Mehrheitswahlrecht von dem Anteil der Stimmen, den die einzelne Partei in der Bevölkerung erzielen konnte, mehr oder weniger abweicht. Machen wir uns diese Konsequenz an einem Beispiel klar.
Wir wollen der Einfachheit halber lediglich von zwei Parteien (K und L) ausgehen und annehmen, dass das Land in 100 gleich große Wahlbezirke geteilt wurde. Die Partei K habe jeweils in allen Wahlbezirken 51% der Stimmen erzielt. Bei einem Mehrheitswahlrecht werden deshalb der Partei K restlos alle Sitze zugesprochen, während bei einem Verhältniswahlrecht Partei K zwar auch die Mehrheit, aber nur 51% der Sitze und damit nur eine knappe Mehrheit im Parlament erreichen konnte.
Natürlich ist dies ein Extrembeispiel. In der Realität besitzt nahezu jede Partei bestimmte Hochburgen, in denen sie auf jeden Fall die Mehrheit der Stimmen erzielen kann, sodass im Allgemeinen auch beide Parteien im Parlament vertreten sind. Unser Beispiel hat aber gezeigt, dass bei einem Mehrheitswahlrecht keinesfalls damit gerechnet werden kann, dass die Zusammensetzung des Parlaments genau dem Wähleranteil der Parteien entspricht. Die Erfahrung mit dem Mehrheitswahlrecht hat gezeigt, dass die Partei, welche die Mehrheit der Stimmen erzielt hat, im Allgemeinen einen wesentlich höheren Anteil an Parlamentssitzen erringen kann, als dies dem Wähleranteil dieser Partei entspricht.
3. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: satte Mehrheiten
Was spricht nun für das Verhältniswahlrecht, was für das Mehrheitswahlrecht? Die Verfechter des Verhältniswahlrechts weisen daraufhin, dass nur bei einem Verhältniswahlrecht die Zusammensetzung des Parlaments der Struktur der Wähler entspricht, während bei einem Mehrheitswahlrecht die Zusammensetzung des Parlamentes mehr oder weniger von der Zusammensetzung der Wähler abweicht.
Die Tatsache als solche ist kaum zu bestreiten. Fraglich bleibt jedoch die stillschweigende Annahme, dass der Wille der Mehrheit in der Bevölkerung nur dann zum Ausdruck kommt, wenn das Parlament ein Spiegelbild der Wählerzusammensetzung darstellt. Wir werden im Verlaufe dieses Abschnittes weiter unten zeigen, dass diese Annahme sehr wohl in Frage gestellt werden kann.
Befassen wir uns jedoch zunächst mit den Argumenten, welche von den Verfechtern eines Mehrheitswahlrechtes angeführt werden. Für das Mehrheitswahlrecht spricht, dass es eine größere Stabilität und Sensibilität als das Verhältniswahlrecht garantiert. Dies gilt aus mehreren Gründen.
Als erstes hat sich empirisch herausgestellt, dass die jeweilige Regierungspartei in einem Mehrheitswahlrecht in aller Regel über eine satte Mehrheit der Parlamentssitze verfügt, während Regierungen in einem System des Verhältniswahlrechts sehr oft nur über extrem knappe Mehrheiten von ein bis zwei Stimmen verfügen. Dies ist das Ergebnis, das in der Vergangenheit allgemein mit einigen wenigen Ausnahmen empirisch festgestellt wurde. Es gibt aber keinen logischen Grund dafür, dass diese Aussage immer gilt.
Bisweilen hat die Regierung bei einem reinen Verhältniswahlrecht gar keine Mehrheit, sie bildet ein Minderheitskabinett und ist darauf angewiesen, dass einzelne Abgeordnete der Opposition im Einzelfall für die Regierungsvorlage stimmen, bzw. dass einzelne Oppositionsparteien die Regierung unterstützen, ohne sich an der Regierung personell zu beteiligen.
In diesen Fällen muss die Regierung bei jeder Gesetzesvorlage um die Mehrheit bangen. Verfügt sie nur über eine hauchdünne Mehrheit, lauft sie Gefahr, die Abstimmung nur deshalb zu verlieren und zurücktreten zu müssen, weil ein oder zwei Abgeordnete der Regierungsparteien wegen Krankheit oder wegen anderweitiger Abwesenheit an der Abstimmung nicht teilnehmen konnten.
Wohlbemerkt: Die Regierung stürzt hier nicht deshalb, weil sie eine falsche Politik betreibt, welche von der Mehrheit der Bevölkerung nicht geteilt wird, sondern aus rein zufälligen Gründen, die nichts mit der eigentlichen Sache zu tun haben.
Bei einer hauchdünnen Mehrheit hat eine Regierung auch zu befürchten, dass während der Legislaturperiode der eine oder andere Abgeordnete wegen Meinungsverschiedenheiten zu einer Oppositionspartei überwechselt und dass die Regierung aus diesem Grunde die Mehrheit verliert.
Nur dann, wenn die besagten Abgeordneten diesen Parteiwechsel damit begründen, dass sie ihren Wählern versprochen hatten, gegen bestimmte Vorhaben der Regierung zu stimmen, könnte man noch mit einigem Recht davon sprechen, dass hier die Regierung deshalb gestürzt wird, weil sie Maßnahmen durchzusetzen versucht, welche von der Mehrheit der Bevölkerung nicht geteilt werden.
In aller Regel wechseln einzelne Abgeordnete jedoch nur dann ihre Partei, wenn sie aus grundsätzlichen Überlegungen nicht mehr mit den Zielsetzungen der Parteiführung übereinstimmen. Im Allgemeinen ist es bei jeder politischen Entscheidung notwendig, Kompromisse zu schließen, sodass sich die meisten Abgeordnete nicht in jeder Frage mit ihrer Meinung durchsetzen können.
Aber auch ein Abgeordneter, der in einer Abstimmung überstimmt wurde, ist durchaus in der Lage, diesen Kompromiss auch dann vor der Wählerschaft zu verteidigen, wenn er in einer konkreten Frage überstimmt wurde. Entscheidend ist nur die Frage, ob er in den grundsätzlichen Positionen seiner Partei mit der Parteiführung übereinstimmt.
Liegt sogar eine Minderheitenregierung vor, so ist die Stabilität der Regierung noch viel stärker bedroht als dann, wenn die Regierung immerhin noch über eine kleine Mehrheit von einigen, wenigen Stimmen verfügt. Parteien, welche an der Regierungsarbeit beteiligt werden, profitieren von dieser Mitarbeit dadurch, dass sie in der Regierung Posten übernehmen, sie sind deshalb auch daran interessiert, dass die Regierung bis zum Schluss der Legislaturperiode durchhalten kann.
Eine Oppositionspartei hat jedoch am Erhalt der Regierung ein viel geringeres Interesse, da sie ja an den Früchten der Regierungsarbeit gar nicht beteiligt ist und wird deshalb auch sehr viel schneller der Regierung seine Zustimmung verweigern, wenn diese Regierung die Zustimmung nicht auf andere Weise honoriert.
4. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: weniger Interessengruppen
Das Mehrheitswahlrecht garantiert noch aus einem weiteren Grund eine größere Stabilität als das Verhältniswahlrecht. Gerade weil im Mehrheitswahlrecht eine Partei nur dann eine Chance hat, ins Parlament gewählt zu werden, wenn sie in einzelnen Wahlbezirken die Mehrheit der Stimmen erlangen konnte, haben hier im Allgemeinen nur große Parteien, welche mehrere Bevölkerungsgruppen ansprechen, überhaupt Aussicht auf Erfolg. Mehrheitswahlsysteme zeichnen sich dadurch aus, dass zumeist nur zwei größere Parteien die Wahl bestreiten und ins Parlament einziehen können.
In einem Verhältniswahlrechtssystem haben auch solche Parteien Aussicht darauf, ins Parlament gewählt zu werden und sogar als Koalitionspartner an der Regierung beteiligt zu werden, wenn sie von vornherein nur eine kleine Bevölkerungsgruppe ansprechen. Es besteht hier also die Gefahr, dass eine Vielzahl von kleineren Parteien antritt und dass diese eine reine Interessenpolitik betreiben und gar nicht darum bemüht sind, nach Lösungen zu suchen, welche von der Mehrheit der Bevölkerung gebilligt werden. Sie kommen ja – wie festgestellt – auch dann ins Parlament, wenn sie nur eine Minderheit vor den Wahlen angesprochen haben und sich nicht um einen Kompromiss bemüht haben, der auch von mehreren Bevölkerungsgruppen geteilt wird.
Gerade weil es sich nun für eine Vielzahl von Interessengruppen lohnt, sich als Partei zu formieren, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass die größeren Parteien überhaupt noch die Mehrheit der Stimmen erreichen können mit der Folge, dass die größeren Parteien gezwungen sind, mit einer oder sogar mehreren kleinen Parteien eine Koalitionsregierung zu bilden. Auf diese Weise kann also auch eine Partei, die vor den Wahlen nur eine einzelne Interessengruppe angesprochen und deshalb die Mehrheit bei weitem verfehlt hat, trotzdem damit rechnen, an der Regierungsarbeit beteiligt zu werden und für ihre Interessengruppe Sondervorteile zu erkämpfen.
Aber gerade diese Aussicht verändert selbst wiederum die Interessenlage der kleineren Parteien. Wenn eine Partei die Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen vertreten soll, ist sie gezwungen, bereits vor der Wahl Lösungen in Aussicht zu stellen, die gerade deshalb weil Kompromisse notwendig werden, nicht so eindeutig und radikal den Interessen einer Bevölkerungsgruppe entsprechen. Eine kleinere Partei kann hingegen ihre Chancen, gewählt zu werden, dadurch vergrößern, dass sie extreme radikale Forderungen formuliert und damit die betroffenen Wähler sehr viel eher für sich gewinnen kann als dann, wenn man für Lösungen geworben hätte, welche der Gesamtheit der Bevölkerung zugute kommen und gerade deshalb Kompromisse erfordern.
Diese Tatsache verringert jedoch die Stabilität und vergrößert die Gefahr, dass die Regierungen scheitern und vor Ablauf der Legislaturperiode zurücktreten müssen. Koalitionsregierungen bringen es mit sich, dass zwischen den Koalitionsparteien nach der Wahl beachtliche Kompromisse eingegangen werden müssen. Dies bedeutet, dass keine Partei ihre Zielvorstellungen durchsetzen kann. Sie laufen dann Gefahr, im Verlaufe der Legislaturperiode unglaubwürdig zu werden, weil sie eine Politik mittragen, welche mehr oder weniger von den Versprechungen abweicht, die sie vor der Wahl gemacht haben.
Hier kann es sehr schnell zu einem Bruch der Koalition kommen, wenn ein Koalitionspartner befürchten muss, dass er gerade aufgrund der notwendigen Kompromisse bei seinen Wählern unglaubhaft wird und Gefahr läuft, bei den nächsten Wahl beachtliche Verluste zu erfahren.
Hier ist die Position der allein regierenden großen Partei unter den Bedingungen eines Mehrheitswahlrechtes sehr viel stabiler. Auch sie muss Kompromisse eingehen wie die Koalitionsregierung. Entscheidend ist jedoch, dass die Regierungspartei diese Kompromisse bereits vor der Wahl versprochen hatte und dass sie gerade deshalb auch das einhalten kann, was sie vor der Wahl versprochen hatte.
5. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: geringe Gefahr der Radikalisierung
Ein weiterer dritter Grund spricht für eine größere Stabilität des Mehrheitswahlrechtes. Die Erfahrungen mit der Verfassung der Weimarer Republik, welche ein reines Verhältniswahlrecht vorsah, zeigen, dass sich gerade aufgrund der Zusammenhänge, die eben dargelegt wurden, eine Parteienstruktur ergab mit einer radikalen Partei im rechten Spektrum (den Nationalsozialisten), einer weiteren radikalen Partei im linken Spektrum (den Kommunisten) sowie einer Reihe kleinerer Parteien in der Mitte dieses Spektrums. Nur diese Parteien in der Mitte standen auf dem Boden der Verfassung, während erklärtes Ziel der beiden extremen Parteien darin bestand, zwar auf dem Wege der Weimarer Verfassung die Mehrheit zu erlangen, dann aber, wenn sie an der Macht gelangt sind, die demokratische Verfassung auszuhöhlen und schließlich zu verlassen.
Die Folge dieser Parteienstruktur bestand nun darin, dass gerade deshalb, weil es eine Vielzahl kleinerer Parteien gab und die beiden radikalen Parteien zusammen einen großen Teil der Wählerstimmen erlangten, die tatsächlichen Regierungen fast immer aus den meisten kleineren Parteien in der Mitte bestanden, oftmals wurde nur der Regierungschef ausgewechselt, während die Regierungsparteien fast immer dieselben waren.
War nun die Bevölkerung mit der Arbeit der Regierung unzufrieden, brachte es den Wählern keinen Gewinn, bei den Wahlen von einer gemäßigten Partei zu einer anderen gemäßigten Partei überzuwechseln, da ja alle diese Parteien die Arbeit der Regierung unterstützt hatten. Eine echte Alternative zu der bestehenden Politik brachten nur die beiden radikalen Parteien. In Folge dessen war es auch nicht verwunderlich, dass immer mehr Wähler zu den radikalen Parteien Zuflucht nahmen, unzufriedene Arbeiter wechselten zur Kommunistischen Partei, unzufriedene Angestellte, Beamte und Selbstständige hingegen vorwiegend zu den Nationalsozialisten.
Bringen wir als Beispiel die Wahlen in den USA und in der Deutschland während der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. In beiden Ländern brachte die Wirtschaftskrise etwa 8 bis 10 Millionen Arbeitslose. Die Bevölkerung beider Länder hatte also Grund, mit der Arbeit der Regierungen (Hoover in den USA, Brüning in Deutschland) unzufrieden zu sein und bei der nächsten Wahl die Regierung abzuwählen.
In den USA besteht ein Mehrheitswahlrecht mit zwei starken Parteien, welche auf dem Boden der Verfassung stehen. Die Wähler hatten also die Möglichkeit, zu einer Opposition zu wechseln, welche die bestehende Verfassung verteidigte. Die Regierung Hoover wurde durch die Regierung Roosevelt abgelöst. In der Weimarerrepublik hingegen wechselten so viele unzufriedene Wähler zu den rechtsradikalen Parteien, vor allem den Nationalsozialisten, so dass sich der Reichspräsident Hindenburg schließlich veranlasst sah, Hitler mit der Führung der Regierung zu beauftragen.
Natürlich haben auch andere Faktoren dazu beigetragen, dass es zum Zusammenbruch der Weimarer Republik kommen konnte. An dieser Stelle kam es nur darauf an, aufzuzeigen, dass auch das Wahlrecht zu diesem Umschwung beigetragen hat und dass ganz generell Mehrheitswahlrechtssysteme eher gefeit sind gegenüber einem Verfassungsbruch als Verhältniswahlrechtssysteme.
6. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: größere Sensibilität
Die Eigenarten des Mehrheitswahlrechts bringen es viertens mit sich, dass Unzufriedenheit mit der bestehenden Regierung schneller als bei einem Verhältniswahlrecht zu einer Ablösung der bestehenden Regierung führt. Das System reagiert auf Unzufriedenheit schneller. Im Allgemeinen reicht schon ein Umschwung weniger Prozentpunkte aus, damit die bisherige Opposition zumeist wiederum sogar eine satte Mehrheit bei den nächsten Wahlen erreichen kann.
Diese starke Sensibilität hängt damit zusammen, dass eine Mehrheit auch nur bei einem kleinen Umschwung in den abgegebenen Wählerstimmen umkippen kann. Als Beispiel wählen wir wiederum ein Mehrheitswahlsystem mit zwei Parteien. Partei K stelle die Regierung und habe bei der bisherigen Wahl in 60 von 100 Wahlbezirken die Mehrheit von 51% errungen. Deshalb verfügte Partei K bisher über eine satte Mehrheit von 60% Parlamentssitzen. Wir wollen nun unterstellen, dass in 30 der genannten 60 Wahlbezirken Partei K nur 2% der Stimmen verlor, aber gerade deshalb in diesen Wahlbezirken nicht mehr die Mehrheit erlangte.
Die bisherige Oppositionspartei konnte deshalb gegenüber den bisherigen Wahlen mit 40 von 100 Sitzen jetzt 30 Sitze hinzugewinnen und erhält deshalb eine satte Mehrheit von 70 Stimmen, obwohl nur in 30 von 100 Wahlbezirken zwei Prozent der Wähler zur Gegenpartei übergewechselt sind. Selbstverständlich ist nicht damit zu rechnen, dass in praxi so extreme Veränderungen stattfinden, es sollte lediglich an einem extremen Beispiel gezeigt werden, dass ein Mehrheitswahlrecht sehr schnell und sehr stark auf Veränderungen im Wählerwillen reagiert.
Bringen wir nun ein Gegenbeispiel aus dem Bereich des Verhältniswahlrechts. Wir unterstellen, dass alle verfassungstreuen Parteien in der Mitte des Parteienspektrums bereits an der Regierung beteiligt sind. Wenn nun die Wähler mit der Politik der Regierung unzufrieden sind und deshalb zu einer anderen, ebenfalls verfassungstreuen Partei wechseln, schlägt sich diese Unzufriedenheit in der tatsächlichen Politik gar nicht nieder, da ja auch die gestärkte Partei bisher der Regierung angehörte.
Änderungen sind erst dann zu erwarten, wenn die Unzufriedenheit in der Bevölkerung so groß wird, dass die Wähler in großen Scharen zu den extremen Parteien überwechseln. Dies ist nicht nur unerwünscht. Es kommt noch hinzu, dass dieses System nicht in der Lage ist, Veränderungen im Wählerwillen zu verarbeiten. Lange Zeit passiert gar nichts. Da aber gerade deshalb der Unmut in der Bevölkerung ansteigt, wird dieser eines Tages so stark, dass er zu einer Revolution führen kann.
Nun könnte man einwenden, dass natürlich auch die Tatsache, dass das Mehrheitswahlrecht gewissermaßen überreagiert, also aus einer Mücke einen Elefanten macht, als unerwünscht angesehen werden muss, dass es vielmehr erwünscht sei, dass die Änderungen in der Zusammensetzung des Parlamentes nur dem Umfang der tatsächlich geäußerten Unmut entsprechen sollten.
Eine solche Kritik verkennt, dass sich nicht jede Unzufriedenheit mit der bestehenden Regierung sofort darin äußert, dass Wähler zu Oppositionsparteien überwechseln. Viele Wähler halten ihrer Partei die Treue, da sie nicht nur wegen der konkret angekündigten Maßnahmen, sondern auch wegen ihrer grundsätzlichen Haltung eine Partei bevorzugen. Ein überzeugter Gewerkschaftsfunktionär wird wohl kaum bei Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik der SPD sagen wir zur FDP überwechseln, zu groß sind die ideologischen Unterschiede beider Parteien.
In aller Regel beschränken sich unzufriedene Wähler darauf, der Partei ihrer Wahl einen Denkzettel zu verpassen, in dem sie z. B. bei Meinungsumfragen einer anderen Partei zustimmen oder sie enthalten sich bei der Wahl oder wählen nur dann eine andere Partei, wenn sie damit rechnen, dass die ‚eigene‘ Partei trotzdem die Mehrheit, eben nur gegenüber bisher eine verminderte Mehrheit erlangen wird.
Dies gilt beispielsweise auch für die drei Landtagswahlen, welche im März 2016 stattgefunden haben. Sowohl in Baden-Württemberg, Rheinland Pfalz sowie Sachsenanhalt konnte sich die jeweils stärkste Partei halten. In Baden-Württemberg hatten die Grünen mit Kretschmann als Ministerpräsident sogar Stimmen hinzugewonnen, in Rheinland-Pfalz hatte die SPD mit Frau Dreyer als bisherigen Ministerpräsidentin ebenfalls – allerdings nur leichte – Zugewinne zu verzeichnen, in Sachsen-Anhalt schließlich verlor die CDU mit ihrem bisherigen Ministerpräsidenten zwar an Stimmen, blieb jedoch stärkste Partei. Allerdings hatten in allen drei Ländern die jeweiligen Koalitionspartner hohe Verluste zu verzeichnen, sodass in keinem dieser drei Länder die bisherige Koalitionsregierung mehrheitsfähig blieb.
Würde nun trotz Unzufriedenheit der Wähler die augenblickliche Regierung bestehen bleiben, so wie dies in der Weimarer Republik oftmals der Fall war, bestünde die Gefahr großer Wohlfahrtsverluste, da trotz Unmut der Wähler politisch keine wesentliche Änderung erfolgte. Es spricht also sehr viel für ein System, das sehr sensibel und sehr schnell auf Meinungsänderungen der Bevölkerung reagiert. Unzufriedenheit und damit Wohlfahrtsverluste entstehen lange vorher, bevor sich diese Unzufriedenheit in Stimmenverlusten bei der nächsten Wahl zum Parlament äußert. Es ist somit damit zu rechnen, dass die tatsächliche Unzufriedenheit in der Wählerschaft sehr viel größer ist, als die tatsächlichen Stimmenverluste zu signalisieren scheinen. Wenn somit solange abgewartet wird, bis eine Ablösung der Regierung aufgrund von Stimmenverlusten erfolgen kann, besteht immer die Gefahr, dass wegen steigernder Unzufriedenheit das gesamte System in Frage gestellt wird.
7. Vorteile des Mehrheitswahlrechtes: keine Widersprüchlichkeiten
Fünftens schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das Wahlergebnis unbestimmt wird, wenn nach der Wahl die Bildung verschiedener Koalitionsregierungen möglich wird. Die Wahrscheinlichkeit hierzu steigt in dem Maße, in dem die Anzahl der konkurrierenden Parteien ansteigt, was selbst wiederum in Systemen der Verhältniswahl wahrscheinlicher ist als in Systemen der Mehrheitswahl. Der Wählerwille kann hier gar nicht zum Zuge kommen, da nach dem Ausgang der Wahl verschiedene Kombinationen möglich werden. Diese Unbestimmtheit wäre nur dann auszuschließen, wenn sich die Parteien vor der Wahl festlegen würden, mit welchen und nur mit welchen anderen Parteien gegebenenfalls eine Koalition eingegangen wird.
Eine solche Selbstbindung widerspricht jedoch sowohl dem Interesse der gesamten Gemeinschaft wie auch der einzelnen Parteien. Eine Selbstbindung kann dazu führen, dass nach der Wahl keine Regierung gebildet werden kann, da die Parteien vor der Wahl diejenigen Koalitionen von vornherein ausgeschlossen haben, welche rein rechnerisch nach der Wahl möglich wären (also eine Mehrheit ergäben).
Es wäre sicherlich unerwünscht, wenn allein aus Gründen der Selbstbindung mehrere Wahlgänge notwendig würden. Abgesehen davon, dass das Abhalten von Wahlen Kosten verursacht, ein zu häufiger Wahlgang führt zu einer Wahlmüdigkeit, immer weniger Personen beteiligen sich an der Wahl. Je geringer jedoch die Wahlbeteiligung ausfällt, um so weniger spiegelt das Wahlergebnis die Meinung der Bevölkerung wider.
Aber auch den Parteien selbst ist an einer vorherigen Festlegung des Koalitionspartners nicht gelegen. Hat sich nämlich eine Partei S bereits festgelegt, dass sie auf jeden Fall nur mit der Partei G eine Koalition eingehen wird, ist ihre Verhandlungsposition gegenüber dem Koalitionspartner geschwächt. Es fehlt dann dieser Partei die Trumpfkarte, dass sie notfalls auch mit einer anderen Partei eine Koalition eingehen kann. Sie kann gewissermaßen erpresst und zu stärkeren Zugeständnissen an die kleinere Partei gezwungen werden, als dem Stimmengewicht dieser kleineren Partei entspricht.
8. Vorteil des Verhältniswahlrecht: größere Entsprechung
des Wählerwillens?
Unsere bisherigen Überlegungen kamen zu dem Ergebnis, dass den beiden Wahlrechtssystemen zwei unterschiedliche, konkurrierende Zielsetzungen zugrunde liegen: Während das Verhältniswahlrecht anscheinend (vielleicht nur scheinbar?) dafür Sorge trägt, dass die Politiker eher den genauen Willen der Bevölkerung erfüllen, sorgt das Mehrheitswahlrecht in stärkerem Maße dafür, dass das System stabil bleibt, also die repräsentative Demokratie erhalten bleibt. Und es hat den Anschein, als ob man in dem augenblicklichen System, das beide Wahlrechtsformen vereint, einen höchst erwünschten Kompromiss zugunsten beider Ziele erreicht hat.
Doch dieser Anschein trügt. Auf der einen Seite treten die Vorteile des Mehrheitswahlrechts nur bei der reinen Form auf, das augenblickliche Mischsystem hat ja gerade im letzten Jahrzehnt die oben geschilderten Schwierigkeiten mit den Überhangmandaten ausgelöst. Auf der anderen Seite sollte man sich die Frage stellen, ob es zur Realisierung des Wählerwillens wirklich notwendig ist, dass die Parteistruktur des Parlaments gerade der Wählerstruktur entspricht.
Bringen wir hierzu ein fiktives Beispiel. Wir unterstellen zwei Fälle, in beiden Fällen treten bei einer Wahl zwei Parteien S und C an, die Partei C komme jeweils insgesamt auf 60% der Stimmen. In dem ersten Fall werden die Stimmen entsprechend dem Mehrheitsprinzip gezählt, im zweiten Fall entsprechend dem Verhältniswahlrecht.
Wir wollen weiter unterstellen, dass in 100 Wahlbezirken zu je 100 Stimmberechtigten gewählt wurde und dass die Partei C in 80 Wahlbezirken eine Mehrheit von 70% erzielt, in den restlichen 20 Wahlbezirken jedoch nur einen Stimmenanteil von 20% erreicht. Bei dem Mehrheitswahlsystem würde Partei C also 80 von 100 Sitzen erringen, bei Verhältniswahlrecht hingegen nur ((80*70) + (20*20))/100 = (5600 + 400)/100 = 60% , also 60 Sitze erhalten.
Da die Partei C annahmegemäß unter beiden Wahlsystemen die Mehrheit der Parlamentssitze errungen hatte, kann sie auch jeweils die Regierung bilden und ihre Maßnahmen wie beabsichtigt durchsetzen. Der Umstand, dass die Oppositionspartei S unter den Bedingungen der Verhältniswahl über 20 Sitze mehr verfügt als unter den Bedingungen der Mehrheitswahl, hat hier – zumindest in kurzfristiger Sicht – keinerlei Einfluss auf das Verhalten der Regierung. In beiden Fällen kann die Regierung ihr Programm unverändert durchsetzen – sie hat ja eine satte Mehrheit – und in beiden Fällen entspricht die realisierte Politik dem Willen der Mehrheit der Wähler.
Es gibt keinerlei Gewähr dafür, dass der bloße Umstand, dass die Zusammensetzung des Parlaments der Wählerstruktur im Falle der Verhältniswahl besser entspricht als bei einem Mehrheitswahlrecht, in irgendeiner Weise die tatsächliche Politik der Regierung auch in stärkerem Maße den Wählerwillen widerspiegelt.
Aufgrund der oben aufgezeigten Mängel müssen wir sogar zugeben, dass trotz größerer Symmetrie zwischen Struktur der Parlamentssitze und Struktur der Wähler insgesamt der Wählerwille gerade beim Verhältniswahlrecht nicht voll zum Zuge kommt, weil z. B. der Wahlausgang mehrere unterschiedliche Koalitionsregierungen zulässt oder weil – wie gezeigt – die kleinere Partei mehr Einfluss erlangen kann als es ihrem Stimmenanteil entspricht.
Bei unseren Überlegungen haben wir allerdings stillschweigend unterstellt, dass – gleiches Verhalten der Wähler vorausgesetzt – bei beiden Wahlsystemen dieselbe Partei die Mehrheit erlangt. Und dies hinwiederum setzt voraus, dass alle Wahlbezirke die gleiche Größe aufweisen. Ist dies nicht der Fall, muss in der Tat damit gerechnet werden, dass unter Umständen auch bei gleicher Stimmenabgabe im Mehrheitswahlrecht eine andere Partei die Führung erlangt als im Verhältniswahlrecht. Bringen wir wiederum ein Beispiel.
Wir gehen wieder von 100 Wahlbezirken aus und unterstellen nun, dass gerade in den 80 Wahlbezirken, in denen die Partei C die Mehrheit von 70% erlangt nur 10 Wähler registriert sind, während die übrigen 20 Wahlkreise je 1000 Wähler umfassen und die Partei C nur 20% der Stimmen erlangen konnte. In diesem Falle würde unter den Bedingungen einer Mehrheitswahl Partei C 80 von 100 Parlamentssitzen und damit die Mehrheit erringen, obwohl sie nur (80 * 7 = 560) + (20 * 200 = 4000), also 4560 Stimmen erzielte. Da die Gesamtzahl der Wähler (80*10 = 800) + (20*1000 = 20000) also insgesamt 20800 beträgt, bedeutet dies, dass Partei C bei einem Verhältniswahlrecht nur auf aufgerundet 22% (4560/20800) der Sitze gekommen wäre und somit die Opposition bilden müsste.
Nun bestand diese Ungleichheit der Wahlbezirke in der Tat in Großbritannien, dem Musterland des Mehrheitswahlrechtes sehr lange. Es versteht sich aber von selbst, dass die Forderung nach gleichem Wahlrecht für alle Bürger auch voraussetzt, dass man sich darum bemüht, die Wahlkreise möglichst so zuzuschneiden, dass jeder Wahlbezirk in etwa die gleiche Anzahl von Wahlberechtigten umfasst.
Sind jedoch alle Wahlbezirke gleich groß, ist ein solches Umkippen der Mehrheitsverhältnisse äußerst unwahrscheinlich. Selbst in dem in Wirklichkeit nur sehr selten auftretenden Extremfall, dass eine Partei im Rahmen eines Mehrheitswahlrechtes die Mehrheit der Parlamentssitze erlangen würde, obwohl sie weniger als die Mehrheit der Wählerstimmen erlangen konnte, könnte die Verfassung durchaus vorsehen, dass in diesen wenigen Extremfällen das Verhältniswahlrecht zu gelten habe, dass also das Mehrheitswahlrecht nur dann zur Geltung komme, wenn die Partei, welche bei diesem Wahlrecht als Sieger hervorgeht, zusätzlich auch die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte.
Natürlich ist es in der Realität nicht möglich, für die einzelnen Wahlbezirken exakt die gleiche Stimmenzahl vorzusehen, dies würde die einzelnen Gemeinden auseinanderreißen, ein in Hamburg wohnender Bürger sollte nicht nur deshalb einem Hamburg benachbarten Wahlbezirk zugeschlagen werden, weil ein Wahlbezirk in Hamburg etwas mehr Stimmen aufweist, als ein benachbarter Wahlbezirk. Aber kleinere Abweichungen in der Anzahl der Wahlberechtigten in den einzelnen Wahlbezirken führen nicht automatisch dazu, dass die Wahlergebnisse in dem Sinne gefälscht werden, dass bei Mehrheitswahlrecht die Partei die Wahlen gewinnt, welche nicht auch die Mehrheit der gesamten Wählerstimmen im ganzen Land erzielt hat.
Unsere Überlegungen gingen noch von einer zweiten stillschweigenden Annahme aus. Wir haben stillschweigend unterstellt, dass – wie dies die durchgängige Praxis in fast allen repräsentativen Demokratien ist – die Wähler Parteien wählen und dass die gewählten Abgeordneten den Vorstellungen ihrer Parteiführung weitgehend folgen. Wir wollen einmal kurz von dieser Annahme absehen und unterstellen, dass überhaupt keine Parteien zur Wahl stünden und dass jeweils nur unabhängige Politiker kandidierten.
In diesem Falle müsste man davon ausgehen, dass jede Abstimmung sowohl über die Wahl der Regierung als auch über die anstehenden Sachprobleme vollkommen frei von Parteisatzungen erfolgte und dass der Ausgang der Entscheidung wesentlich von den zuvor stattgefundenen Beratungen abhängen würde. Unter diesen Bedingungen wäre es durchaus denkbar, ja sogar wahrscheinlich, dass die Zusammensetzung des Parlaments auch entscheidend Einfluss auf die Abstimmungsergebnisse nehmen würde und dass unter den oben gemachten Annahmen unter der Bedingung der Verhältniswahl tatsächlich andere Ergebnisse erzielt würden als unter den Bedingungen der Mehrheitswahl.
Es wäre jedoch falsch, wenn man hieraus bereits den Schluss ziehen würde, dass in diesen Fällen die Politik bei einem Verhältniswahlrecht mehr dem eigentlichen Volkswillen entspräche als bei einem Mehrheitswahlrecht. Da das Ergebnis jeder einzelnen Abstimmung offen wäre und von den Argumenten abhängen würde, die gerade im Plenum vorgetragen wurden und darüber hinaus auch davon abhängen würde, welche Abgeordneten gerade anwesend wären und wie einfallsreich sie wären, könnte man auch nicht eindeutig davon sprechen, dass gerade die Kompromisse gefunden würden, welche bei den jeweils anstehenden Fragen dem Willen der Mehrheit der Wähler entsprechen würden.
Entscheidend ist hierbei, dass im Rahmen eines Mehrheitswahlrechtes die Politiker gezwungen sind, möglichst alle Bevölkerungsgruppen vor der Wahl anzusprechen und dies gelingt nur dann, wenn die Politiker bereits vor der Wahl die notwendigen Kompromisse benennen müssen, sodass auch der Wähler darüber unterrichtet ist, welchem Kompromiss er mit der Wahl seines Abgeordneten zugestimmt hat.
Unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechtes ist dem Wähler noch vollkommen unbekannt, auf welchen Kompromiss sich das Parlament einigen wird, er kennt ja nur die Position des Abgeordneten, den er gerade wählt, es ist dem Wähler vollkommen unklar, inwieweit sich gerade sein Kandidat bei der Abstimmung durchsetzen wird.
Wenn schon diese Unklarheit unter dem heute gültigen Regime der Parteien besteht, so wächst diese Unklarheit um ein Vielfaches, wenn schließlich jeder einzelne Abgeordnete nur für sich allein wirbt und keine Partei, welche bestimmte Zielsetzungen in einem Parteiprogramm zusammenfasst, hinter den Vorstellungen des Abgeordneten steht. Es ist dann vollkommen offen, welches Ergebnis die Abstimmung im Parlament bringt und wieweit dann diese Ergebnisse mit dem Willen der Bevölkerung übereinstimmen.
Unabhängig davon, ob in einem Parlament, welches nur aus parteilosen Abgeordneten besteht, der Mehrheitswille der Bevölkerung zum Zuge kommt oder nicht, es gibt gute Gründe dafür, dass in der Realität bei den Wahlen zum Parlament stets Parteien agieren und dass es schließlich die Parteiprogramme sind, welche von den Wählern gewählt werden. Jedes Parteiprogramm muss selbst wiederum als ein Kompromiss verschiedener Zielsetzungen angesehen werden, die dann im Wahlprogramm der einzelnen Parteien dem Wähler kund getan werden. Dass auf diese Weise der Wähler davon erfährt, welche grundsätzlichen Kompromisse die von ihm gewählte Partei anstrebt, erleichtert sicherlich die Entscheidung der Wähler.
Vielleicht könnte man drittens zugeben, dass dann, wenn die oben erwähnten Extrembeispiele tatsächlich eintreten würden, auf lange Sicht der Wählerwille trotzdem nicht zum Zuge käme. Nehmen wir also noch einmal den in Wirklichkeit noch nie stattgefundenen Extremfall an, dass die größere Partei in allen oder in fast allen Wahlbezirken die Mehrheit erlangen konnte, sodass die geschlagene Partei bei einem Mehrheitswahlrecht überhaupt keine oder nur ganz wenige Abgeordnete ins Parlament entsenden konnte.
Kurzfristig gesehen dürfte sich — wie gezeigt — die Politik der Mehrheitsregierung kaum ändern, diese Regierung hat eine satte Mehrheit und wird sich deshalb von der Kritik seitens der Opposition kaum beeinflussen lassen und dies gilt unabhängig davon, wie stark die Opposition im Einzelnen ist.
Langfristig kommt jedoch ein anderer Aspekt ins Spiel. De facto haben wir nämlich schon lange nicht mehr die von Montesquieu und Locke propagierte Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative. Im Grunde genommen entsprach dieses Modell der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative der konstitutionellen Monarchie. Die Exekutive war unmittelbar vom König abhängig, während die Legislative aus freien Wahlen hervorging.
Die heute vorliegenden repräsentativen Demokratien hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass die aus den Wahlen als Sieger hervorgehende Partei einerseits die Regierung und damit die Exekutive bildet, andererseits im Parlament die Mehrheit stellt. Oftmals kommt diese Verbindung zwischen Legislative und Exekutive darin zum Ausdruck, dass der Parteivorsitzende der Mehrheitspartei sowohl der Regierung vorsteht als auch die Mehrheitspartei im Parlament anführt. Die Gesetzesvorlagen, welche im Parlament von der Mehrheitspartei beschlossen werden, sind in aller Regel gleichzeitig die von der Regierung vorgelegten Gesetzestexte.
Trotzdem kommt der Opposition in den Parlamenten einer repräsentativen Demokratie langfristig eine entscheidende Rolle zu. Das Spiel von Regierung und Opposition ersetzt sozusagen die Forderung nach Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative. Die von der Opposition vorgetragenen Gegenentwürfe zu den Gesetzesvorlagen der Mehrheitspartei dienen nämlich dazu, dass der Wähler bei der nächsten Wahl in die Lage gesetzt wird, zwischen den Argumenten der einzelnen Parteien eine sachgerechte Entscheidung zu treffen. Die Argumente der Opposition zeigen dem Wähler, ob die Handlungen und Versprechungen der Regierungsparteien wirklich überzeugend sind und den eigenen Zielvorstellungen besser entsprechen als die der Oppositionsparteien. Die Existenz einer Opposition lässt somit die Zuverlässigkeit einer Partei erkennen.
Gäbe es keine Opposition oder wäre diese extrem gering, würden die Wähler auch nicht in gleichem Maße von den Schwächen der Regierungsparteien erfahren und gerade deshalb wäre auch ihre Wahlentscheidung unvollkommen. Damit die Oppositionsparteien diese Funktionen erfüllen können, ist es zwar keinesfalls notwendig, dass der prozentuale Anteil der Parlamentssitze der Opposition dem Anteil ihrer Anhänger in der Wählerschaft entspricht, es ist aber notwendig, dass ein Mindestausmaß an Abgeordneten der Opposition im Parlament vertreten ist, um diese Gegenargumente in angemessener Form überhaupt vortragen zu können.
9. Der Vorwurf von Hayek‘s
Friedrich von Hayek hat der parlamentarischen Demokratie vorgeworfen, dass sich die politischen Ergebnisse im Kreise drehen, die eine Regierung verabschiede Gesetze, aufgrund derer die Bevölkerungsgruppen, welche sie gewählt haben, begünstigt und andere Gruppen hinwiederum benachteiligt werden. In der nächsten Legislaturperiode setze sich eine andere Partei durch, welche dann diese Maßnahmen wiederum aufhebe und andere Gruppen begünstige. Langfristig führe dies nur dazu, dass an der Verteilung der Ressourcen nichts wesentlich verändert werde, dass nur durch dieses Hin und Her viele Ressourcen vergeudet würden und damit die Wohlfahrt der gesamten Bevölkerung verringert werde.
Dennis Mueller hat in einem etwas anderen Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass die Verteilung der Ressourcen sehr viel effizienter in Regeln zur Verfassung festgelegt wird. Wenn ein einzelner Bürger überschauen kann, inwieweit er selbst von einer geplanten Maßnahme der Politiker positiv oder negativ betroffen wird, dann ist damit zu rechnen, dass er über Interessengruppen dahinwirkt, dass solche Maßnahmen, die ihn begünstigen, forciert und jene Maßnahmen, die ihn belasten, verhindert werden.
Wenn jedoch in der Verfassung langfristig gültige Regeln festgeschrieben werden, ist es für den Einzelnen nicht mehr möglich, eindeutig festzustellen, ob diese Regeln ihm und seinen Kindern und Kindeskindern Vor- oder Nachteile bringen. Geht er rational vor, so muss er von der Annahme ausgehen, dass Vor- und Nachteile gleich wahrscheinlich sind. In diesem Falle aber wird er sich notgedrungen zugunsten der Argumente entscheiden, welche eine Steigerung der gesamten Wohlfahrt versprechen. Er verhält sich dann quasialtruistisch, da er nicht einschätzen kann, ob er von dieser Regel in Zukunft profitiert oder benachteiligt wird.
Wenn schon das Ablösen der Regierungen als wohlfahrtsmindernd eingestuft wird, gilt dies um so mehr für ein Verfahren, bei dem parteilose Abgeordnete ins Parlament gewählt werden und es vollkommen dem Zufall anheimgestellt ist, welches Ergebnis die einzelnen Abstimmungen erreichen werden. Es besteht hier die Gefahr, dass sich viele Maßnahmen widersprechen und sich gegenseitig aufheben mit dem Endergebnis, dass die Wohlfahrt der Bevölkerung vernachlässigt wird.
Bei der Forderung, das Parlament genauso zusammenzusetzen wie die Bevölkerung die Parteien gewählt hat, wird vermutlich von einer vielleicht romantischen, aber nicht realistischen Vorstellung über die Funktion des Parlamentes ausgegangen. Wenn in der abschließenden Lesung über ein Gesetz abgestimmt wird, sind schon lange die Würfel gefallen, es steht fest, welchen Weg man mit diesem Gesetz beschreiten will. Es sind die Unterausschüsse der Fraktionen und auch des Parlamentes, in denen die möglichen Alternativen diskutiert werden und nach den möglichen Wirkungen der einzelnen Maßnahmen gefragt wird.
Die Aufgabe des Plenums in der abschließenden Sitzung eines Gesetzes hat nicht den Sinn, diese Gesetzesvorlage noch gravierend zu verändern, diese Entscheidungen sind sehr viel früher gefallen. Es geht hier – um es nochmals zu betonen – vielmehr darum, dass die Öffentlichkeit überprüfen kann, ob die Regierungsparteien auch ihre Wahlversprechungen einhalten, weiterhin ob die Regierungsparteien überzeugend die Kritik der Opposition widerlegen können und welche alternativen Rezepte die heutige Opposition anbietet. Dieses Schauspiel der abschließenden Lesung ist also Voraussetzung dafür, dass der Wähler bei der nächsten Wahl darüber informiert ist, bei welchen Parteien sie die Durchsetzung ihrer Ziele und Wünsche am ehesten erwarten können.
Zwar verfolgt der wohl größte Teil der Wähler nicht jede Plenarsitzung des Parlamentes. Dies ist aber auch nicht notwendig, damit die Wähler die Argumente von Regierung und Opposition zur Kenntnis nehmen, es ist vielmehr in erster Linie Aufgabe der öffentlichen Medien, dem Wähler diese Kenntnisse zu vermitteln.
Nur dann, wenn ausnahmsweise eine Änderung der Verfassung beschlossen werden soll und damit eine qualifizierte Mehrheit zur Verabschiedung benötigt wird, bedarf die Regierung der Mitwirkung der Opposition und ist gezwungen mit der Opposition Kompromisse einzugehen. Nur in diesem Falle wird der Übergang zum Verhältniswahlrecht und zu einer anderen Zusammensetzung des Parlaments auch die Entscheidungen der Regierungen wesentlich beeinflussen. Bei der normalen Gesetzgebungsarbeit hingegen würde es gerade dem Willen der Bevölkerung widersprechen, wenn die Regierung – beeindruckt von den Argumenten der Opposition – von den Positionen abrücken würde, um derentwillen sie gewählt wurde.